Hamburg. Haftbefehl gegen Salman E. (35) erlassen. Details zur Vorgeschichte des Dramas und der Person des türkisch-stämmigen Vaters.
Ein Ermittlungsrichter hat am Montagnachmittag Haftbefehl gegen Salman E. erlassen. Der 35-Jährige hatte sich am Sonnabend gegen 19 Uhr „unter Anwendung einer List Zugang zur Wohnung seiner Ex-Frau (38 Jahre) in Stade verschafft und gewaltsam die dort lebende gemeinsame Tochter (4 Jahre) in einen von ihm angemieteten Pkw verbracht zu haben“, teilte die inzwischen ermittelnde Generalstaatsanwaltschaft am späten Nachmittag mit. „Die ihm folgende und um Hilfe rufende Ex-Frau, der das alleinige Sorgerecht für die gemeinsame Tochter zugesprochen worden war, soll er mit einer halbautomatischen Selbstladekurzwaffe bedroht und dabei jedenfalls einen Schuss in die Luft aus der Pistole abgegeben haben“, heißt es weiter.
Mit dem entführten Kind flüchtete Salman E. über die A26 zum Helmut-Schmidt-Flughafen. Über den polizeilichen Notruf soll er mitgeteilt haben, dass er eine Bombe im Fahrzeug habe und für sich und seine Tochter die Ausreise in die Türkei gefordert haben. „Der Beschuldigte, der nicht im Besitz einer waffenrechtlichen Erlaubnis ist, soll hier drei weitere Schüsse aus der mitgeführten Pistole abgegeben und zwei Brandsätze aus dem Pkw geworfen haben, die von Einsatzkräften gelöscht werden konnten“, heißt es in der Mitteilung der Generalstaatsanwaltschaft. „Angesichts der vom Beschuldigten geäußerten Drohung, er werde schießen oder den Sprengstoff zünden, wurde von einem Zugriff zunächst abgesehen“.
Tochter entführt: Geiselnehmer drohte mit Bombenattrappe
Die erlösende Nachricht teilt die Polizei Hamburg dann am Sonntag um Punkt 14.30 Uhr in nur wenigen Sätzen über den Nachrichtendienst X (früher Twitter) mit: „Die Geisellage ist beendet“, lauten die ersten vier Worte, die nicht nur ganz Hamburg erleichtern. Und dann: „Der Tatverdächtige hatte zusammen mit seiner Tochter das Auto verlassen. Der Mann wurde widerstandslos von den Einsatzkräften festgenommen.“ Der wichtigste Satz ganz zum Schluss: „Das Kind scheint unverletzt zu sein.“
Das mehr als 18 Stunden dauernde Geiseldrama, das am Wochenende ganz Deutschland verfolgt hat, begann bereits am späten Sonnabend um 20.12 Uhr, als ein bewaffneter Mann (35) Deutschlands viertgrößten Flughafen und den gesamten Flugverkehr lahmlegte. Der Täter Salman E. hatte mit seinem Audi, einem Mietwagen, wie sich später herausstellte, – und seiner vierjährigen Tochter als Geisel – gegen 20.17 Uhr eine Schranke durchbrochen, war auf das Rollfeld gerast und hatte seinen Wagen neben einer voll besetzten Passagiermaschine der Turkish Airline abgestellt.
Flughafen Hamburg: Nach Geiselnahme – Haftbefehl gegen Salman E. erlassen
Während der Fahrt schoss Salman E. offenbar auch mehrfach in die Luft und warf Brandsätze aus dem Auto. Er hatte eine selbst gebastelte Weste, die man für eine Sprengstoffweste hielt, vor das Fahrzeug gelegt. Bundes- und Landespolizei rückten mit einem Großaufgebot und mehreren Sondereinheiten an, der komplette Airport wurde gesperrt und der Flugverkehr um 20.24 Uhr aus Sicherheitsgründen bis auf Weiteres eingestellt – bis zur Wiederaufnahme des Betriebs am Sonntag gegen 17.30 Uhr.
Neben der Schusswaffe konnte später die selbstgefertigte Attrappe eines Sprengstoffgürtels sichergestellt werden. Es handelte sich um ein mit Alufolie umwickeltes Buch, in das Drähte gesteckt waren. Die Auswertung der anlässlich der Durchsuchung der Wohnung des Beschuldigten in Buxtehude sichergestellten Gegenstände dauert an.
Geiseldrama am Flughafen Hamburg: Vater entführte Tochter aus Kinderzimmer
Nach Abendblatt-Informationen hatte der 35-jährige Salman E. seine Tochter aus dem Kinderzimmer in Stade entführt. Schon in der Wohnung fielen zwei Schüsse, Nachbarn hatten die Polizei gerufen. Anschließend fuhr der Mann von Stade nach Hamburg und setzte gegen 20.13 Uhr selbst den Notruf ab. Er gab an, im Flughafen-Bereich zu sein, drei Bomben und das Kind bei sich zu haben. Um 20.17 Uhr durchbrach Salman E. die Flughafenschranke, was von einer Peterwagenbesatzung registriert wurde. Um 20.18 Uhr kam er in der Nähe der Maschine der türkischen Fluggesellschaft zum Stehen. Die Maschine war leer und sollte ohne Passagiere zurück in die Türkei fliegen.
Die Einsatzkräfte konnten sich nicht verdeckt dem Auto des Mannes nähern. Er hatte eine selbst gebastelte Weste, die man für eine Sprengstoffweste hielt, vor das Fahrzeug gelegt. Am Sonntag ließ sich Salman E. schließlich um 14.25 Uhr von der Verhandlungsgruppe zur Aufgabe überreden. Er hatte vorher mehrfach selbst bei der Polizei angerufen. Weil sich abzeichnete, dass er das Kind nicht töten wollte, hatte die Polizei bei den Gesprächen mit ihm auf Zeit gespielt. Was möglicherweise mit zur Aufgabe des Geiselnehmers führte: Der Täter hatte über Schmerzen im Fuß geklagt. Nach seiner Festnahme wurde auf dem Flughafengelände in der Nähe des Autos noch ein sprengstoffverdächtiger Gegenstand gesprengt.
Auch die S-Bahn fuhr nicht mehr zum Flughafen. Erst am frühen Sonntagabend wurde die Sperrung wieder aufgehoben, Züge der S1 rollten im Anschluss zunächst im 20-Minuten-Takt. „Weiterhin sind Verspätungen möglich“, teilte die S-Bahn Hamburg auf der Plattform x (früher Twitter) mit.
Flughafen Hamburg: Geiselnehmer soll am Montag vor Haftrichter
Am Montag wurde gegen den 35-Jährigen schließlich ein Haftbefehl erlassen. Wie Oberstaatsanwältin Liddy Oechtering am Morgen gegenüber der Deutschen Presse-Agentur bekannt gegeben hatte, sollte der Geiselnehmer im Laufe des Montags dem Haftrichter vorgeführt werden.
Salman E. wurde nach Abschluss der polizeilichen Maßnahmen in ein Untersuchungsgefängnis gebracht. Ihm wurde eine Blutprobe entnommen und es wurden Beweismittel, unter anderem sein mit Rauchspuren versehenes Hemd, sichergestellt. Die Zentralstelle Staatsschutz der Generalstaatsanwaltschaft Hamburg hat jetzt den Fall übernommen. Der Vorwurf lautet: Geiselnahme und Entziehung Minderjähriger und Verstoß gegen das Waffengesetz.
Sorgerechtsstreit ist der Hintergrund für die Geiselnahme
Zunächst war die Lage am Sonnabend sehr unübersichtlich. Bei vielen kamen schnell wieder die Bilder vom Amoklauf in Alsterdorf hoch, als ein psychologisch kranker Täter sieben Menschen und später sich selbst erschoss. Doch relativ schnell sickerte durch, dass es sich bei diesem Vorfall um einen Sorgerechtsstreit handeln sollte.
Diese Annahmen bestätigten sich später: Nach dem bisherigen Stand der Ermittlungen geriet der Tatverdächtige in Stade aufgrund von Sorgerechtsstreitigkeiten mit seiner Ex-Frau in eine psychische Ausnahmesituation. Vorausgegangen war offenbar ein Streit, in dessen Verlauf Salman E. die Mutter des Kindes zur Seite stieß und unmittelbar danach mit der Vierjährigen im Auto in Richtung Hamburg flüchtete. Die 39 Jahre alte Kindsmutter erstattete anschließend eine Strafanzeige wegen des Verdachts der Kindesentziehung.
Geiselnehmer entführte seine Tochter schon einmal
Unglaublich: Bereits im März 2022 wurde in Stade gegen Salman E., der türkischer Staatsbürger ist, wegen des Verdachts der Entziehung Minderjähriger ermittelt. Damals war er unberechtigt mit seiner Tochter in die Türkei gereist. Das Kind konnte im weiteren Verlauf jedoch von der Mutter wieder nach Deutschland geholt werden.
„Es ist richtig. Der Mann war im vergangenen Jahr schon einmal mit dem Kind für mehrere Monate in der Türkei. Das war nicht erlaubt. Dafür ist er zu einer Geldstrafe verurteilt worden“, so Stades Polizeisprecher Rainer Bohmbach zum Abendblatt.
Polizei führte stundenlange Verhandlungen mithilfe eines türkischen Dolmetschers
Die Situation auf dem Hamburger Flughafen war ausgesprochen dramatisch. Die schnell herbeigeeilten Beamten mussten sogar davon ausgehen, dass der Geiselnehmer neben einer scharfen Schusswaffe womöglich auch Sprengsätze unbekannter Art dabeihatte. Der Mann hatte eine selbst gebastelte Weste, die man für eine Sprengstoffweste hielt, vor das Fahrzeug gelegt.
„Wir gehen im Moment davon aus, dass es dem Kind körperlich gut geht. Das sagt uns der Blickkontakt, den wir im Moment haben, und die Telefonate mit dem Täter, da ist das Kind im Hintergrund zu hören“, sagte Polizeisprecherin Sandra Levgrün am Sonntag, nur wenige Stunden, bevor der Mann aufgab. Zuvor hatte er über Schmerzen im Fuß geklagt. Die Verhandlungen wurden über einen türkischen Dolmetscher geführt.
Nach seiner Festnahme wurde auf dem Flughafengelände in der Nähe des Autos ein Sprengstoff-verdächtiger-Gegenstand gesprengt. Nach Abendblatt-Informationen soll auch ein Handy mit Drähten gefunden worden sein.
Geiselnahme: Heftige Kommentare in den Sozialen Medien
Sehr heftig ging es am Sonntag vor dem unblutigen Ende der Geiselnahme bei X (vormals Twitter) zu. In den Kommentaren vom Hamburger Flughafen und von der Hamburger Polizei, die fortlaufend informierten, machten viele Nutzer ihrem Ärger in beängstigender Art und Weise Luft.
„Wozu haben wir ausgebildete Scharfschützen?“, war noch einer der eher harmloseren Fragen, die teilweise von verärgerten Reisenden gestellt wurden. Eine andere Forderung: „Knallt den (...) einfach ab, und schon ist Ruhe.“ Auch zahlreiche rassistische Beleidigungen wurden beobachtet.
Passagiere waren im Flughafenhotel Radisson gestrandet
Sehr viel ziviler, aber ebenfalls angespannt war die Stimmung kurz vor der Aufgabe im Flughafenhotel Radisson, wo zahlreiche Reisende gestrandet waren.
So auch Jennifer, deren Flug nach München am Vorabend nicht abheben konnte. Das Flugzeug sei zurück in die Parkposition geschoben worden, sagte die 33-Jährige dieser Zeitung. „Dann haben wir halt gewartet, gewartet, gewartet.“ Im Flieger seien plötzlich die Lichter ausgegangen. Trotzdem hätten Passagiere im Internet von dem Vorfall am Flughafen erfahren, kurz darauf habe der Pilot sich gemeldet. „Irgendwann hieß es dann auch Geiselnahme.“
Die Geiselnahme hatte auch Auswirkungen auf den gesamtdeutschen Flugverkehr am Wochenende. Airport-Sprecherin Katja Bromm sagte bereits am späten Sonnabend, dass alleine in Hamburg von der offiziellen Sperrung des Flughafens um 20.24 Uhr bis Betriebsschluss um 23 Uhr normalerweise sechs Starts und 21 Landungen erwartet worden wären. Betroffen waren demnach rund 3200 Passagiere.
Bis 11.30 Uhr waren bereits 126 Flüge gestrichen
Für den Sonntag waren in Hamburg insgesamt 286 Flüge (139 Abflüge und 147 Ankünfte) mit rund 34.500 Passagieren vorgesehen. Um 11.30 Uhr erklärte der Airport, dass 126 Flüge (70 Abflüge und 56 Ankünfte) bereits gestrichen wurden. Fünf weitere Ankünfte wurden zu anderen Flughäfen umgeleitet. Um 17.30 Uhr und damit nach 21-stündioger Sperrung wurde der Betrieb in Fuhlsbüttel schließlich wieder aufgenommen, mit weiteren Ausfällen musste aber gerechnet werden.
Die Geiselnahme war nicht der erste Vorfall am Hamburger Flughafen in diesem Jahr. Auch am 13. Juli war der Flugbetrieb vorübergehend eingestellt worden, nachdem Aktivisten der „Letzten Generation“ das Gelände des Flughafens betreten und sich auf dem Rollfeld festgeklebt hatten. Mehrere Stunden lag der Flugverkehr brach. Tausende Urlauber verpassten ihre Flüge. Es folgte eine Diskussion über die Sicherheitslage am Hamburger Flughafen, die an diesem Wochenende neue Nahrung erhielt.
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„Offensichtlich zwingt niemand die Flughafenbetreiber ernsthaft, Sicherheitsmaßnahmen so hochzufahren, dass es zu solchen Vorfällen schlicht nicht mehr kommen kann“, sagte Heiko Teggatz, der stellvertretende Bundesvorsitzende der Deutschen Polizeigewerkschaft (DPolG), am Sonntag. „Es ist nur schwer vermittelbar, dass etwa Weihnachtsmärkte mit Betonbarrikaden gesichert werden, und unsere Flughäfen werden als Hochsicherheitsbereiche von Betreibern stiefmütterlich behandelt.“
Immerhin: Am Sonntagmittag gab es zumindest für das vierjährige Kind ein glückliches Ende. Die Sicherheitsdebatte rund um den Hamburger Flughafen dürfte dagegen gerade erst begonnen haben.