Hamburg. Bis in die 1980er verschickte man Hamburger Kinder auf mehrwöchige Kuren. Was sie dort erlebten, war traumatisch, wie eine Studie offenbart.
Für Aufarbeitung ist es nie zu spät: Eine Studie der Evangelischen Hochschule Hamburg des Rauhen Hauses beschäftigt sich mit der Praxis von Verschickungskuren, von denen zwischen 1945 und 1980 Hamburger Kinder betroffen waren. Sozialsenatorin Melanie Schlotzhauer und der Pädagogische Vorstand der Ballin Stiftung, Jens Petri, übergaben heute den Abschlussbericht der Studie „Hamburger Kinderverschickungen 1945–1980. Erfahrungen und Hintergründe“ an Betroffene.
Im Publikum: Betroffene, sogenannte Verschickungskinder. Taschentücher trockneten immer wieder Tränen der zum Teil älteren Männer und Frauen, Hände wurden anteilnehmend gedrückt. Die Stimmung war ernst, denn das beschriebene Unheil und das fundiert aufgearbeitete Wissen um die „massiven, systematischen Grenzüberschreitungen an Kindern“, wie Jens Petri, Pädagogischer Vorstand der Ballin Stiftung es erklärte, waren und sind erschütternd.
Auch die Rudolf-Ballin-Stiftung e.V., die 1987 mit dem Verein für Kinder- und Jugendgenesung zusammengeführt wurde, bot über Jahrzehnte hinweg mehrwöchige Kuren zur allgemeinen Erholung von Kindern an. Zur körperlichen ‚Ertüchtigung‘, Auskurieren von Atemwegsinfektionen, Gewichtszunahme sowie zur allgemeinen Erholung wurden bis in die 80er-Jahre geschätzte acht bis zwölf Millionen Kinder in ganz Deutschland „verschickt“.
Mehr als zwanzig Erfahrungsberichte zeigen durchweg Erniedrigung und Gewalt
Aus Hamburg machten etwa 120.000 Kinder und Jugendliche auf ärztlichen Rat der Hamburger Sozialbehörde die Erfahrungen der Verschickungskuren. Zum Teil schickte man die betroffenen Kinder ab den 40er-Jahren für mehrere Wochen auch auf norddeutsche Inseln wie Föhr.
Durch mediale Berichterstattungen seit 2019 zeigte sich nun immer mehr: Die Erfahrungen der Kinder und Jugendlichen sind teilweise noch bis heute schmerzlich und traumatisch. Die Erfahrungsberichte weisen auf regelmäßig stattfindende Erniedrigungen, willkürliche Strafen sowie psychische und körperliche Gewalt durch die Betreuenden hin.
Verschickungskinder aus Hamburg: Bestrafung statt positiver Bestärkung
„In vielfacher Hinsicht lesen sich diese Praktiken wie das genaue Gegenteil von dem, was die heutige Pädagogik empfiehlt: Bestrafung statt positiver Bestärkung, Beschämung statt Förderung des Selbstbewusstseins, Bloßstellung vor der Gruppe statt Förderung eines stärkenden Miteinanders, Zwang zur Unterordnung statt Einladung zur Partizipation. Diese Liste ließe sich fortsetzen“, so Petri in seiner Rede.
Das umfangreiche Forschungsprojekt verleiht Betroffenen eine Stimme und hinterfragt die Rolle der damaligen Sozialbehörde und ihrer Aufsichtsfunktion kritisch. Forschungsmethodisch gesicherte Erkenntnisse zu den Erfahrungen und Zeiträumen der Kinderkureinrichtungen lagen bisher nicht vor.
Entschuldigung von Senatorin: „Schutz von Kindern ist fundamentale Verpflichtung“
Durch das in Teilen aus Eigenmitteln finanzierte Lehrforschungsprojekt soll das Schicksal der Verschickungskinder in Einrichtungen der Ballin Stiftung sowie die Rolle der Hansestadt aufgearbeitet werden. Die Sozialbehörde gab Ende 2020 gemeinsam mit der Ballin Stiftung das Projekt bei der Evangelischen Hochschule in Auftrag.
Sozialsenatorin Melanie Schlotzhauer (SPD) sprach länger über die langjährigen Auswirkungen der Traumata der Verschickungskinder, „die Kinder waren der Gewalt und den Demütigungen hilflos ausgesetzt“. In den meisten Fällen hätten die Kinder auch bei ihrer Rückkehr in den Familien nicht die Möglichkeit gehabt, über die Erfahrungen zu berichten. „Viele Jahrzehnte ist dieses Leid nicht zur Sprache gekommen“, so die Senatorin.
Dann entschuldigte sie sich bei den Betroffenen: „Die Auswirkungen dieser traumatischen Erlebnisse haben sich häufig über viele Jahre festgesetzt und Ihren weiteren Lebensweg negativ beeinflusst. Dafür, dass die Sozialbehörde die Beschwerden von Eltern vernachlässigte und sich mit ihrer Aufsichtsfunktion nicht schützend vor die Kinder stellte, bitte ich im Namen des Hamburger Senats um Entschuldigung.“
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Der vorliegende Abschlussbericht der Studie solle nun als Ansporn und Appell gelten, den Diskurs über Kinderrechte und deren Umsetzung weiter voranzubringen, so die Senatorin.
Besonderheit: Betroffene aus Hamburg wirkten stark an der Studie mit
Auch Petri äußerte sich im Namen der Ballin Stiftung ergriffen: „Wir können das leider nicht ungeschehen machen. Aber wir können und wollen uns unserer Vergangenheit stellen, öffentlich machen, was passiert ist, das Leid der Betroffenen anerkennen und uns bei ihnen entschuldigen. Wir hoffen, dass diese Transparenz und die weitere Beschäftigung mit dem Thema für die Betroffenen einen Beitrag zur Bewältigung leisten kann.“
Bei der Verlagsgruppe Beltz kann die Studie als PDF-Version kostenlos bezogen werden.