Hamburg. Kassenärzte sprechen von „Einschränkungen“. Ein Urteil belastet Hamburgs Notfallpraxen und Krankenhäuser. Patienten müssen neu denken.

Der ärztliche Notdienst in Hamburg steht vor dem gravierendsten Umbau seit Jahrzehnten. Das betrifft die Notfallpraxen der Kassenärztlichen Vereinigung (KV), die Einrichtungen an den Krankenhäusern und am Ende die Notaufnahmen der Hamburger Kliniken wie UKE oder Asklepios selbst. Zwei KV-Notfallpraxen werden wie berichtet definitiv geschlossen: am Integrierten Notfallzentrum (INZ) am Marienkrankenhaus und am St. Adolf-Stift in Reinbek. Dort läuft der Betrieb jedoch in anderer Organisation weiter. Nun gibt es innerhalb der KV Überlegungen, möglicherweise sogar die traditionelle Notfallpraxis auf St. Pauli an der Stresemannstraße aufzugeben.

Hier laufen nach Abendblatt-Informationen noch Gespräche. Eine Art Praxisversammlung wurde offenbar anberaumt. Diese Notfallpraxis der niedergelassenen Ärztinnen und Ärzte ist die letzte ihrer Art, die nicht unmittelbar an einem Krankenhaus beheimatet ist. Zuvor wurde bereits die KV-Einrichtung in Farmsen an das Bundeswehrkrankenhaus in Wandsbek verlegt. Die Stresemannstraße öffnet werktags, wenn die meisten Praxen schließen, also um 19 Uhr, mittwochs um 13 Uhr. Die Öffnungszeiten am Wochenende liegen zwischen 8 und 0 Uhr.

Notdienst Hamburg steht mit Praxen-Öffnungszeiten vor Veränderungen

Hintergrund für die interne Debatte unter den Hamburger Kassenärzten ist ein einschneidendes Urteil des Bundessozialgerichtes zur Selbstständigkeit der Ärzte in den KV-Notdiensten. Für sie müssen vermutlich künftig generell Sozialabgaben abgeführt werden. Im Detail sind die Folgen dieser höchstrichterlichen Entscheidung noch nicht klar. In Hamburg haben die Kassenärzte hochgerechnet, dass dadurch der ärztliche Bereitschaftsdienst jedes Jahr um zwei Millionen Euro teurer würde. Das wäre ein Ausgabenplus von zehn Prozent. Da die Krankenkassen das nicht tragen, blieben die Ärzte auf den Kosten sitzen.

Gesundheitsminister Karl Lauterbach und Hamburgs Sozialsenatorin Melanie Schlotzhauer (beide SPD) im Integrierten Notfallzentrum des Hamburger Marienkrankenhauses mit Dr. Michael Wünning.
Gesundheitsminister Karl Lauterbach und Hamburgs Sozialsenatorin Melanie Schlotzhauer (beide SPD) im Integrierten Notfallzentrum des Hamburger Marienkrankenhauses mit Dr. Michael Wünning. © FUNKE Foto Services | Marcelo Hernandez / FUNKE Foto Services

Sie haben deshalb deutschlandweit an die Bundesregierung und den Bundestag appelliert, sie von den Sozialabgaben im Notdienst zu befreien. Die Ärzte als Selbstständige zahlen in Ärzteversorgungswerke als ihre „Rentenversicherung“ ein. In Hamburg arbeiten von den rund 600 Ärztinnen und Ärzten in den Notfallpraxen rund 90 Prozent sowieso als KV-Vertragsärzte. Die anderen sind beispielsweise Rentner oder anderweitig beschäftigte Ärzte, die Notdienste übernehmen.

Was wird aus der Notfallpraxis Stresemannstraße?

Notfallpraxis Stresemannstrasse
Die Notfallpraxis der Hamburger Kassenärzte an der Stresemannstraße auf St. Pauli © FUNKE Foto Services | Michael Rauhe

KV-Sprecher Jochen Kriens wollte auf Abendblatt-Anfrage konkrete Schließungspläne für die Stresemannstraße nicht bestätigen. Er sagte, die Gremien der KV seien derzeit mit den Auswirkungen des BSG-Urteils befasst. „Hierbei muss auch die weitere Einschränkung des Umfangs des ärztlichen Bereitschaftsdienstes in Erwägung gezogen werden. Wir hoffen sehr darauf, dass der Gesetzgeber die Teilnehmerinnen und Teilnehmer am Notdienst von der Sozialversicherungspflicht befreit und damit den Rettungsdienstärztinnen und -ärzten gleichstellt.“ Ob auch der fahrende Notdienst der 116 117 betroffen sein könnte, werde ebenfalls geprüft.

Von Mai 2023 bis April 2024 gab es an den Hamburger KV-Notfallpraxen so viele Patienten:

  • Altona Stresemannstraße 24.222
  • Bundeswehrkrankenhaus 20.466
  • UKE 16.889
  • AK Harburg 13.736
  • Reinbek 13.004
  • INZ am Marienkrankenhaus 11.064
  • Kinderkrankenhaus Wilhelmstift 26.955
  • Altonaer Kinderkrankenhaus 17.455

Warum die Notaufnahmen der Krankenhäuser voller werden dürften

Die KV bietet auf ihrer Internetseite umfassende Infos zur Befreiung von der Sozialversicherungspflicht an. In Schleswig-Holstein hat die KV vorsorglich 450 Poolärzten gekündigt, die Notdienste übernehmen. Dadurch wurden an neun von 32 Standorten an drei Tagen die „Anlaufpraxen“ geschlossen. In Berlin wird es für Patienten außerhalb der Praxenzeiten vermutlich noch ungemütlicher: Von „erheblichen Einschränkungen bei der ambulanten Notfallversorgung“ spricht die KV dort. Ein Drittel der Dienste in den Notfallpraxen und bei den Hausbesuchen werde von Poolärzten übernommen, also keinen Vertragsärzten. Die Folgen benennen Berlins Ärzte klar: Die Notaufnahmen der Krankenhäuser dürften voller werden. Würde man die Bereitschaften den Praxen aufdrücken, müssten die ihre Öffnungszeiten weiter einschränken – ein Teufelskreislauf für Patienten in Not.

Baden-Württembergs Ärzte gehen den harten Weg. Einige Notfallpraxen wurden seit dem Urteil kurzerhand geschlossen: in Geislingen, Bad Säckingen, Möckmühl, Künzelsau … Die Arztnot ist groß. Im Südwesten sind 1000 Arztsitze unbesetzt, allein 900 Hausärzte fehlen. Und weil sich immer mehr Mediziner anstellen lassen, sinkt die Zahl derjenigen, die man zu Notdiensten verpflichten kann. Hier heißt es bei der Ländle-KV glockenklar: „Der Bereitschaftsdienst ist keine verlängerte Sprechstunde.“ Die Notfallpraxen böten nur eine „Überbrückungsbehandlung“, bis die regulären Praxen wieder geöffnet seien. Bei medizinischen Fragen von Leben oder Tod bleibe die bekannte Telefonnummer 112.

Marienkrankenhaus: Kassenärzte geben Notfallpraxis auf

Die Friss-oder-stirb-Mentalität ist in der Medizin-Metropole Hamburg mit ihrem Überangebot noch nicht angekommen. Nirgendwo ist die Arztdichte so hoch, ergab gerade wieder eine Statistik des Krankenkassenverbandes VDEK. Doch es gibt Vorboten. Patientinnen und Patienten berichten von ruppigem Ton, das Personal in den Notaufnahmen ist überlastet, die Praxisärzte vielfach frustriert. Das bundesweit mit Lob überhäufte INZ am Marienkrankenhaus hat die KV aufgegeben, weil es sich nicht rechnete mit wenigen Patienten. Immerhin: Die Ersteinschätzung der Patienten am Tresen mit einer neuen Computerunterstützung führte dazu, dass weniger Notfallpatienten auf eine Station im Marienkrankenhaus kamen. Eine ambulante Behandlung reichte.

KV-Vorstandsvize Caroline Roos sagte: „Die wertvollen Erfahrungen, die wir in den vergangenen knapp zwei Jahren im INZ als Modellprojekt gewinnen konnten, belegen eindeutig, dass durch die medizinische Ersteinschätzung mit dem Medizinprodukt SmED Kontakt plus am gemeinsamen Tresen ein größerer prozentualer Anteil an Patientinnen und Patienten in die ambulante Versorgung gesteuert werden kann, als wenn das Krankenhaus allein entscheidet, ob ein Patient ambulant oder stationär behandelt wird.“

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Notdienste: Videosprechstunden für Kinder in Hamburg

Da klingt eine kleine Spitze gegen die Krankenhäuser an, die ihre Patienten auch aus den Notaufnahmen rekrutieren. Tatsächlich kämpfen die Kliniken mit niedrigen Patientenzahlen, steigenden Kosten und Notaufnahmen, in denen vor allem nachts und am Wochenende die Situation schon mal entgleisen kann. Hier die dringenden Notfälle von den Zu-Fuß-Selbsteinweisern zu trennen ist die tägliche Herausforderung.

Neue Praxis der Kassenärztlichen Vereinigung Hamburg
Der KV-Vorstandsvorsitzende John Afful, die Vorsitzende des Verbandes der Kinder - und Jugendärzte Hamburg, Dr. Claudia Haupt, und Dr. Annalena Sieverding von der 2024 eröffneten Kinderarztpraxis der KV in Rahlstedt. © Christoph Rybarczyk | Christoph Rybarczyk

Um die hohe Inanspruchnahme der Kinder-Notaufnahmen am Rahlstedter Wilhelmstift und am AKK in Altona etwas abzufedern, hat die KV im vergangenen Jahr eine Videosprechstunde für Eltern mit kranken Kindern eingeführt. Sie kann außerhalb der Praxiszeiten genutzt werden und ist über die 116 117 erreichbar: mittwochs und freitags von 17 bis 20 Uhr, am Wochenende von 14 bis 20 Uhr. Voraussetzung ist ein Handy, Tablet oder Computer mit Kamera und Ton. In digitalen Sprechstunden, glauben Experten, stecken noch erheblich mehr Chancen für Patienten und Ärzte gleichermaßen.