Hamburg. Weniger Asylsuchende, doch SPD-Senatoren sagen: „Die Zahlen müssen noch weiter runter.“ Stadt braucht 3000 weitere Plätze. Reicht das?
Vor einem Jahr hatten drei Hamburger Senatoren der SPD angesichts immer stärker steigender Flüchtlingszahlen im Abendblatt erstmals einen Hilferuf gesendet und erklärt: „Lange hält die Stadt dieses nicht mehr durch.“ Wie ist die Lage heute? Im Interview erklären Sozialsenatorin Melanie Schlotzhauer und Andy Grote (SPD) jetzt, dass die Zahl der Asyl- und Schutzsuchenden zwar spürbar zurückgegangen sei, die Stadt aber dennoch händeringend weitere Unterkünfte suche.
„Wir finden immer schwerer neue Flächen für Unterkünfte“, so Schlotzhauer. Aktuell gebe es 233 Standorte, um jeden neuen müsse sehr intensiv geworben werden. Grote nennt bisherige Maßnahmen erfolgreich, sagt aber auch: „Die Zahlen müssen noch stärker sinken.“
Frau Schlotzhauer, Herr Grote, vor einem Jahr haben Sie in einem großen Abendblatt-Interview nachdrücklich vor ungebremster Einreise, illegaler Migration und ausbleibender Integration gewarnt. Wie wirken sich erst die temporären und jetzt dauerhaften Grenzkontrollen in Hamburg aus?
Andy Grote: Vor einem Jahr hatten wir sehr deutliche Überforderungsanzeichen und zu hohe Zahlen. Deshalb haben wir ein Umsteuern eingefordert. Seitdem ist einiges passiert, die ergriffenen Maßnahmen von Bund und Ländern wirken, die Zugangszahlen sind spürbar gesunken. Wir liegen in Hamburg in den ersten drei Quartalen rund 28 Prozent unter den Vorjahreszahlen.
Bitte konkret: Wie genau haben sich diese Zahlen verändert?
Melanie Schlotzhauer: Von Januar bis September 2023 wurden rund 17.000 Menschen im Hamburger Ankunftszentrum registriert, demgegenüber waren es im selben Zeitraum in diesem Jahr knapp 12.400. Die Zahl der Asyl- und Schutzsuchenden ist also spürbar zurückgegangen. Gleichzeitig beobachten wir seit den Sommermonaten, dass wieder mehr Schutzsuchende aus der Ukraine nach Hamburg kommen.
Grote: Die Verteilung der Asylsuchenden auf die Herkunftsstaaten hat sich dabei nicht wesentlich geändert. Aus Afghanistan, Syrien, der Türkei und dem Irak kommen noch immer die meisten Asylsuchenden.
Flüchtlinge in Hamburg: Derzeit 47.000 in öffentlicher Unterbringung
Wie viele Flüchtlinge leben aktuell in städtischen Unterkünften in Hamburg, weil sie keine eigene Wohnung finden?
Schlotzhauer: Aktuell befinden sich rund 47.000 Menschen in öffentlich-rechtlicher Unterbringung. Zum Vergleich: Vor Beginn des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine im Februar 2022 waren es noch rund 29.000. Der Unterbringungsbedarf ist also seitdem um mehr als 60 Prozent gestiegen.
Grote: Positiv ist aber, dass die Zahl im Lauf dieses Jahres von 48.300 im Februar um 1300 auf 47.000 gesunken ist. Die Situation im Herbst vor einem Jahr war sehr viel kritischer, deshalb hatten wir auch so eindrücklich gewarnt. Die Belegung der städtischen Unterkünfte hat sich danach nochmals gesteigert – bis zum Höchststand im Februar dieses Jahres. Aber seither registrieren wir einen spürbaren Rückgang.
Die Zahlen können im Herbst und Winter wie in den vergangenen Jahren wieder steigen.
Grote: 2023 war dramatisch, da wussten wir nicht, wie wir über den Herbst und über den Winter kommen sollen. Diese Situation haben wir jetzt nicht. Uns macht Hoffnung, dass der Anstieg, den man sonst im August/September sieht, dieses Jahr ausgeblieben ist. Das große Risiko ist die Situation in der Ukraine. Russland zerstört systematisch die Energieinfrastruktur des Nachbarlandes. Es kann sein, dass sich im Herbst und Winter die Lebensbedingungen für viele Menschen nochmals verschlechtern, sodass sie sich auf den Weg machen.
Machen Sie für den Rückgang in den ersten neun Monaten vor allem die Grenzkontrollen verantwortlich?
Grote: Die Maßnahmen an den Grenzen Deutschlands wirken sich genauso aus, wie die an den anderen europäischen Binnengrenzen und an den Außengrenzen der EU. So ist die Zuwanderung über die Balkanroute deutlich zurückgegangen. Aber auch die Abkommen mit unterschiedlichen Transitländern helfen. Über die zentrale Mittelmeerroute und die nordafrikanischen Küstenländer kommen nicht mehr so viel Flüchtlinge in Europa an.
So stehen die SPD-Senatoren zu Leistungseinschränkungen bei Dublin-Fällen
Am hart errungenen EU-Asyl-Kompromiss kann der Rückgang aber kaum liegen, dessen Umsetzung soll sich noch zwei Jahre hinziehen. Vor Mitte 2026 greifen die Maßnahmen nicht.
Grote: Erste einzelne Maßnahmen des neuen GEAS-Systems werden aktuell bereits vorgezogen. Gleichzeitig wird schon demnächst mit dem EES-System die einheitliche digitale Erfassung aller Ein- und Ausreisen in der EU umgesetzt. Dann werden alle Menschen sehr viel gründlicher erfasst, die in die EU einreisen wollen. Diese Daten werden für die Mitgliedstaaten in einem gemeinsamen System hinterlegt. Stück für Stück werden weitere Elemente des Asyl-Kompromisses umgesetzt. Parallel wird der Schutz der deutschen Grenzen aktuell ja weiter ausgebaut. Fast alle Mitgliedstaaten mit EU-Außengrenzen sind zudem sehr aktiv dabei, diese besser zu schützen. Auch versucht die Bundesinnenministerin gemeinsam mit anderen Mitgliedstaaten auf europäischer Ebene, das Inkrafttreten der neuen Verordnungen nach vorne zu ziehen. Die zukünftige Regelung, nach der Geflüchtete, für die nach europäischem Recht ein anderer EU-Mitgliedstaat zuständig ist, keine Leistungen mehr erhalten, soll jetzt mit dem Sicherheitspaket der Bundesregierung bereits vorher umgesetzt werden.
Keine Leistungen hier: Es gibt nur noch Bett und Seife statt Bargeld für Flüchtlinge, die aus anderen EU-Ländern kommend in Deutschland einreisen. Sind Sie beide für dieses Bundesgesetz und damit dafür, Asylsuchenden, die sich zu Unrecht bei uns aufhalten, alle Leistungen zu streichen?
Schlotzhauer: Hilfebedarf und Hilfeberechtigung passen in diesen Fällen nicht zusammen. Der Leistungsanspruch besteht dann in einem anderen EU-Land. Die konkrete Ausgestaltung wird durch ein Bundesgesetz erfolgen, dessen Ausgestaltung wir noch nicht kennen.
Grote: Der Leistungsanspruch ist an die örtliche Zuständigkeit gekoppelt. Dieser Grundsatz, der auch innerhalb Deutschlands gilt, ist richtig und er muss auch in der EU insgesamt gelten.
Wie groß ist die Gruppe der Asylsuchenden in Hamburg, die eigentlich in einem anderen EU-Staat Schutz suchen müssten, weil sie zunächst dort eingereist waren?
Grote: Das waren zuletzt rund 800 Fälle. Im vergangenen Jahr haben wir bundesweit nur 5000 Rücküberstellungen organisiert – bei 70.000 sogenannten Dublin-Fällen. Bundesweit gelingt die Überstellung nur in 14 Prozent der Fälle, in Hamburg zumindest in 30 Prozent. Oft scheitert die Rücküberstellung, weil wir nicht nachweisen können, aus welchem EU-Mitgliedstaat der Mensch eingereist ist. Das wird sich mit der systematischen Erfassung der Personendaten an den Außengrenzen verbessern. Eine EU-Außengrenze ist übrigens auch der Hamburger Flughafen. Es wird also auch am Helmut-Schmidt-Airport in Zukunft ein beschleunigtes Grenzverfahren durchgeführt, das heißt, diejenigen, die hier einreisen und eine Wahrscheinlichkeit von weniger als 20 Prozent haben, dass der Asylantrag erfolgreich ist, sollen von hier aus direkt in ihr Herkunftsland zurückreisen.
Asylsuchende ohne Bleibeperspektive sollen Flughafen gar nicht verlassen
Werden die hier einfliegenden Asylsuchenden ohne Bleibeperspektive den Flughafen überhaupt verlassen können?
Grote: Ähnlich wie beim Flughafen-Asyl jetzt schon zum Beispiel in Frankfurt, voraussichtlich nicht. Das könnte zum Beispiel die nicht kleine Gruppe der Asylsuchenden aus der Türkei betreffen.
Das Sicherheitspaket der Bundesregierung sieht auch vor Messerverbote, die leichtere Ausweisung ausländischer Straftäter, verdachtsunabhängige Kontrollen – warum hat es erst der drei Toten von Solingen für diese Maßnahmen gebraucht?
Grote: Das muss man die FDP fragen. Seit zwei Jahren liegt ein Gesetzentwurf zur Verschärfung des Waffenrechts auf dem Tisch, den die FDP innerhalb der Bundesregierung blockiert hat. Erst jetzt ist es gelungen, den Widerstand dort jedenfalls für das Thema Waffenverbote im öffentlichen Raum zu überwinden. Es gibt nach wie vor noch viele weitere Elemente der Reform, die auch für Hamburg sehr relevant sind. Dazu zählt, dass jemand bei erster Erteilung einer Waffenerlaubnis die persönliche Eignung durch ein psychiatrisches Gutachten nachweisen muss. Das ist bisher nur für unter 25-Jährige erforderlich.
Was bringen die Maßnahmen, die jetzt beschlossen wurden?
Grote: Wir geben uns die Möglichkeit, den Kontrolldruck und das Entdeckungsrisiko für diejenigen, die Messer bei sich tragen, deutlich zu erhöhen und damit auch die Sicherheit im öffentlichen Raum weiter zu stärken.
Wie wirken sich Zuwanderung und illegale Migration auf die Kriminalitätsentwicklung in Hamburg aus?
Grote: Wir haben ein Thema mit der Kriminalität durch Menschen mit anderer Staatsangehörigkeit. Die Zahl der nicht deutschen Tatverdächtigen steigt. Das sind in allergrößten Teilen aber keine Geflüchteten, sondern häufig auch aus dem Ausland eingereiste mobile Täter. Der Anteil der Geflüchteten an den Tatverdächtigen ist weitgehend stabil und liegt nach wie vor bei circa acht Prozent.
Sozialsenatorin in Sorge: 3000 Unterbringungsplätze werden gesucht
Kommen wir zurück auf die Unterbringung der Flüchtlinge. Es ziehen mit 12.366 in den ersten neun Monaten 2024 zwar weniger Menschen nach Hamburg, aber es sind immer noch etliche Tausend neu unterzubringende Menschen. Gleichzeitig sinkt die Zahl der Menschen in öffentlichen Unterkünften auf 47.000. Heißt das, dass Tausende Migranten weggezogen sind oder eigene Wohnungen trotz Wohnungsmangels gefunden haben?
Schlotzhauer: Die Menschen finden Arbeit, finden Partner und finden Wohnraum. Das ist das normale Leben. Im Unterbringungssystem ist Bewegung. Nur ist die Bewegung aus dem System heraus nicht groß genug. Mit Blick auf die Gesamtauslastung unserer Unterkünfte mit 97 Prozent bin ich immer noch besorgt, aber die Situation ist etwas leichter als im vergangenen Jahr.
Was genau sorgt Sie?
Schlotzhauer: Die große Herausforderung ist, dass wir nicht reinen Platzaufbau betreiben, sondern auch immer wieder wegfallende Plätze kompensieren müssen. In den kommenden Monaten müssen wir 1300 Plätze abbauen, unter anderem wegen auslaufender Mietverträge. Darüber hinaus kalkulieren wir mit einem zusätzlichen Bedarf von 1700 weiteren Plätzen. Ob diese insgesamt 3000 Plätze reichen werden, kann ich, insbesondere mit Blick auf die Lage in der Ukraine, nicht sagen. Wir finden immer schwerer neue Flächen für Unterkünfte. Aktuell nutzen wir 233 Standorte. Um jeden neuen müssen wir sehr intensiv werben. Ich bin froh, dass wir an den neuen Standorten noch so viele ehrenamtliche Helfer finden. Wir brauchen Menschen, die sich kümmern.
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Von einer Welle der Hilfsbereitschaft wie 2015 oder unmittelbar nach Beginn von Putins Krieg kann nicht mehr die Rede sein. Haben Deutschland und Hamburg die Akzeptanz für Flüchtlinge und deren Integration überreizt?
Schlotzhauer: Ich erlebe in unserer Stadt etwas ganz anderes – nämlich Menschen, die sich mit Herzblut und Freude engagieren. Was passiert, ist normal in ehrenamtlichen Strukturen: Die Engagierten starten sehr idealistisch und sind dabei auch laut. Nach einer Weile bleiben dann noch die Menschen mit langem Atem dabei. Wir haben immer noch viele Ehrenamtliche, die sich engagieren. Dafür bin ich sehr dankbar. Die Zahl der Helferinnen und Helfer ist keine feste Größe und wir stellen fest, dass diese schwankt.
Flüchtlinge in Hamburg: „Die Zahlen müssen noch stärker sinken.“
Wie viele Flüchtlinge verkraftet Hamburg noch? Vor einem Jahr haben Sie im Abendblatt vor einer Überforderung der Stadt bei der Unterbringung, Integration und schulischen Bildung gewarnt.
Grote: Man kann keine absolute Zahl nennen. Ein Fortschreiten der Entwicklung des vergangenen Jahres wäre jedenfalls nicht machbar gewesen. Jetzt geht die Bewegung in die andere Richtung. Das ist gut so. Aber die Zahlen müssen noch stärker sinken.
Noch leben Geflüchtete in Hamburg mangels Alternative in Zelten oder alten Hallen. Wie viele sind es?
Schlotzhauer: Es gibt bereits seit geraumer Zeit zwei Zeltstandorte. Den Standort Schnackenburgallee nutzen wir aktuell nicht. In den Zelten an der Fegrohalle in Hamburg Neuland bringen wir aktuell rund 160 Menschen unter. In der Fegrohalle selbst übernachten um die 900 Menschen. Und in der Pack-Halle in der Harburger Poststraße nutzen wir 90 bis 100 Plätze. Auch an diesen Notstandorten müssen die Menschen wegen der hohen Auslastung im Gesamtsystem zum Teil länger verbleiben, als wünschenswert wäre.