Hamburg. Bis in die 80er-Jahre gingen Kinder aus Hamburg allein auf Kur. Teile von Peter Krausses Erinnerungen gleichen einer Tortur, wie er sagt.

  • Kinder aus Hamburg, die „Spiddel“ waren, wurden von Sozialbehörde oder Ärzten auf Kur verschickt
  • Sechs Wochen ohne Kontakt zu ihren Familien mit Demütigungen traumatisierten Zehntausende
  • Ein Hamburger schildert offen seine Erfahrungen und setzt sich für Anerkennung ein

Erbrochenes wieder aufessen, zensierte Postkarten nach Hause, Toilettengang und Schlaf auf Ansage: Als kleiner Junge aus Hamburg war er aufgeschlossen und willensstark, ließ sich so schnell nicht unterkriegen. So beschreibt sich Peter Krausse in der Rückschau selbst. „Resilient“ würde man es heute nennen, er bezeichnet es als „großes Glück“.

Und dennoch, alles, was er als sogenanntes Verschickungskind erleben musste, ist bis heute präsent: Krausse erinnert sich an jede Demütigung, das Schreien, die Grenzüberschreitungen. Er war einer von 120.000 Kindern und Jugendlichen im Alter von 4 bis 15 Jahren aus der Stadt, die auf Anraten der Hamburger Sozialbehörde, von Versicherungen oder niedergelassenen Ärzten in ein Kinderheim auf Kur zur Genesung für sechs Wochen geschickt wurde.

Hamburger Verschickungskind erzählt von Demütigungen: „Es war eine Tortur!“

Krausse, aufgewachsen in Hamburg-Hamm, beschäftigte sich – nachdem ihn ein Fernsehbeitrag im Jahr 2019 auf das Thema aufmerksam gemacht hatte – intensiver mit seinen eigenen Erfahrungen, und als Landeskoordinator der Hamburger Verschickungskinderinitiative hat er Kontakt mit vielen anderen Betroffenen bekommen.

Die Berichte der ehemaligen Verschickungskinder sind ein Teil des Ergebnisses der jüngst präsentierten Studie der Evangelischen Hochschule Hamburg des Rauhen Hauses in Kooperation mit der Rudolf-Ballin-Stiftung, die 1987 mit dem Verein für Kinder- und Jugendgenesung zusammengeführt wurde und selbst über Jahrzehnte hinweg mehrwöchige Kuren zur allgemeinen Erholung von Kindern anbot.

Verschickungskind: „Dann holte der Nikolaus sein kleines schwarzes Buch hervor …“

Der zehnjährige Krausse erlebte all das, was viele der – inzwischen wird die Zahl der Betroffenen auf zehn bis zwölf Millionen Kinder, die in tausend Heimen in ganz Deutschland unterkamen, geschätzt – heute Erwachsenen in den der Studie zugrunde liegenden Interviews schildern: Es herrschte ein Klima der Angst und Kälte, niemand fühlte sich wohl.

„Ich war in einem Heim in Wyk auf Föhr, da herrschte sicher keine liebevolle Atmosphäre“, so Krausse. „Für mich war es ganz beklemmend, dass ich, wie alle anderen Kinder auch, die Erzieherinnen ‚Tanten‘ nennen musste, und das stand für mich im krassen Gegensatz zu meiner leiblichen Tante, der ich sehr nahestand.“

Verschickungskinder
Der verschickte Junge aus Hamburg, Peter Krausse (r.), kann heute frei über seine Erfahrungen sprechen. Hier bedanken Sozialsenatorin Melanie Schlotzhauer und Jens Petri, Pädagogischer Vorstand der Ballin Stiftung,sich bei ihm bei der Übergabe der zugehörigen Studie. © privat | Privat

Unvergessen für ihn auch der Nikolaustag: „Da kam dann der verkleidete Nikolaus mit Sack und Rute und einem großen goldenen Buch. Darin standen die Namen von den Kindern, die brav gewesen waren, diese wurden aufgerufen und bekamen dann ein kleines Geschenk.“ Krausses Vorname fiel nicht.

«Verschickungskinder» fordern Anerkennung
Hier zeigt ein Privatfoto aus dem Jahr 1954 den achtjährigen Christoph Sandig aus Leipzig in einer Kinderheilstätte in Westdeutschland. Dorthin war er wegen mehrerer Lungenentzündungen geschickt worden. Das Essen zu festen Zeiten in riesigen Speisesälen glich einer Massenabfertigung und war vielen, darunter Kindern aus Hamburg, zuwider. © picture alliance/dpa/Christoph Sandig Privatfoto | -

„Erst dann sah ich, dass der Nikolaus auch ein kleines schwarzes Buch hatte und anfing zu berichten, was ich alles Schlimmes gemacht hatte.“ Für ihn sei das, ob seines Naturells, nicht so furchtbar gewesen. Ein anderer, ein kleiner Achtjähriger, habe jedoch bitterlich geweint vor Scham und Bloßstellung.

Kinder aus Hamburg erlebten Grausames

Und genau das, solche Szenen, sie gehörten systematisch und flächendeckend in den Heimen zum Alltag der Kinder. Unterschiedliche Erinnerungen von Mädchen und Jungen zeigen viele Überschneidungen: Es geht um öffentliche Demütigung von Bettnässern, riesige Löffel Lebertran, die den Kindern verabreicht wurden, nachdem sie sich in einer langen Reihe aufgestellt hatten.

Eiserne Regel: immer alles aufessen, ob es schmeckte oder nicht. Gewichtszunahmen galt als das Erreichen des Kurziels. Krausse musste es mitansehen, eine andere Interview-Geberin wurde gezwungen, es selbst zu tun: das eigene Erbrochene aufessen.

Hierher wurden jahrzehntelang Kinder aus Hamburg ab vier Jahren verschickt: In Wyk auf Föhr (das Foto zeigt eine Szene aus dem Jahr 1954) gab es zeitweise über dreißig Kinderheime.
Hierher wurden jahrzehntelang Kinder aus Hamburg ab vier Jahren verschickt: In Wyk auf Föhr (das Foto zeigt eine Szene aus dem Jahr 1954) gab es zeitweise über dreißig Kinderheime. © Vintage Germany/Karin Schröder | Vintage Germany/Karin Schröder

Dazu gehörte es zur Lehrmeinung, dass wenig zu trinken besser sei, die Kinder mussten sich an feste Zeiten für Toilettengänge halten, wobei es in den Massentoiletten keine Türen vor den einzelnen Kabinen gab – dafür patrouillierende Erzieherinnen.

Die Erinnerungen der für die Studie Interviewten brachten das Gefühl der Massenabfertigung mit militärischem Drill auf, Waschräume mit 30 Waschbecken und riesig große Schlafsäle wurden erinnert. Immerzu hätten ein rigider Ton, Härte und Strenge geherrscht.

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Gerade der fest angesetzte Mittagsschlaf, anderthalb Stunden jeden Tag für alle Altersklassen, war ihm unerträglich. „Darunter habe ich sehr gelitten, es war eine Tortur, so lange ganz still daliegen zu müssen.“

Als einer der wenigen sprach er über sein Erlebtes. „Als ich zurückkam, habe ich meinen Eltern gesagt, dass ich da nie wieder hinfahren will“, sagt Krausse, heute Soziologe. Seine Eltern schenkten seinem Wunsch Gehör, und er wurde nur einmal verschickt – andere erlitten diese Tortur bis zu fünfmal und leben deshalb mit diesen schweren Erinnerungen. Und heftigen Traumatisierungen.