Hamburg. Rassistisches Verbrechen in Hamburg schlug 1985 deutschlandweit hohe Wellen. „Stück für Stück wurde das Leben aus ihm herausgetreten.“

Sie schlugen erbarmungslos zu, immer wieder. Zu fünft traktierten sie ihr wehrloses Opfer, bis der junge Mann sich nicht mehr rührte und schließlich wegen schwerster Kopfverletzungen starb. Dieser Fall aus dem Jahr 1985 in Hamburg zeichnet sich durch besondere Brutalität aus – aber auch wegen seiner außerordentlichen Tragik. Und er hatte eine politische Dimension.

„Die Täter waren Skinheads, die ihr Opfer allein deshalb traktierten, weil er Ausländer war“, erzählt Gerichtsreporterin Bettina Mittelacher in „Dem Tod auf der Spur“, dem Crime-Podcast des Hamburger Abendblattes mit Rechtsmediziner Klaus Püschel. 27 Jahre nach der Tat wurde nach dem Opfer sogar ein Platz in Hamburg benannt. „Es war eine Tat, die die Stadt Hamburg und sogar ganz Deutschland aufgewühlt hat und unter dem Thema ,Ausländerhass‘ hohe Wellen schlug“, ergänzt Experte Püschel.

Verbrechen Hamburg: Fünf Skinheads schlugen einen jungen Mann tot

„Die Tat ereignete sich drei Tage vor Weihnachten im Jahr 1985. Damals wurde ein 26-Jähriger von fünf wütenden Männern brutal getötet“, erinnert sich Jurist Wolfgang Backen, der damals zusammen mit Kollegen den Fall verhandelt hat. Backen war in den letzten neun Jahren seiner jahrzehntelangen Richterkarriere Vorsitzender einer Schwurgerichtskammer und hat über einige der prägnantesten Fälle in seinen beiden True-Crime-Büchern „Das Leben ist zerbrechlich“, Band 1 und 2, geschrieben.

Bis zu jenem 21. Dezember 1985 war das Leben für das spätere Opfer Ramazan Avci positiv verlaufen. Der junge Mann, der zwei Jahre zuvor von der Türkei mit seinem Vater und zwei Brüdern nach Deutschland immigriert war, hatte eine Arbeit als Putzhilfe gefunden. Er war verlobt, wollte heiraten und seine Freundin war von ihm schwanger. Doch dann änderte sich alles im wahrsten Sinne des Wortes schlagartig. „Am Ende lag der 26-Jährige mit schwersten Verletzungen auf der Straße, wurde dann zwar noch ins Krankenhaus transportiert und dort notoperiert“, erzählt Jurist Backen. „Doch sein Leben war trotz bester ärztlicher Kunst nicht zu retten.“

Der Vorplatz am S-Bahnhof Landwehr heißt seit 2012 Ramazan-Avci-Platz. Avci war von jungen Männer aus der rechten Skinheadszene angegriffen worden.
Der Vorplatz am S-Bahnhof Landwehr heißt seit 2012 Ramazan-Avci-Platz. Avci war von jungen Männer aus der rechten Skinheadszene angegriffen worden. © picture alliance / dpa | Angelika Warmuth

Ramazan Avci war an jenem Abend gemeinsam mit seinem Bruder und einem türkischen Freund unterwegs, um sein Auto zu einem Gebrauchtwarenmarkt im Osten Hamburgs zu bringen. Er wollte das Fahrzeug am nächsten Morgen verkaufen und von dem Geld unter anderem ein Kinderbett anschaffen. Auf dem Rückweg mussten sie an der S-Bahn-Station Landwehr für den Nachhauseweg in einen Bus umsteigen. Die Haltestelle lag in der Nähe der Eckkneipe „Landwehr“, damals ein Treffpunkt der Skinheads.

Skinheads waren in den 1980er-Jahren auch in Hamburg aktiv

„Die Skinheads waren in den 1980er-Jahren in Hamburg und anderen deutschen Städten sehr aktiv“, erinnert Püschel. „Sie waren meist in hohem Maße ausländerfeindlich eingestellt. Ihre äußeren Merkmale waren kahl geschorene Schädel, Stiefel und Bomberjacken.“ Ende 1985, also zu der Zeit, als sich die Tat ereignete, gab es in Hamburg ungefähr 60 Skinheads, die fremdenfeindlich eingestellt waren und dabei vor allem Farbige und Menschen südländischer Herkunft ablehnten.

Als Ramazan Avci und seine Begleiter die Kneipe „Landwehr“ passierten, wurden sie von mehreren Skinheads beobachtet, die wegen einer Auseinandersetzung, die sie am Vortag mit mehreren Südländern ausgetragen hatten, noch besonderen Groll hegten. Die Skinheads traten mit bedrohlicher Miene auf die drei Männer zu. Die Situation erschien Avci so prekär, dass er Reizgas in Richtung der Angreifer sprühte. Daraufhin folgten die Skinheads den drei Männern, die sich ihrerseits nun in einem Bus in Sicherheit bringen wollten. Zwei von ihnen gelang dies. Doch beim Überqueren einer mehrspurigen Straße wurde der 26-jährige Avci von einem Auto touchiert. Sein Schienbein wurde gebrochen, sodass er auf der Straße stürzte und liegen blieb.

Skinheads traktierten Opfer in Hamburg mit Knüppeln, einer Axt und Fußtritten

Nun attackierten die Skinheads den hilflosen Mann. Mitleidlos fielen sie über den Benommenen und Verletzten her. Sie traten ihn mit Füßen und hauten mit einem Gummiknüppel und einem Axtstiel, mit denen sich zwei aus der Gruppe vorher bewaffnet hatten, auf ihr am Boden liegendes Opfer ein. Dabei trafen sie ihn am ganzen Körper. Das Opfer erlitt schwerste Verletzungen unter anderem am Kopf, denen er später im Krankenhaus trotz mehrere Notoperationen erlag.

Der True-Crime-Podcast „Dem Tod auf der Spur“ mit Rechtsmediziner Klaus Püschel und Gerichtsreporterin Bettina Mittelacher
Der True-Crime-Podcast „Dem Tod auf der Spur“ mit Rechtsmediziner Klaus Püschel und Gerichtsreporterin Bettina Mittelacher © Hamburger Abendblatt | Hamburger Abendblatt

Zu Silvester 1985, also eine Woche nach dem Tod von Ramazan Avci, nahmen circa 300 Menschen auf dem Ohlsdorfer Friedhof Abschied von dem Verstorbenen. 100 Autos folgten dem Leichnam zum Hamburger Flughafen. Von dort wurde er nach Ankara geflogen. Am 2. Januar 1986 erfolgte die Beisetzung in Avcis türkischem Heimatort. Und wiederum zwei Tage später, am 4. Januar, wurde das Kind von Ramazan Avci geboren. Es musste ohne seinen Vater aufwachsen. Am 11. Januar 1986 zogen etwa 10.000 Demonstranten vom Bahnhof Landwehr zum Tatort und dann weiter in die Innenstadt. Viele hatten Plakate dabei, auf denen stand: „Wir haben das Recht zu bleiben“ und „Freundschaft statt Feindschaft“.

Skinheads schlugen in Hamburg Mann tot: Ein Puzzle aus Zeugenaussagen

Wegen der gewalttätigen Attacke auf Ramazan Avci vom 21. Dezember 1985 mussten sich rund fünf Monate später fünf Angeklagte vor Gericht verantworten. Ihnen wurde unter anderem Totschlag vorgeworfen. „Bei so einem dynamischen Geschehen mit mehreren Beteiligten ist es doch sicher schwierig, herauszufinden, wer genau was gemacht hat“, überlegt Mittelacher. „Tatsächlich ging bei der Attacke alles sehr schnell, und die Sichtverhältnisse waren trotz der Straßenlampen bescheiden“, erklärt Richter Backen. Die Kammer mit dem damaligen Vorsitzenden Richter, Backen als Beisitzer, einem weiteren Berufsrichter sowie zwei Schöffen hätten „in dem Prozess einige Leute als Zeugen gehört, die die Geschehnisse auf der Straße beobachtet hatten“. Und daraus setzte sich dann wie in einer Art Puzzle zusammen, was damals passiert war.

„Wir mussten die individuelle Schuld jedes Angeklagten prüfen“, erläutert Jurist Backen. Die Fragen waren unter anderem: Wer hatte wie oft geschlagen und getreten? Wer hatte eine Waffe oder Ähnliches in der Hand? „Wir konnten es uns nicht so einfach machen, wie es viele der Zuhörer wollten, für die von Anfang an klar war, dass alle Angeklagten wegen Mordes ihr weiteres Leben im Knast verbringen müssten.“ Für die Zeugen war es in der Gerichtsverhandlung kaum oder gar nicht möglich, die einzelnen Täter auseinanderzuhalten.

Opfer erlitt schwerste Kopfverletzungen. Diese waren laut Experten „lebensverkürzend“

Einige Details der Tat konnten gleichwohl zweifellos festgestellt werden. So wurde beispielsweise deutlich, dass einer der Angreifer mindestens viermal mit dem Fuß kräftig in den Brustkorb und in die Magengegend von Ramazan Avci getreten hatte. Ein anderer schlug ihm mit seinem Gummiknüppel mindestens zweimal auf den Körper und die Arme. Ein dritter Täter schlug mit einem Axtstiel mehrmals auf Avci ein. Mindestens ein harter Schlag gegen den Schädel führte dort zu einer Fraktur. Und ein weiterer Mann setzte sein Bein auf den gebrochenen Schädel und drehte seinen Fuß mehrfach hin und her. Dann flüchteten alle Angreifer.

„In der Rechtsmedizin wurde später festgestellt, dass bei dem Angriff hauptsächlich der Kopf des Opfers traktiert worden war“, erklärt Püschel. „Dabei ergaben sich an inneren Verletzungen ein Schädeldachtrümmerbruch. Die Trümmer waren zum Teil übereinander verschoben worden. Darüber hinaus erlitt das Opfer zahlreiche Gesichtsschädelbrüche. Alle Tätlichkeiten der Angeklagten, die den Kopf des Opfers betrafen, wirkten lebensverkürzend, wie wir Rechtsmediziner das nennen.“ „Und das Opfer hat das alles bewusst miterlebt?“, möchte Mittelacher wissen. „Muss er nicht entsetzliche Schmerzen erlitten haben?“ „Nicht ausschließbar führte der erste den Kopf treffende Hieb mit dem Axtstiel zur sofortigen Bewusstlosigkeit des Opfers“, meint Püschel.

Wahrscheinlich wurde das Opfer nach dem ersten Hieb bewusstlos

„Ein ganz zentraler und heikler Punkt des Verfahrens war die Frage nach den Motiven der Angeklagten“, legt Jurist Backen dar. „Niedrige Beweggründe, wie Ausländerhass, hätten zu einer Verurteilung wegen Mordes führen können. Ob es sich um Mord oder Totschlag handelte, darüber wurde nicht nur in der Hauptverhandlung, sondern auch außerhalb hitzig debattiert.“ Für viele Menschen habe damals schon vor dem Strafprozess festgestanden, „dass es sich bei den Angeklagten um Neonazis handelte, die immer nur aus Ausländerhass töteten“, so Backen. „Andere Motive hatten in ihren Köpfen keinen Platz.“

Das, was die Angeklagten damals jeweils selber gesagt haben, sei augenscheinlich im Wesentlichen davon geprägt gewesen, „dass man die Hauptschuld beziehungsweise den wesentlichen Tatbeitrag anderen zuschieben wollte“. Immer wieder betonten die Angeklagten zudem, dass sie nichts gegen Ausländer hätten und nicht zu den Skinheads gehörten.

Zeuge: „Das macht man nur, wenn man jemand totschlagen will“

„Bei den Zeugen gab es doch damals unter anderem einen 19-Jährigen, der die Tat beobachtet hatte“, sagt Mittelacher. Er erzählte: „Sie schlugen mit Stöcken auf ihn ein.“ Ramazan Avci habe „die Arme über den Kopf gehalten und war total wehrlos.“ Und ein weiterer Beobachter schildert: „Einer schlug mit nem Knüppel oder so – das kann man nur machen, wenn man jemand totschlagen will.“

Als wenn man jemanden totschlagen wolle. Entsprechend hat die Staatsanwaltschaft nach dem Ende der Beweisaufnahme plädiert: Ein 21-Jähriger sollte zwölf Jahre Freiheitsstrafe bekommen. Für zwei 18-Jährige und einen 19-Jährigen forderte der Ankläger nach dem Jugendstrafgesetz je achteinhalb Jahre Haft wegen Totschlags und versuchter gefährlicher Körperverletzung. Für einen 24-Jährigen plädierte der Staatsanwalt auf fünf Jahre Freiheitsstrafe wegen schwerer Körperverletzung mit Todesfolge. Über die Tat sagte der Staatsanwalt, die „Hirnschale des Opfers wurde in fünf-Mark-große Stücke zerhauen. Stück für Stück wurde das Leben aus ihm herausgeschlagen und -getreten“.

Staatsanwalt: Das Leben wurde aus dem Opfer „herausgetreten“

Das Gericht verurteilte schließlich zwei der Angeklagten, denen ein Tötungsvorsatz nachzuweisen war, wegen Totschlags. Ein 21-Jähriger erhielt zehn Jahre Freiheitsstrafe, der andere eine Jugendstrafe von sechs Jahren. Ein weiterer Erwachsener, der sich gewissermaßen nur am Rande an der Tat beteiligt hatte, kam mit einem Jahr Freiheitsstrafe wegen gemeinschaftlicher gefährlicher Körperverletzung davon. Zwei 18-Jährige, die nach dem Jugendgerichtsgesetz zu behandeln waren, wurden wegen gemeinschaftlicher Körperverletzung mit Todesfolge zu jeweils drei Jahren und sechs Monaten Jugendstrafe verurteilt. „Letztlich war bei den beiden kein Tötungsvorsatz nachweisbar, sondern lediglich ihre Absicht nachweisbar, das Opfer zu verletzen“, erklärt Backen.

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„Sicherlich stellt sich für manchen die Frage, warum keine Verurteilung wegen Mordes infrage kam?“, überlegt Püschel. „Es gibt doch das Mordmerkmal der Grausamkeit. Kam das hier nicht in Betracht? War die Tat also nicht – das klingt jetzt vielleicht zynisch – ,brutal‘ genug?“ Dieser Aspekt habe das Gericht damals sehr intensiv beschäftigt, bekennt Backen. „Die Täter handelten gefühllos und unbarmherzig, keine Frage. Aber erforderlich ist auch, dass das Opfer die Schmerzen oder Qualen spürt.“ Und dies sei „äußerst fraglich“ gewesen, denn Avci war möglicherweise bereits bewusstlos und konnte keinen Schmerz mehr empfinden.

Eine Tat gilt dann als grausam, wenn das Opfer länger leidet

„Wir sind an Recht und Gesetz gebunden“, erinnert Backen. „Und da heißt es, dass eine Tat dann als grausam gilt, wenn das Opfer länger leidet. Nach diesen juristischen Maßstäben lag also hier kein Mord vor, weil die Grausamkeit nicht gegeben war.“

Eine weitere Frage, mit der sich das Gericht auseinandersetzen musste, war die, ob ein weiteres Mordmerkmal, nämlich der „niedrige Beweggrund“, vorlag. Das wäre dann der „Ausländerhass“. „Aber dies führte nicht zur Annahme eines Mordes, da der Ausländerhass im Vergleich mit den anderen Motiven keineswegs dominierte.“ Es habe ein sogenanntes „Motivbündel“ vorgelegen, erläutert Backen. Unter anderem, weil die Angeklagten die damalige Attacke mit dem CS-Gas rächen wollten. Bei der Tatausführung habe zudem – wie so oft, wenn mehrere jüngere Täter zusammenwirken – die Gruppendynamik eine große Rolle gespielt.

True Crime Hamburg: Skinheads schlugen Mann tot – „Der Prozess ist kein Tribunal“

„Nur wenn der Ausländerhass das Hauptmotiv gewesen wäre, hätte nach ständiger Rechtsprechung eine Verurteilung wegen Mordes erfolgen müssen“, führt der Jurist aus. „Eine Rangfolge der Motive konnten wir aber nicht feststellen. Es blieb daher beim Totschlag.“

Zur grundsätzlichen Problematik des Prozesses hatte der damalige Vorsitzende Richter Petersen schon zu Beginn seiner Urteilsbegründung Stellung genommen. Im Hinblick auf die Einstufung des Verfahrens als politischer Prozess sagte er: „Wer glaubt, erwartet oder will, dass in einem Strafprozess politische Vorstellungen durchgesetzt werden und Einfluss auf die Entscheidung des Gerichts nehmen will, steht nicht auf dem Boden des Rechtsstaates. Der Prozess ist kein Tribunal, um ein gewünschtes Ergebnis zu bestätigen. Jeder Angeklagte ist nach seiner konkret festgestellten Schuld zur Verantwortung zu ziehen.“ Nach Ramazan Avci wurde später ein Platz an der Landwehr benannt – dort wo er starb.

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