Zwei Frauen und vier Männer sprechen erstmals über die Tat vom 9. März und schildern, wie sie das Unbegreifliche verarbeiten.

Der erste Händedruck ist fest. Fester als fest. Jonathan, dunkler Anzug, graue Haare, lächelt. Erst nach ein paar Sekunden lässt er die Hand wieder los. Der 38-Jährige spricht über vieles und berichtet dann, dass er an diesem Tag erstmals nach seiner Krankschreibung wieder zur Arbeit gegangen ist – und dass es ein guter Tag war.

„Wurde auch mal wieder Zeit“, sagt er. Es klingt, als habe Jonathan eine Woche wegen einer Grippe verpasst.

Tatsächlich hat der Prüfingenieur mehr als drei Monate bei der Arbeit gefehlt. Von Kugeln durchsiebt hat er den schlimmsten Amoklauf der vergangenen Jahrzehnte in Hamburg nur knapp überlebt. Mehrere Operationen und fast 100 Tage später steht Jonathan im Gemeindesaal der Zeugen Jehovas in Eidelstedt. Am Eingang wurde jeder Fremde kurz kontrolliert. Jonathan lächelt noch immer und sagt, dass er sich auf den Gottesdienst freue.

Amoklauf in Alsterdorf: In 16 Minuten wurden sieben Zeugen Jehovas erschossen

Zum Gottesdienst getroffen hatten sich Jehovas Zeugen auch am 9. März, wie so oft in ihrem Gemeindezentrum an der Deelböge in Alsterdorf. Die Versammlung im Königreichssaal war erst ein paar Minuten vorbei, als Philipp F., ein ehemaliges Mitglied der Hamburger Religionsgemeinschaft, hereinstürmte. Innerhalb von 16 Minuten richtete er ein Massaker an: Feuerte 135 Schuss aus einer halbauto­matischen Pistole des Typs Heckler & Koch P30 ab. Erschoss sechs Erwachsene und ein ungeborenes Baby im Mutterleib. Und tötete mit der letzten Patrone sich selbst.

Die ersten vier Schuss trafen Jonathan. Dreieinhalb Monate später ist es das erste persönliche Treffen. Man sieht ihn in der Mitte des Raums stehen, mit Freunden reden und fragt sich: Kann man nach so einem Erlebnis wieder den Weg zurück in ein normales Leben finden?

Gleich beginnt der Gottesdienst. Jonathan sitzt vorne links, neben ihm sein Sohn. Weiter rechts sitzen Kevin und Mary. Auch sie haben sich beide schick gemacht. Wie fast alle Männer trägt er einen Anzug, sie ein Sommerkleid. Mary sitzt neben ihrer Freundin, die am 9. März das Kind in ihrem Bauch verloren hat. Auch Kevin und Mary sind an diesem Donnerstagabend in den Königreichsaal nach Eidelstedt gekommen, der den Zeugen Jehovas aus der Alsterdorfgemeinde nun erst mal als Bleibe dient, ebenfalls Marcel und Fee. Und Julien, der weiter hinten sitzt. Sie alle haben den Amoklauf vor drei Monaten knapp überlebt.

Im Königreichssaal in Alsterdorf werden keine Gottesdienste mehr stattfinden

Der Königreichssaal im Gemeindezen­trum in Eidelstedt ist zweckmäßig eingerichtet – ähnlich wie vorher auch der Saal im alten Gemeindezentrum in Alsterdorf. Dort finden bis auf Weiteres keine Gottesdienste mehr statt, die Räumlichkeiten werden derzeit saniert. Die Türen, die man aus „Tagesschau“ und ARD-„Brennpunkt“ kennt, Fernsehbilder vom Tag danach mit vielen Blumen davor, bleiben vorerst verschlossen. Über die langfristige Nutzung ist noch nicht entschieden.

Im Gemeindezentrum in Eidelstedt liegt auf einem Tisch ein buntes Bouquet aus Sommerblumen. Die orangefarbenen Stühle sind davor angeordnet, im Halbkreis in mehreren Reihen. Altar und Kreuz brauchen die Zeugen Jehovas nicht. Die rot-gelben Vorhänge neben den Fenstern sind aufgezogen, Sonne fällt ein. An der Wand steht ein Bibelvers, Psalm 119, Vers 160: „Deine Worte sind der Inbegriff der Wahrheit.“

Der erste Vortrag des Abends hat den Titel: „Wie wir unseren Brüdern in schweren Zeiten helfen können“. Julien ist einer der Ersten, die sich melden und die das Mikrofon bekommen. Er sagt: „Es gibt keinen hoffnungslosen Fall.“

Die Bilder gingen um die Welt: Am 9. März 2023 tötete Philipp F. im Königreichssaal der Zeugen Jehovas an der Deelböge sieben Menschen und sich selbst.
Die Bilder gingen um die Welt: Am 9. März 2023 tötete Philipp F. im Königreichssaal der Zeugen Jehovas an der Deelböge sieben Menschen und sich selbst. © Marcelo Hernandez / FUNKE Foto Services

Nach 100 Tagen reden die Überlebenden erstmals öffentlich über die Tat

Nach rund anderthalb Stunden endet die Versammlung. Die Teilnehmer stehen noch in Grüppchen zusammen, unterhalten sich. Es wird geredet, gescherzt, gelacht. Julien, Marcel und Fee, Kevin und Mary und Jonathan kommen in einen Nebenraum. Sie alle haben überlebt am 9. März in Alsterdorf. Sie alle haben Freunde verloren, enge Freunde. Nun wollen sie entscheiden, ob sie 100 Tage später mit jemandem darüber sprechen wollen, der nicht zu ihrer Gemeinschaft zählt. Es würde um den eigentlich nicht zu beschreibenden Schrecken jenes Abends gehen und darum, wie sie mit diesem Schrecken weiterleben.

Es wird ein längeres Gespräch, aus dem, das ist die Abmachung mit dem Abendblatt, noch nicht zitiert werden soll. Sie haben Fragen an den Reporter. Und eine Bitte. Nicht nur der Tatabend soll zum Thema gemacht werden, sondern auch die Zeit danach. Alle sechs wollen zeigen, wie man es schafft, mit Hilfe, Unterstützung und Liebe nach so einem Erlebnis weiterzuleben. Schließlich willigen sie ein. Alle sechs werden sich in den nächsten Tagen und Wochen Zeit nehmen. Sie wollen es für die sieben Todes­opfer tun, für deren Hinterbliebene und auch für sich selbst.

CNN, BBC, Al Jazeera: Weltweit wurde über den Amoklauf berichtet

Der Amoklauf von Alsterdorf. Weltweit wurde darüber berichtet. CNN, BBC, Al Jazeera, die „New York Times“, der „Guardian“. Hamburgs Erster Bürgermeister Peter Tschentscher (SPD) unterbrach seinen Urlaub. Es gab Sondersendungen, eine am nächsten Morgen einberufene Pressekonferenz. Und fast immer stand neben der eigentlichen Tat die Frage im Raum: Wer sind eigentlich diese Zeugen Jehovas?

In einem Special am Morgen nach dem Amoklauf interviewt das ZDF einen „Sektenexperten“. Der Professor erklärt, dass Zeugen Jehovas „den Kontakt mit der verseuchten Welt Satans meiden müssten“ und spekuliert, ob der Täter enttäuscht und wütend auf die Gemeinschaft gewesen sei, die er im Unfrieden verlassen habe. Eben noch sprach die Moderatorin darüber, wie viele Menschen gestorben, wie viele noch immer schwer verletzt sind. Gleich danach wird darüber gerätselt, was es eigentlich mit diesen Zeugen Jehovas auf sich hat.

Warum waren die Werte der Zeugen Jehovas so schnell relevant?

Tatsächlich ist die Glaubensgemeinschaft seit 2017 in allen deutschen Bundesländern als Körperschaft des öffentlichen Rechts anerkannt und somit den Kirchen gleichgestellt. Auch das Bundesverfassungsgericht urteilte im Jahr 2000, dass die Zeugen Jehovas rechtstreu sind. Sie verweigern grundsätzlich Kriegsdienst, wurden in der Nazizeit systematisch verfolgt und werden das in vielen Ländern der Welt, zum Beispiel in Russland, noch heute.

Die Religionsgemeinschaft nimmt ihre eigene Bibelübersetzung nahezu wörtlich, hält sich streng an die urchristlichen Vorbilder, bleibt eher unter sich, missioniert und geht mitunter rigide mit Aussteigern um. In der Gemeinschaft haben sie sich aber gefragt, warum solche Punkte gleich am Tag nach dem Amoklauf relevant waren.

Beim Amoklauf von Alsterdorf scheint das kollektive Einhalten zu fehlen

Was auffällt: Irgendetwas ist anders bei dieser schlimmen Tat als bei anderen schrecklichen Ereignissen. Es kommt nicht zu einem kollektiven Einhalten, zu gemeinschaftlicher Trauer. Es gibt keinen spontanen Trauermarsch, keine unabhängige Gedenkveranstaltung am Wochenende, kaum demonstrative Solidarität. Die Öffentlichkeit beschäftigt sich vor allem mit dem Täter und seinen möglichen Motiven. Es wird viel und oft nach dem Todesschützen gefragt. Seine Opfer sind vergleichsweise selten ein Thema.

Hamburg-Hummelsbüttel, ein paar Tage nach der Entscheidung, mit dem Abendblatt zu sprechen. Kevin und Mary öffnen ihre Wohnungstür. Die Luft in ihrer Dachgeschosswohnung steht. Es ist einer dieser heißen Tage, an denen jeder Schritt schwerfällt. Und ausgerechnet heute wollen Mary und Kevin einen Riesenschritt machen. Am Ende werden sie fast zwei Stunden sprechen. Über den Tag vor der Tat, den Tatabend und die Tage und Wochen danach. Das Paar sagt, es möchte die Geschichten und Gesichter der Opfer des Anschlags am Leben erhalten, auch wenn viele von ihnen nicht mehr am Leben sind.

Die Geschichten und Gesichter der Opfer des Anschlags am Leben erhalten: Die Zeugen Jehovas Mary und Kevin sprachen mit dem Abendblatt erstmals über die Tatnacht am 9. März.
Die Geschichten und Gesichter der Opfer des Anschlags am Leben erhalten: Die Zeugen Jehovas Mary und Kevin sprachen mit dem Abendblatt erstmals über die Tatnacht am 9. März. © HA | Marcelo Hernandez / FUNKE Foto Services

Die Überlebenden haben Briefe und Grüße aus der ganzen Welt bekommen

Im Flur zwischen Wohnzimmer und Küche hängen an der einen Wand Familienbilder, an der anderen Wand Grüße, Genesungswünsche, Sprüche und handgemalte Bilder, die sie von Glaubens­brüdern und -schwestern nach dem Amoklauf aus der ganzen Welt erhielten. „Am schönsten fanden wir die vielen Kinderbilder“, sagt Mary. „Oft haben sie für uns das Paradies gemalt. Jeden Morgen bringen sie uns zum Lächeln, wenn wir sie an unserer Wand sehen.“

Gute Laune hatten Mary und Kevin auch, als sie am frühen Abend des 9. März nach Alsterdorf fuhren. „Auf dem Weg dorthin haben wir im Auto noch Musik gehört und gesungen“, erinnert sich Mary. Kevin erinnert sich, dass er noch direkt vor dem Gottesdienst seinen Freund Sebastian getroffen habe. „Er hat mich sehr fröhlich begrüßt und freundschaftlich auf den Arm geboxt. Wir haben uns einfach gefreut, uns wiederzusehen.“

Es wird das letzte Wiedersehen mit Sebastian gewesen sein.

Zwischen 21.01 Uhr und 21.17 Uhr feuert der Täter 135 Schuss ab

Was dann zwischen 21.01 Uhr und 21.17 Uhr an jenem Abend passierte, ist selbst beim Zuhören nur schwer zu ertragen. Plötzlich hätten sie laute Knalle gehört, sagt Mary. „Ich dachte erst, dass Kinder Silvesterböller gegen das Fenster werfen“, sagt Kevin. „Doch dann war schnell klar, dass es kein Spaß war. Ich habe dann gerufen: ,Alle auf den Boden, das ist keine Übung! Da schießt jemand!‘“

Der jemand war Philipp F., 35 Jahre alt, in Memmingen geboren, nach eigenen Angaben in einem streng evangelischen Haushalt aufgewachsen. Ein gelernter Bankkaufmann, der als Berater arbeitete und in der Corona-Zeit zur Gemeinde der Zeugen Jehovas an der Deelböge stieß, sie dann wieder nach einigen Monaten verließ.

Julien half späterem Amokschützen Philipp F. beim Umzug

Fast jeder im Königreichssaal kannte ihn. Mary erinnert sich daran, dass er bei Zoom-Meetings oft mit anderen geredet habe, obwohl er allein in seiner Wohnung gewesen sein muss. Kevin sagt, er habe ihm mal eine Krawatte geschenkt. Julien wiederum habe ihm beim Umzug geholfen und seine Möbel aufgebaut.

Mary (25) kommt aus Schwerin, ist Vertriebsassistentin eines Familienbetriebs, der Treppenlifte verkauft. Mit 17 hat sie sich taufen lassen, mit 18 Jahren hat sie Kevin bei einem Kongress der Zeugen Jehovas in der Hamburger Barclaycard Arena kennen- und lieben gelernt. Kevin (31) ist gebürtiger Hamburger, aufgewachsen in Fuhlsbüttel, arbeitet als Vertriebler und ist seit 2012 Mitglied der Alsterdorfer Gemeinschaft. Auf ihrem Sofa in der heißen Wohnung reden Kevin und Mary ruhig und klar. Ab und an halten sie sich an ihren Händen.

„Ich hatte vor vielem Angst, aber nicht vor dem Tod“

Als das Grauen in Alsterdorf am 9. März beginnt, weiß Mary zunächst nicht, was sie denken, fühlen, tun soll. „Ich hatte große Angst, aber nicht vor dem Tod. Ich weiß ja, wenn man tot ist, dann ist es, als würde man schlafen. Man kann nichts tun und nichts empfinden. Später werden wir dann alle in einem Paradies hier auf der Erde wieder auferstehen“, sagt sie. „Deswegen hatte ich vor vielem Angst, aber nicht vor dem Tod.“

Jehovas Zeugen machen aus ihren Überzeugungen kein Geheimnis. An öffentlichen Plätzen verteilen sie die Zeitschriften „Der Wachtturm“ und „Erwachet“. Sie gehen auch von Haus zu Haus, klingeln und fragen freundlich, ob man über Gott reden mag.

Mit der einen Hand geholfen, mit der anderen die Polizei alarmiert

An Wochenenden machen das auch Kevin und Mary. An diesem kalten Donnerstag im März wollten sie aber nur abends zum Gottesdienst und anschließend noch ein paar Minuten mit ihren Freunden sprechen. Als die ersten Schüsse in Alsterdorf gefallen sind und Kevin verstanden und herausgerufen hat, was da gerade passiert, läuft er in den Eingangsbereich. Dort spricht er sich mit anderen ab und sucht dann Schutz in der Herrentoilette.

Mary robbt über den Boden zu einem Tisch in der Ecke des Saals, dort verstecken sich bereits einige andere. „Fee war auch schon da. Sie hat mir ihre Hand gereicht und mich hinter den Tisch gezogen“, sagt sie. „Mit der anderen Hand hat sie ihr Handy bedient und die Polizei gerufen.“

In den 16 Minuten gehen 19 Notrufe bei den Einsatzzentralen ein

In den 16 Minuten zwischen dem ersten und dem letzten Schuss gehen 19 Notrufe bei den Einsatzzentralen der Polizei und Feuerwehr ein. Innerhalb weniger Minuten ist die Polizei mit einem Großauf­gebot vor Ort, das wahrscheinlich noch Schlimmeres verhindert hat. „Wir sind mega dankbar, dass die Polizei so schnell da war“, sagt Mary. 1017 Beamte werden an diesem Abend im Einsatz sein.

Bei der politischen Aufarbeitung der Tat in den Wochen danach werden zwei Dinge schnell deutlich: Die Polizei hat an jenem Abend sensationelle Arbeit geleistet. Einerseits. Andererseits hätte die Waffenbehörde, die ebenfalls der Innenbehörde unterstellt ist, den Amoklauf möglicherweise bereits im Vorfeld verhindern können.

Es gab anonyme Hinweise. Beim Schützenclub des Täters – und auch direkt bei der Waffenbehörde. Diese hat Philipp F. zwar einen unangemeldeten Besuch abgestattet, ist dem Hinweis über ein Buch, das der Täter als eine Art Manifest geschrieben hat, allerdings nicht konsequent nachgegangen. Vieles von alledem kommt erst nach und nach heraus. Noch-Polizeipräsident Ralf Martin Meyer geriet medial unter Druck, Innensenator Andy Grote wurde von der Opposition der Rücktritt nahegelegt.

Unter Druck: Hamburgs Innensenator Andy Grote (r., SPD) und Polizeipräsident Ralf Martin Meyer (2.v.r.) mussten sich im Zuge der Amoktat von Philipp F. auch für den Umgang der Waffenbehörde mit dem späteren Täter erklären.
Unter Druck: Hamburgs Innensenator Andy Grote (r., SPD) und Polizeipräsident Ralf Martin Meyer (2.v.r.) mussten sich im Zuge der Amoktat von Philipp F. auch für den Umgang der Waffenbehörde mit dem späteren Täter erklären. © dpa | Marcus Brandt

Amokopfer referierte am Tatabend über den Katastrophenfall

Die Überlebenden und Hinterbliebenen verfolgen die Innenausschusssitzungen, bei denen besonders über die Waffenbehörde gestritten wird, sehr intensiv. Bei allen drei Treffen der Fachpolitiker, zwei im Rathaus, eine im Neubau gegenüber von der Handelskammer, sind Jehovas Zeugen dabei. Sie hören aufmerksam zu, machen sich Notizen.

Auch Fee und Marcel lesen fast alle Artikel über die Aufarbeitung des Amoklaufs, schauen sich unzählige Berichte an. Das Paar lebt in Rahlstedt und empfängt in seiner Wohnung. Fee spricht sehr emotional über den Amoklauf, Marcel eher rational. Während des langen Treffens nimmt er ein Blatt Papier und zeichnet den Tatort noch einmal auf, schreibt dazu, wer wann wo war.

Am Tatabend hatte Marcel einen eigenen Programmpunkt des Gottesdienstes übernommen: Das Thema lautete: „Was passiert, wenn eine Katastrophe ausbricht?“ Es ging um die Theorie.

Fee reagiert auf Nachfragen zum Amoklauf emotional, Marcel verarbeitet das Geschehene eher rational.
Fee reagiert auf Nachfragen zum Amoklauf emotional, Marcel verarbeitet das Geschehene eher rational. © HA | Marcelo Hernandez / FUNKE Foto Services

Marcel macht Fotos von Philipp F. und berichtet der Polizei live

Etwas mehr als drei Monate danach berichtet der 30-Jährige minutiös von der Wirklichkeit: Um 18.37 Uhr kamen er und Fee an der Deelböge an, um 20.43 Uhr endet die Versammlung. Um 20.45 Uhr spricht er mit Freunden, um 20.59 Uhr schaut er auf die Uhr. Er ist jetzt, Punkt neun, mit den Seelsorgern der Gemeinde verabredet.

Um 21.01 Uhr fällt der erste Schuss, um 21.02 ruft Marcel auf seinem Weg hinauf in den ersten Stock die Polizei an – und sieht dann von oben, wie der Täter zunächst durch das Fenster in den Gemeinderaum im Erdgeschoss schießt und dann durch das Fenster einsteigt. Marcel bleibt am Smartphone und versorgt die Polizei mit einer Art Live-Berichterstattung. Nebenbei macht er mehrere Fotos von Philipp F..

Fee (30) stammt von der Schwäbischen Alb, hat Public Management studiert und Marcel bei einem Bauprojekt von anderen Glaubensbrüdern und -schwestern in Hessen kennengelernt. Im April 2022 haben­ sie geheiratet. Marcel ist in Hud­destorf, einem kleinen Dorf bei Minden, aufgewachsen. Mit 16 hat er eine Lehre als Maler und Lackierer gemacht, mit 17 Jahren ließ er sich taufen.

„Großer Liebesbeweis“: Späteres Todesopfer wirft sich zum Schutz auf Fee

So unterschiedlich seine Frau und er an diesem Nachmittag vom Tatabend berichten, so unterschiedlich haben sie die 16 Minuten des Schreckens erlebt. Während Marcel versucht, aus dem ersten Stock die Polizei zu delegieren, verharrt Fee ein Stockwerk tiefer mit anderen hinter einem Tisch. „Ich war unter Schock, habe am ganzen Körper gezittert“, sagt sie. „Ich wusste nicht, wo mein Mann ist. Das hat mir Sorge gemacht. Plötzlich warf sich jemand auf uns, aber ich konnte zunächst nicht einordnen, wer das war“, sagt Fee. Sie redet jetzt langsam, überlegt lange. „Es war James. Er wollte uns schützen.“

James gehörte zu den Opfern, die Philipp F. umgebracht hat. Auch seine Frau Marie stirbt. Mindestens zwei Gemeindemitgliedern hat James das Leben gerettet, als er sich über sie warf und ihre Körper mit seinem Körper schützte. Fee ist eine davon. James handelte heldenhaft. Warum? „Ich kann ihn das leider nicht mehr fragen“, sagt Fee. „Aber das war ein großer Liebesbeweis, er wollte seine Freunde schützen.“

Liebe ist die Antwort: Briefe im Königreichsaal Stellingen widmen sich der schrecklichen tat von Alsterdorf.
Liebe ist die Antwort: Briefe im Königsreichsaal Stellingen widmen sich der schrecklichen tat von Alsterdorf. © HA | Marcelo Hernandez / FUNKE Foto Services

Marcel: „In dem Moment dachte ich, dass es mich jetzt trifft“

Das will auch Marcel, als er von oben sieht, wie der Täter durch das zerschossene Fenster einsteigt. „In dem Moment wurde mir klar, dass meine Frau noch unten war. Ich wollte zurück, aber die Polizei hat mir am Telefon gesagt, dass ich mich verstecken solle. Das habe ich dann oben im WC gemacht.“

Wieder erinnert sich Marcel an die Minuten. Um ca. 21.09 Uhr, sagt er, sei die Polizei dann auch schon da gewesen und reingekommen. „Ich habe dann gehört, wie der Täter nach oben in mein Stockwerk kam. Er stand dann zwei Meter von der Toilettentür entfernt. In dem Moment dachte ich, dass es mich jetzt trifft.“

Unvergessen: Um 21.17 Uhr fällt der letzte Schuss

Doch der Amokläufer wendet sich ab. Gegen 21.17 Uhr fällt ein letzter lauter Schuss im Gemeindezentrum in Alsterdorf. Den wird auch Julien nie vergessen.

Julien (29) sitzt mit einem Kaffeebecher auf einer Bank im Stadtpark. Von hier sind es nicht einmal zwei Kilometer bis zum Tatort. „Ich muss jetzt auch an seine Familie denken“, sagt Julien, als er nach dem Täter gefragt wird. „Auch für sie muss die ganze Situation ganz schlimm sein.“ Er sagt, er habe schlecht geschlafen vor dem Gespräch. Julien ist aufgeregt.

Für Zeuge Julien war es schon vor dem Amoklauf ein schweres Jahr

„Dieses Jahr war sehr schwer für mich“, sagt er. „Im Januar ist mein Opa verstorben. Dann, auf den Tag genau zwei Wochen später, mein Vater. Ganz plötzlich. Mit 52 Jahren. Das hat mich schon sehr mitgenommen. Und dann kam der 9. März.“

Julien wirkt freundlich und zuvorkommend, zugleich nachdenklich und ruhig. „Ich habe bessere und schlechtere Tage. Heute ist einer der besseren, aber ich habe auch ganz schlechte“, gibt er offen zu. „Am schwersten fällt es mir, geduldig mit mir selbst zu sein. Aber ich möchte nicht Opfer meiner Umstände sein. Ich möchte einfach wieder zu Kräften kommen.“

Julien muss nach der Amoktat bei den Zeugen Jehovas weiter zu Kräften kommen – Laufen soll ihm dabei helfen.
Julien muss nach der Amoktat bei den Zeugen Jehovas weiter zu Kräften kommen – Laufen soll ihm dabei helfen. © HA | Marcelo Hernandez / FUNKE Foto Services

Julien: „Ich war noch nie so lange so sehr ohne Kraft“

Julien hat sich in therapeutische Behandlung begeben, genau wie seine Frau und die meisten Opfer, die den Anschlag überlebt haben. „Wir haben uns fest vorgenommen, jede Hilfe auch anzunehmen, um wieder zu Kräften zu kommen. Ich war noch nie so lange so sehr ohne Kraft“, sagt er. „Ich merke aber, dass es langsam bergauf geht.“

Er und seine Frau wohnen in Ohlsdorf. Julien ist Industriemechaniker bei Lufthansa Technik. Seit 2014 ist er in der Gemeinde in Winterhude, wo er auch seine Frau kennengelernt hat. 2018 haben die beiden geheiratet.

Amoktat von Alsterdorf: Ein Schrei rettet Juliens Leben

Am Tatabend haben sie die Aufgabe übernommen, nach der Versammlung die Toiletten im Eingangsbereich zu reinigen. Als er die ersten Schüsse hört und ebenfalls denkt, dass es Böller seien, will er noch zur Eingangstür gehen und draußen nach dem Rechten sehen. Kevins Schrei („Da schießt jemand“) rettet ihm womöglich das Leben.

Julien und seine Frau verschanzen sich dann mit anderen auf der Damentoilette. Dort vernehmen sie die Schüsse immer lauter. „Wir haben die Gefahr buchstäblich kommen gehört. Das war ein richtiger Klangteppich – und er riss nicht ab“, sagt Julien.

Bange Entscheidung nach Klopfton am Versteck

Mit dem Stiel eines Wischmobs verbarrikadieren er und vier andere Gemeindemitglieder die Tür zur Toilette. „Irgendwann hat jemand gegen die Tür gehämmert. Wir wussten nicht, ob das der Täter war oder nicht. Dann kam ein leiseres Klopfen, und dann haben wir die Tür geöffnet.“

Julien blickt auf die große Wiese des Stadtparks. In den Bäumen zwitschern die Vögel. Doch die scheint er nicht wahrzunehmen. Er spricht jetzt sehr konzentriert, er strengt sich an. „Ich hatte große Angst, die falsche Entscheidung zu treffen. Das hat mich zerrissen. Aber es war einer von uns. Von da an waren wir zu sechst. Wir waren so erleichtert, dass wir noch jemanden zu uns lassen konnten.“

Natürlich glaube auch er an das Versprechen der Bibel, an die Auferstehung. „Das schließt aber nicht aus, dass man Todesangst haben kann. Ich hatte große Sorge um die anderen. Das hat mich auch bei allen anderen sehr berührt. Jeder hat nicht nur an sich gedacht, sondern anderen geholfen, so gut er konnte.“

Jonathan wurde fünfmal getroffen, verlor dabei zwei Liter Blut

Das gilt wohl für jeden an diesem Abend und womöglich noch ein bisschen mehr für Jonathan. Der Mann mit dem festen Händedruck. Den hat er auch, als er sich Ende Juni erneut in einem Café in der HafenCity mit dem Abendblatt trifft.

Wieder lacht und erzählt Jonathan viel. Von seinen Kindern, sein Sohn ist 9, seine Tochter 13, von seiner Frau und der Entscheidung, als Familie aus Winterhude nach Pinneberg zu ziehen und trotz der räumlichen Distanz ihrer Gemeinde treu zu bleiben. „Unsere Gemeinde in Winterhude hat einen ganz besonderen Charakter.“

Jonathan erzählt auch vom Tatabend und von den dramatischen Stunden nach den Schüssen. Und von seiner Dankbarkeit, überlebt zu haben, trotz der fünf Kugeln im Körper und zwei Liter Blut, die er verloren hat.

Auf dem OP-Tisch mit letzter Kraft die Bluttransfusion abgelehnt

Die Zeugen Jehovas und das Blut. Gemäß ihrer Auslegung der Bibel ist Blut etwas Heiliges, mit dem umzugehen Gott vorbehalten ist. Bluttransfusionen werden deswegen abgelehnt – was sogar am Abend auf der Versammlung ein Themenschwerpunkt war. „Ich respektiere das ganz klare Gebot aus der Bibel: ,Enthaltet euch von Blut.‘ Das ist keine Auslegungssache für mich, das ist ein klares Gebot“, sagt Jonathan.

Während des Gottesdienstes ahnt er nicht, dass seine Einstellung nur wenig später einer harten Prüfung unterzogen wird. Mit letzter Kraft und voll mit Schmerzmitteln bringt er auf dem OP-Tisch in der Notfallaufnahme hervor, dass er keine Bluttransfusion möchte, „weil das gegen ein klares biblisches Gebot und damit meinen Glauben verstößt.“

Jonathan macht eine kurze Pause, als er sich daran erinnert. Dann sagt er „Das haben die Ärzte, die unglaublich toll waren, auch direkt akzeptiert.“ Ob er ohne fremdes Blut überleben würde, war ungewiss.

Hobbytaucher Jonathan wurde von fünf Kugel getroffen und verlor zwei Liter Blut – was den Zeugen Jehovas in der Notaufnahme in die Bredouille brachte.
Hobbytaucher Jonathan wurde von fünf Kugel getroffen und verlor zwei Liter Blut – was den Zeugen Jehovas in der Notaufnahme in die Bredouille brachte. © HA | Marcelo Hernandez / FUNKE Foto Services

Trotz Bauchschüssen ruft Jonathan noch die Polizei an

Es waren die ersten vier Schüsse des Amokläufers, die Jonathan treffen, allesamt in den Bauch. Er sackt zusammen. Irgendwie gelingt es ihm noch, die Polizei anzurufen. „Als ich dem Beamten alle Informationen mitgeteilt hatte, wurde es plötzlich still am Apparat“, erinnert sich Jonathan im Café in der HafenCity. „Da habe ich gefragt, ob er mich gehört habe? Der Beamte fragte dann, ob das tatsächlich Schüsse seien, die er die ganze Zeit im Hintergrund höre.“

Jonathan befand sich einen, vielleicht zwei Meter vom Täter entfernt. Er lag am Boden, unter dem Fenster, während Philipp F. immer wieder von draußen durch das Fenster in den Saal schoss. Jonathan überlegte, ob er einen Feuerlöscher am anderen Ende des Raums erreichen könnte. Doch dafür war er mittlerweile zu schwach. „Das Schlimmste für mich war nicht unbedingt, dass ich getroffen wurde und die damit verbundenen Schmerzen. Sondern, dass ich das Gefühl hatte, den anderen nicht helfen zu können.“

Die Dunkelheit und ein kühler Kopf als Lebensretter

Dann ging plötzlich im Saal das Licht aus – und Jonathan sah seine Chance gekommen. Ob Sebastian das Licht ausmachte und dabei erschossen wurde oder ob eine Kugel den Lichtschalter entscheidend traf, konnte später nicht einwandfrei rekonstruiert werden. Klar scheint aber, dass die plötzliche Dunkelheit im Saal die Leben mehrerer Menschen gerettet hat.

Vermutlich auch Jonathan, der noch immer nur einen bis zwei Meter vom Täter entfernt auf dem Boden kauerte. „Als mir klar war, dass ich ihn in meinem Zustand nicht entgegentreten kann, wollte ich den Saal verlassen. Ich habe dann im Kopf gezählt, bis er wieder nachladen musste.“ Immer 15 Schuss, dann nachladen. „Und in einer Nachladepause bin ich in den Vorraum gehumpelt.“

Philipp F. schießt auf Jonathan durch die Toilettentür

Es ist schließlich Kevin, der Jonathan in die Herrentoilette zieht. Doch sicher sind sie auch dort nicht. Philipp F. hat die beiden vermutlich gesehen und ist ihnen offenbar bis zur abgesperrten Toilettentür gefolgt. Er schießt mehrfach auf die Tür – und trifft erneut Jonathan. Ein Durchschuss durch den linken Oberarm, durch Lunge, Rippen und Rücken.

Eine andere Kugel schlägt über seinem Kopf ein. Metall trifft auf Stein, wie man es vielleicht vom Bohren kennt. Diesen Geruch habe er noch immer in der Nase, sagt Jonathan. Dann noch ein Schuss durch die sonst so starke Hand. Die Kugel splittert einen der schmalen Knochen, zertrümmert das gesamte Gelenk.

Die starke Taucherlunge war Jonathans großes Glück

„Meine Augen fielen langsam zu. Auch meine Atmung setzte aus. Aber ich versuchte mich dagegen zu wehren“, sagt Jonathan. „Ich spürte, wie ich innerlich am Verbluten war. Ich wusste, dass ich nicht aufhören durfte zu atmen.“ Kurz lächelt Jonathan. „Mir hat wahrscheinlich sehr geholfen, dass ich leidenschaftlicher Taucher bin.“

In seiner Freizeit nutzt Jonathan jede Möglichkeit zum Freitauchen und zum Schnorcheln. Gerne würde er irgendwann mit der ganzen Familie in die Karibik reisen, zum Tauchen. „Meine Lunge ist sehr stark“, sagt er. Möglicherweise hat sein Hobby ihm das Leben gerettet.

Überlebende wollen auch von den Todesopfern berichten

Für das letzte Gespräch hat er eigentlich nur eine Stunde Zeit, dann muss er wieder zur Arbeit. Doch Jonathan will die ganze Geschichte in Ruhe erzählen. „Ich hatte keine wirkliche Angst um mein Leben, aber ich hatte große Angst um meine Freunde, und ich wollte meine Familie nicht zurücklassen“, sagt er. Am Ende wird auch Jonathan an diesem Morgen knapp zwei Stunden berichten.

Eines ist Jonathan und den anderen fünf Menschen wichtig, die sich entschlossen haben, einmal öffentlich zu sprechen. Sie wollen auch von der ganzen Hilfe, die sie erfahren haben, berichten. Von ihrer Dankbarkeit. Und von den anderen Opfern, die Freunde für sie waren.

Alle freuten sich so sehr auf das Baby Romy

In Absprache mit den Familien erhielt das Abendblatt das Einverständnis, sie auch zu nennen. Lediglich bei einem Opfer baten die Hinterbliebenen darum, den Namen abzukürzen. Die sechs Zeugen erzählen von Sebastian, James und Marie, von Stephan, Dan und von S. – und von dem von allen so freudig erwarteten Baby Romy, das erst zwei Monate später auf die Welt kommen sollte. Sie berichten auch von den kleinen Schritten nach vorne, die sie seit dem Tod ihrer Freunde gemacht hätten. Und genauso von den Rückschritten, die es immer mal wieder gegeben hat.

„In den ersten Wochen danach waren wir noch extrem schreckhaft. Bei jedem lauten Knall zuckten wir zusammen“, sagt Kevin. Er erinnert sich an einen Einkauf bei Budnikowsky in der Fuhlsbüttler Straße. Ein lautes, aber harmloses Geräusch von der Straße – und schon kauerten er und Mary an der Kasse auf den Boden. „Natürlich hatte ich auch Albträume“, sagt Mary.

Marcel musste alle Witwen der Zeugen Jehovas anrufen

Nur Marcel hatte die nicht. Er konnte sogar in der ersten Nacht danach durchschlafen. Als ausgebildeter Seelsorger meldet er sich als Einziger der betroffenen Gemeinde zwei Tage später freiwillig in einer Zoom-Konferenz, um anderen Hinterbliebenen zu helfen. Er übernahm es, alle Witwen jener Männer anzurufen, die den Amoklauf nicht überlebt hatten.

„Ich war in den Tagen danach voll im Aktionsmodus“, sagt Marcel. „Bei Fee war das anders. Das habe ich aber erst gemerkt, als wir bei einer Freundin waren und der DHL-Bote klingelte.“ Er wollte ihm aufmachen, Fee wollte das nicht. Als der Bote ein zweites Mal klingelte, ging Marcel doch zur Tür. „Da sagte Fee: ,Der schießt durch die Tür, und dann sind wir alle tot.‘ Da habe ich erst verstanden, wie es ihr gerade ging.“

„Ich war voll im Aktionsmodus“: Als ausgebildeter Seelsorger übernahm Marcel die Anrufe bei den hinterbliebenen Frauen der männlichen Opfer.
„Ich war voll im Aktionsmodus“: Als ausgebildeter Seelsorger übernahm Marcel die Anrufe bei den hinterbliebenen Frauen der männlichen Opfer. © HA | Marcelo Hernandez / FUNKE Foto Services

Fee hatte Angst, war traumatisiert. „Wir haben in der Woche nach dem Attentat die Nummer gewählt, die uns am Abend im Polizeikommissariat die Seelsorger gegeben haben“, sagt Fee. „Wir wollten etwas für unsere psychische Gesundheit tun.“

Marcel streichelt seiner Frau über den Rücken. Fee und er nehmen jetzt gemeinsam Gesangsunterricht. Einmal die Woche. Jeden Montag um 18 Uhr. Sie tanzen auch. Im eigenen Wohnzimmer, in der Küche. „Es geht langsam bergauf. Nicht steil, aber stetig“, sagt er.

Mary: „Ohne diesen Glauben wäre ich wahrscheinlich daran zerbrochen“

Ähnlich ordnen das auch Kevin und Mary ein. „Die ersten Male, als ich darüber erzählt habe, habe ich am ganzen Körper gezittert und viel geweint. Aber je öfter ich das tat, desto besser ging es mir“, sagt Mary. „Uns hilft auch, dass wir fest an die Auferstehung glauben. Wir werden all unsere Freunde bald hier auf der Erde wiedersehen. Daran glauben wir ganz fest. Ohne diesen Glauben und diese Hoffnung wäre ich wahrscheinlich daran zerbrochen.“

Therapeutische Hilfe haben Kevin und Mary dennoch angenommen – genauso wie Fee und auch Julien. „Trotzdem merke ich noch immer, dass meine Konzentration gelitten hat“, sagt Julien. Sogar eine einfache E-Mail schreiben falle ihm manchmal schwer. Und auch die Nächte seien noch hart. „Gerade am Anfang konnte ich kaum mal durchschlafen, ich hatte viele Albträume, das wird jetzt langsam besser.“ Mit Dunkelheit hat er weiterhin Schwierigkeiten. Seine Frau wiederum stört vor allem, dass ihre Wohnung im Erdgeschoss liegt. „Deswegen überlegen wir jetzt, die Wohnung zu wechseln und umzuziehen.“

Wichtige Unterstützung: Nach dem Amoklauf von Alsterdorf zeigten Zeugen Jehovas aus aller Welt ihre Anteilnahme.
Wichtige Unterstützung: Nach dem Amoklauf von Alsterdorf zeigten Zeugen Jehovas aus aller Welt ihre Anteilnahme. © FUNKE Foto Services | Marcelo Hernandez / FUNKE Foto Services

Jonathan verzichtet vorerst auf therapeutische Hilfe. „Mir hat es geholfen, dass ich von Anfang an offen über alles reden konnte. Die Tat war bei mir nie in irgend­einer dunklen Schublade, die ich nicht mehr aufmachen konnte.“ Er habe auch nie Albträume gehabt. Und trotzdem: „Die Trauerverarbeitung wird noch lange dauern, mir fehlen unsere Freunde sehr. Aber ich habe zurzeit kein seelisches Trauma.“

Soziologe: Gemeinschaft der Zeugen Jehovas bietet Trost

Thomas Hobel ist kein Traum- oder Traumaforscher, sondern Soziologe. Der Wissenschaftler vom Hamburger Institut für Sozialforschung ist beeindruckt von Jonathans Geschichte – und auch von den anderen Reaktionen der Überlebenden. Er sitzt in einem Café in der Schanze, als er die Geschichten der Opfer und der Hinterbliebenen erzählt bekommt.

Seine These: Die bereits vorhandenen Sozialbeziehungen und das sehr enge Miteinander der Glaubensgemeinschaft haben geholfen, dass ein Großteil der Betroffenen den Amoklauf in außergewöhnlicher Art und Weise verarbeiten konnten. „Das ist etwas, das bei den Zeugen Jehovas besonders hervorsticht“, sagt er. „Sie bieten eine Gemeinschaft und religiöse Weltauffassungen, die zwar mit einer recht starken Grenzziehung zu Nichtmitgliedern einhergehen, hier aber eine bedeutsame Ressource bieten, um Trost und Gespräche zu finden.“

Auch Hobel ist aufgefallen, dass nach Amokläufen vor allem nach Tätern geforscht wird, weniger nach den Opfern. Bei den Zeugen Jehovas meint er erkannt zu haben, dass sie offenbar eine gemeinsame Sprache gefunden hätten, „um das Erlebte zu begreifen und einzuordnen.“

Zeugen Jehovas wollen den Opfern gerecht werden

Doch genau diese Sprache ist es, die der Gruppe nach den ersten Gesprächen auch Angst macht. Die Verabredung ist, dass sie alle Zitate, die in den Gesprächen gesagt wurden, zur Autorisierung noch einmal vorgelegt bekommen. Und als die sechs dann wirklich schwarz auf weiß lesen, worüber sie in den langen Gesprächen so ausführlich berichtet haben, spüren sie auch eine Sorge. Sie wollen vor allem den Opfern gerecht werden, zugleich aber auch die Überlebenden nicht mit ihren Aussagen retraumatisieren.

Bei dem letzten Treffen in der Redaktion des Abendblatts, wo auch die Fotos gemacht werden, sollen letzte Zweifel ausgeräumt werden. „Für mich war es sehr schwierig, das Chaos in meinem Kopf zu ordnen“, sagt beispielsweise Julien. „Ich durchlebe die unterschiedlichsten Gefühle.“ Er läuft jetzt wieder mehr. 2017 ist er mit seinem Vater zusammen einen Marathon gelaufen. Nun geht er mit dessen Laufschuhen wieder öfters im Stadtpark joggen. Das Rennen hilft ihm. „Wichtig ist mir bei alledem, was passiert ist, nicht zu verbittern. Das gibt mir innere Ruhe.“

Fee und Marcel: „Es wird immer länger her sein“

Das finden auch Fee und Marcel. „Es wird immer länger her sein“, sagt Marcel. Knapp vier Monate nach dem Attentat stehen sie mit Mary, Kevin und Julien auf der Dachterrasse der Abendblatt-Redaktion. Nur Jonathan hat sich kurzfristig entschuldigen lassen, er hat einen plötzlichen beruflichen Termin. Man sieht von hier aus das Rathaus, die Elbphilharmonie, den Hafen – und ganz in der Ferne kann man auch Winterhude und Alsterdorf erahnen.

Es wird viel geredet und gelacht. Man erinnert sich an die Verstorbenen und ist vielen dankbar, der Gemeinde, der Familie, Nachbarn, Arbeitskollegen, den Behörden, der Polizei. Mary hatte zuletzt keine Albträume mehr, Kevin geht weiterhin bei Budnikowsky einkaufen. Fee freut sich auf den baldigen Urlaub, Marcel auf seine nächste Gesangsstunde. Und Julien hat noch immer schlechte und bessere Tage, aber die besseren werden immer mehr.

Fünf Kugeln haben mehrere innere Organe von Jonathan zerfetzt

Jonathan kommt wenige Tage später zum Fototermin. Insgesamt 15 Narben auf seinem Körper erinnern ihn täglich daran, was er und seine Freunde durchgemacht haben. Fünf Kugeln haben mehrere Organe zerfetzt. Ein Stück von der Lunge musste entfernt werden. Er war auf der Intensivstation, wochenlang im Krankenhausbett und in der Rehaklinik. Er hat in der Nacht eine Bluttransfusion abgelehnt – und nach der sechsstündigen Not-OP am nächsten Vormittag seine Frau umarmt und geweint.

„Ich sah schon sehr schlimm aus“, sagt er. Eine Toraxpumpe übernahm die Arbeit der Lunge, mehrere Drainagen leiteten Körperflüssigkeiten ab. „Die Ärzte haben meiner Frau nicht gesagt, dass alles gut werde. Sondern nur, dass ich stabil sei. Das war die Wahrheit – und das war auch gut so.“

Drei Monate nach der OP war Jonathan mit Freunden auf einem Segelboot unterwegs, auf der Ostsee. Zehn Kilo hatte er abgenommen. Trotzdem wagte er erstmals wieder einen Tauchgang. Er ist untergegangen, fünf Meter tief. Und er ist auch wieder aufgetaucht. Es fühlte sich gut an, sagt Jonathan. Lebendig.