Hamburg. Im Rathaus ehrten Tschentscher und Gauck die Bürgervereine. Neben Lob und Geschichte ließ die Feier Raum für gute Stimmung und Seitenhiebe.
„Die Freiheit der Erwachsenen heißt Verantwortung“, gibt der ehemalige Bundespräsident Joachim Gauck den Gästen im prunkvollen Großen Festsaal des Hamburger Rathauses mit auf den Weg. Seit nunmehr 100 Jahren engagieren sich die Hamburger Bürgervereine für das Gemeinwohl, für die Interessen der Hamburgerinnen und Hamburger.
In solch langer Zeit kommen viele Gründe zum Feiern zusammen, sodass der Erste Bürgermeister der Stadt, Peter Tschentscher, zum Jubiläum des Bürgertages 350 Ehrenamtliche eingeladen hatte. Musikalisch untermalt von drei Hamburger Chören, gipfelte die außerordentliche Würdigung in der Rede des ehemaligen Bundespräsidenten Gauck, die ebenso gut als politisches Kabarett funktioniert hätte und die Gäste unterhielt – ohne die ernsten Themen aus dem Blick zu verlieren.
Bürgermeister Tschentscher lobt Hamburger als „Stadtteil-Patrioten“
Peter Tschentscher erinnert die zahlreichen Gäste im Rathaus zunächst an die Geschichte der Bürgervereine: So reiche die Historie zurück bis in die Zeiten des Um- und Aufbruchs, in denen Bevölkerung und Stadt wuchsen und sich zugleich die sozialen Probleme verschärften. „Für die breite Mehrheit war es schwer, für ihre Bedürfnisse Gehör zu bekommen“, sagt Tschentscher. Folglich hätten sich die Vereine 1924 zusammengeschlossen, um ihre Interessen gegenüber dem Senat zu vertreten.
Zum ersten Bürgertag am 31. März 1977 seien schließlich 800 Gäste erschienen. Der Beginn einer Tradition. „Jeder dritte Hamburger engagiert sich ehrenamtlich“, hebt der Bürgermeister hervor, das stärke den Zusammenhalt der Hamburger, die er im Weiteren als „Stadtteil-Patrioten“ lobt – trotz derzeitiger Krisen und geopolitischen Spaltungen.
Präsidentin der Bürgervereine: „Der Staat sind wir“
Herlind Gundelach vertritt als Vorsitzende des Zentralausschusses Hamburgischer Bürgervereine rund 30 Gruppen. Sie macht an diesem Abend auf eine Reihe gesellschaftlicher Probleme aufmerksam: Politik sei stark auf Personen und Ämter fixiert, Extremisten beider Ränder bedrohen die Gesellschaft, Fake News schüren Zweifel. „Die Friedensdividende ist aufgebraucht, wir sind nicht verteidigungsfähig“, hallt es über die Lautsprecher durch das Rathaus. Harte Themen.
Worauf Gundelach hinausmöchte, wird einige Minuten später deutlich: „Der Staat ist keine anonyme Masse, der Staat sind wir. Folglich sind auch wir es, die die Verantwortung tragen.“ Aufgabe der Gesellschaft sei es, Spaltungen zu überwinden. Mit Verweis auf die Bürgervereine hebt sie hervor: „Das haben wir in den letzten beiden Jahrhunderten zahlreich unter Beweis gestellt.“
Joachim Gauck verzichtet beim 100. Geburtstag des Bürgertages auf seine vorgeschriebene Rede
„Ich fühle mich zu Hause, wenn ich in Ihre Gesichter schaue. Es ist schön, Sie zu sehen, schauen Sie sich an: Sie sind schön!“ Joachim Gauck, ehemals Bundespräsident, beginnt seine Rede damit, diese erst mal zur Seite zu legen. Seinen Vorrednern sei nichts Geschichtliches hinzuzufügen. Die Folge: Der 84-Jährige kommt ins Erzählen. Er spricht von Medien, die seine Wahrnehmung der Welt verzerren, die Positives nur am Rande beleuchtet hätten.
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„Das Leben ist durchzogen von einem Netzwerk der Guten und des Guten“, habe er erkannt. Gauck erzählt von seiner prägenden Jugend, von Unfreiheit und davon, dass er mit 50 Jahren erstmals in den Genuss freier Wahlen gekommen sei – und eine Träne der Freude verdrückt habe. Und er teilt aus, vor allem gegen die Politik.
Joachim Gauck: „Die sind minderbegabt bis hochbegabt, so wie wir auch“
Für die Bürger sei Politik heute unübersichtlich, gar frostig geworden. „Dabei vergessen sie, dass unsere Politiker aus unserer Mitte kommen“, fängt Gauck an. Und weiter: „Die sind von minderbegabt bis hochbegabt, so wie wir auch“, womit der Raum in Gelächter ausbricht. Zudem wäre die politische Parteienlandschaft für ihn viel schöner ohne zwei Parteien, „von denen die eine mit A und die andere mit B anfängt“.
Und auf die Frage danach, was für ihn liberale Demokratie bedeute, beschwichtigt er: „Damit meine ich nicht die liberale FDP, keine Panik. Damit meine ich eine offene, vielfältige Gesellschaft, die Minderheitsrechte achtet und schützt.“ Dabei kommt Gauck immer wieder auf den Kern der Veranstaltung zurück: Bürgervereine und zwischenmenschliches Engagement sieht er als Garantie dafür, dass das Erstarken extremistischer Kräfte nicht eintrete, dass die Demokratie in Deutschland wehrhaft bleibe. Solange der Zusammenhalt vor der eigenen Haustür besteht, wie es die Bürgervereine in Hamburg seit langer Zeit tun.