Hamburg. Am 17. Januar 2023 starb auf den Gleisen in Allermöhe eine 18-Jährige. So geht es ihrer hinterbliebenen Zwillingsschwester und den Eltern.
- Am 17. Januar 2023 stirbt auf den Gleisen in Hamburg-Allermöhe eine 18 Jahre junge Frau
- Sie wird von einem Zug erfasst, als sie mit ihrer Zwillingsschwester ein Video für TikTok drehen will
- Während die eine Heranwachsende getötet wird, überlebt ihre Schwester schwer verletzt
- 15 Monate später kämpfen die Überlebende sowie ihre Eltern weiter mit dem Trauma
- Zu den Themen TikTok und Zug-Surfen hat die inzwischen 19-Jährige eine klare Haltung
Es gibt sie ab und zu, die kurzen Phasen, in denen Maria die tiefe Trauer abschütteln kann. Wenn von ihrem Hund Toby die Rede ist. Wenn die 19-jährige Hamburgerin mit dem kleinen Tier auf dem Sofa kuschelt. In solchen Momenten blitzt hinter der Melancholie wieder ein wenig von der früheren Maria durch. Eine junge Frau, die lebhaft und fröhlich war, die sich endlos mit ihrer Zwillingsschwester unterhalten und ebenso einträchtig mit ihr schweigen konnte. Sie waren ein Team, eine feste Einheit.
So beschreiben jedenfalls die Eltern von Maria ihre Tochter und deren Zwillingsschwester Sandra. Das sei früher so gewesen, vor dem entsetzlichen Unglück, das vor 15 Monaten die Zwillinge auseinanderriss und seitdem tiefschwarze Schatten über das Leben der ganzen Familie wirft.
Ein Zug hatte die beiden damals 18-Jährigen in Hamburg-Allermöhe erfasst, als die Schwestern wieder mal ein Video für die Internetplattform TikTok drehen wollten. Die jungen Frauen hatten ein Filmchen geplant, das andere „cool“ finden würden und ihnen möglichst viel Zustimmung bescheren sollte. Doch am Ende stand nach dem Zugunfall statt der begehrten „Likes“ nur noch unfassbar großes Leid.
Zwillinge von Zug erfasst: Das Leid ist überwältigend
Sandra starb am Rande der Gleise. Maria überlebte schwer verletzt. Erst lag sie im Koma, dann wochenlang auf der Intensivstation. Die Hamburgerin wurde mehrfach operiert. Bis heute ist das Gehen mühsam und vor allem schmerzhaft. Und wie sie da so im Wohnzimmersessel ihres Zuhauses in Hamburgs Süden kauert, mit traurigen Augen und hängenden Schultern, wird deutlich, wie bedrückend sich das Leben für die junge Frau auch mehr als 15 Monate nach dem Unglück anfühlt.
„Das Schlimmste ist“, sagt Maria, „dass meine Schwester nicht mehr da ist. Wir haben immer alles zusammen gemacht“, erzählt sie über sich und ihre Zwillingsschwester. Bis heute habe sie noch nicht zu Sandras Grab gehen können. „Ich möchte bald hin. Aber bislang konnte ich das nicht ertragen. Ich vermisse sie so sehr!“
TikTok hat keinen Platz mehr im Leben der Zwillingsschwester
Der Kummer raubt fast alle ihre Energie. „Früher war sie eine lebhafte junge Frau“, erzählt Marias Vater Matthias Waller (alle Namen der Familie geändert) über seine Tochter. Jetzt, da mit dem Verlust der Zwillingsschwester das Gegenstück fehlt, „sitzt sie da wie ein Häufchen Elend“. Er selber, erzählt der Hamburger, versuche die Trauer über den Verlust von Sandra und das Leid von Maria „mit mir selber auszumachen“. Doch das Elend ist dem 64-Jährigen anzusehen.
Auch in dem Gesicht von Marias Mutter Anke Waller hat der Schmerz seine Spuren hinterlassen. Sie bemühe sich, meint die Hamburgerin, „nach außen stark zu sein. Aber innerlich weint es in mir“. Und über Maria sagt die Mutter: „Es geht ihr wirklich immer noch sehr schlecht. Aber sie kämpft sich langsam zurück ins Leben.“
Ein Leben, in dem die scheinbar unbegrenzte Welt von TikTok heute keinen Platz mehr haben soll. Ganz anders als früher, als Maria und Sandra noch viel auf der Internetplattform unterwegs waren und für Aufmerksamkeit und Zustimmung alle möglichen Wagnisse in Kauf nahmen. Sie hängten sich hinten an Züge oder sprangen erst im letzten Moment, wenn eine Bahn heranraste, von den Gleisen. Der Kick war, von den gefährlichen Szenen kleine Videos zu drehen, die sie auf TikTok posteten.
Traumatisierte 19-Jährige appelliert: „Fürs Internet zu filmen ist nicht cool!“
Die „Likes“, die sie dafür erhielten, schienen es ihnen wert, das Risiko einzugehen. Sie hielten es für kalkulierbar. Es war ja auch eine Weile gut gegangen. Bis sie eines Tages nicht mehr rechtzeitig den Schritt zur Seite machen konnten – und das Leben plötzlich in Trümmern lag. Auf die denkbar schmerzhafteste Weise wurde Maria Waller bewusst, dass sie immer wieder das Schicksal herausgefordert hatte. Bis es unbarmherzig zuschlug.
Heute sagt die 19-Jährige mit Nachdruck, dass das „Scheiße war, was wir gemacht haben. Wir haben die Gefahren nicht bedacht. Dabei ist es viel zu risikoreich.“ Ihr sehr ernst gemeinter Rat an andere sei, „nicht so gefährliche Sachen zu machen“, warnt Maria. Ihr sonst so trauriger Blick wird plötzlich eindringlich, als sie erklärt: „Auf Züge raufzuklettern oder erst im letzten Moment wegzuhechten und das fürs Internet zu filmen, ist nicht cool, sondern dumm.“ Der eindringliche Appell der 19-Jährigen an andere: „Begebt euch nicht in Gefahr! Zug-Surfen ist unglaublich gefährlich! Ebenso ist es lebensgefährlich, euch in die Gleise zu begeben. Fangt damit gar nicht erst an!“ Sie selber habe TikTok nicht mehr. „Der ganze Mist, der da passiert, ist ...“
Tödliche TikTok-Challenge: „Ich habe um Hilfe geschrien“
Was die blasse junge Frau meint, sind die Ereignisse vom 17. Januar vergangenen Jahres, als sie und Sandra an den Gleisen standen, der Zug heranraste, sie erfasste. Als es einen Knall gab, Maria ohnmächtig wurde, wenig später wieder zu sich kam und sah, dass alles voller Blut war. „Ich konnte nicht aufstehen. Ich habe um Hilfe geschrien“, erinnert sich Maria. „Und mein Bein war weggeknickt. Ich hatte solche Schmerzen!“
Die 18-Jährige hatte massive Verletzungen am linken Bein, von der Hacke bis zum Becken, Knochen und Muskulatur waren schwer geschädigt. „Und die Ärzte haben mir gesagt, dass ich fast verblutet wäre.“ Ihre Sorge galt indes vor allem ihrer Schwester. Dass Sandra noch an den Gleisen gestorben war, erfuhr Maria erst Tage später. Eine ganze Weile hatte ihr niemand die bittere Wahrheit mitteilen wollen. Man wollte sie vor der schlimmsten Wucht des Leids schützen. Denn Schmerzen hatte sie ohnehin im Überfluss.
Zwillingsschwester weiter viel am Handy – „aber nicht mehr bei TikTok“
Das Leid ist bis heute allgegenwärtig, physisch und vor allem psychisch. Nach mehreren Monaten im Krankenhaus, wo vor allem die schwersten Verletzungen an Bein und Hüfte behandelt wurden, kam Maria in ein psychiatrisches Krankenhaus. Dort ist sie, mit mehreren Unterbrechungen, bis heute. „Es gibt immer noch viele schlechte Tage. Meine Schwester fehlt immer und überall. Ich habe auch häufig Albträume“, erzählt die 19-Jährige. „Ich träume, dass mich jemand verfolgt, und ich muss mich verstecken.“
Mittlerweile wird Maria jeden Tag von der Mutter aus der Klinik tagsüber für ein paar Stunden nach Hause geholt. Damit soll erreicht werden, dass die junge Frau sich wieder ein wenig eingewöhnen kann. Sie verbringe weiter viel Zeit am Smartphone, erzählt die 19-Jährige. „Aber nicht mehr bei TikTok.“ Sie habe ein neues Handy, viele der Nummern zu früheren Kontakten seien gelöscht. Denn da seien auch welche dabei gewesen, die sie seinerzeit zu immer waghalsigeren Drehs für TikTok ermuntern wollten. „Heute nutze ich eher YouTube, gucke lustige Filme, höre Musik.“
Überlebende Zwillingsschwester will Busfahrerin werden
Die Stunden zu Hause sind auch wichtig, weil Maria hier gelegentlich ihre Trauer verdrängen kann, für einige kostbare Augenblicke. Beispielsweise, wenn sie sich über die Gesellschaft des Familienhundes freut. Und weil sie sich mit dem Tier zu kleinen Spaziergängen aufraffen kann. „Ich schaffe inzwischen eine Parkplatzrunde“, erzählt Maria. „Ich möchte so gern wieder normal gehen können. Ich würde auch gern mal wieder Fahrrad fahren.“ Ihr Ziel sei es auch, den Führerschein zu machen. Später will Maria Busfahrerin werden.
Um wieder auf die Beine zu kommen, in jeder Hinsicht, sollen Bewegungstherapie, Gesprächs- und Ergotherapie helfen. Und in diesem Monat steht eine weitere Operation an, die Maria ihrem Ziel, nicht mehr zu humpeln, deutlich näher bringen soll. Den Eingriff wird Prof. Dr. Dr. Marco Blessmann, Leiter der Abteilung für Plastische, Rekonstruktive und Ästhetische Chirurgie am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf (UKE) vornehmen.
Blessmann hat schon häufiger Menschen, die beispielsweise durch Unfälle oder Messerverletzungen schwerste körperliche Defekte erlitten hatten, durch aufwendige Eingriffe unter anderem mit Muskel- und Hauttransplantationen helfen können. Dabei konnte der Mediziner erreichen, dass die Patienten nach Schicksalsschlägen ihre Beweglichkeit und ein ästhetisches Aussehen zurückerhielten – und damit auch Lebensqualität gewannen.
Arzt will Zwillingsschwester zu mehr Lebensqualität verhelfen
„Das Ziel der Operation ist, dass unsere Tochter wieder besser gehen kann – und dass der verletzte Bereich wieder besser aussieht“, erzählt Anke Waller. „Um die massiven Beeinträchtigungen abzudecken, die die junge Patientin an Hüfte, Gesäß und Oberschenkel erlitten hat, und den vollen Bewegungsumfang wiederherstellen zu können, werden zunächst bewegungshemmende großflächige Narbenstränge beseitigt“, erklärt Prof. Blessmann die anstehende Operation. „Im zweiten Schritt wird dieser Bereich mit einem Transplantat aus Muskelgewebe und Haut verschlossen. Im Ergebnis soll eine Funktionsverbesserung mit gleichzeitigem ästhetischen Aussehen erreicht werden.“
Gerade für junge Menschen können körperliche Einschränkungen, die mit dem Aussehen verbunden sind, besondere Hemmnisse für die weitere Persönlichkeitsentwicklung darstellen, so Blessmann. Generell könne er sagen, meint der Experte weiter, „dass es für mich als Mediziner mit einer ganz tiefen Zufriedenheit verbunden ist, wenn ich einem Patienten zu mehr Lebensqualität verhelfen kann.“
Tod der Schwester wegen TikTok-Video: Ein unendlich langer Weg
Erst habe Maria Bedenken gegen den Eingriff gehabt, sagt die Mutter. „Sie hatte die Nase voll vom Krankenhaus und von Operationen. Aber mittlerweile freut sie sich darauf, weil sie unter den Schmerzen an Bein und Hüfte sehr leidet.“ Dazu kämen starke Stimmungsschwankungen, weil Maria immer noch extrem unter dem Verlust der Zwillingsschwester leide. Die Eltern finden allerdings, dass ihre Tochter mittlerweile „einen stabileren Eindruck“ mache als noch vor einigen Wochen. „Die Zeit hilft.“ Aber es sei noch ein unendlich langer Weg.
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Der Kummer, erzählen Maria und ihre Eltern, sei immer noch kaum zu ertragen. Für Matthias Waller, der nach dem Zugunglück vor Trauer über Monate wie betäubt war und lange brauchte, bis er überhaupt weinen konnte. Der Moment, als Polizisten in jener schicksalhaften Nacht an der Tür klingelten und ihm mitteilten, was seinen Töchtern widerfahren war, hat sich in sein Gedächtnis eingebrannt. „Erst habe ich nicht glauben wollen, was mir da gesagt wurde“, erzählt er. Danach stand er lange unter Schock. „Im Leben ist nichts mehr wie vorher.“ Heute bemühe er sich, „irgendwie mit dem Verlust klarzukommen“. Er habe sehr damit zu kämpfen. „Aber ich habe meine Tochter im Herzen.“
Mutter nach Grabbesuch: „Das Gefühl, ich lasse sie im Stich“
Die Mutter der Zwillinge wurde durch den Tod der einen Tochter und die Qualen der anderen so aus der Bahn geworfen, dass sie nach dem Zugunglück in ein psychiatrisches Krankenhaus ging. Dort blieb Anke Waller, mit Unterbrechungen, fast ein Dreivierteljahr. Danach folgte eine schrittweise Wiedereingliederung in ihre Tätigkeit bei einem Reinigungsunternehmen. „Die Arbeit lenkt mich ab. Aber sie fällt mir schwerer als früher.“
Das erste Mal hatte Anke Waller die Klinik im März vergangenen Jahres verlassen, um bei der Beerdigung von Sandra dabei sein zu können. Doch bis heute wolle sie „nicht wahrhaben, dass meine Tochter unter der Erde ist“, sagt die Hamburgerin. Zweimal war sie seitdem wieder auf dem Friedhof, jedes Mal ein Gang, der ihr extrem schwerfällt und sie gleichsam zerreißt, erzählt sie. „Ich möchte meiner Tochter nahe sein. Und wenn ich vom Grab wieder wegfahre, habe ich das Gefühl, ich lasse sie im Stich.“
Zugunglück bei TikTok-Dreh: Therapieplatz für Trauerbewältigung gesucht
Wichtig sei es jetzt, vor allem für Maria da zu sein. Und selber irgendwie mit dem Schmerz und der Trauer zurechtzukommen. „Ich habe Medikamente, wenn es nicht mehr auszuhalten ist“, berichtet Anke Waller. Diese würden helfen, das schlimmste Leid ein wenig abzudämpfen. Außerdem nehme sie eine Gesprächstherapie wahr, versuche, in ihrer Freizeit etwas zur Ruhe zu kommen, am liebsten mit Ausflügen in die Natur. Darüber hinaus wünscht sich Anke Waller weitere professionelle Hilfe bei der Trauerbewältigung für sich und Maria. Die Mutter schaut liebevoll zu ihrer Tochter, deren Blick Richtung Fenster geht, irgendwo in die Ferne. „Es gibt spezielle Kliniken. Ich versuche, da einen Platz für uns beide zu bekommen.“
„Ich bin eine gebrochene Frau“, sagt Anke Waller. „Ich bin eine gebrochene Mutter.“ Trotzdem sei es wohl ihre Tochter Maria, die in der Familie durch den Verlust der Zwillingsschwester noch mehr betroffen ist – erschüttert, verstört, bestürzt. „Sie tut mir furchtbar leid“, erzählt die Mutter. „Ich leide mit ihr, wenn es ihr nicht gut geht. Sie ist verzweifelt über den Verlust der Schwester. Sie hatten eine sehr enge Verbindung, waren sich immer irgendwie einig.“ „Das Gegenstück ist weg, damit kommt sie nicht klar. Sie hat das größte Päckchen zu tragen“, sagen die Eltern. „Wir sind immer für sie da.“