Hamburg. Im Verfahren um 18-stündigen Nervenkrieg am Hamburg Airport erklärt sich der Angeklagte – und schickt seiner Tochter eine Botschaft.

Wenn es noch etwas gibt, was dem mutmaßlichen Geiselnehmer Mehmet R. wirklich wichtig zu sein scheint, dann ist es seine Tochter. Sie ist der Fixstern des hageren Mannes mit den für seine 35 Jahre etwas zu tiefen Gesichtsfalten. Er wird sie womöglich in Freiheit eine lange Zeit nicht wiedersehen. „Beschreiben Sie mal Ihre Tochter“, fordert ihn der Vorsitzende Richter Torsten Schwarz im am Montag gestarteten Prozess gegen Mehmet R. (Name geändert) auf.

Der Türke antwortet blumig, voller Vaterstolz: „Die Schönheit meiner Tochter kann ich nicht beschreiben“, sagt er. „Die Worte, die ich im Türkischen kenne, sind nicht ausreichend.“ Er habe eine Bitte: Dass die Medienvertreter „zurückhaltend“ über den Prozess berichten – damit „meine Tochter nicht in Mitleidenschaft gezogen wird“.

Flughafen Hamburg: Geiselnehmer wollte Ausreise nach Istanbul erzwingen

Das klingt so ehrbar, wie es irreführend ist. Der 35-Jährige, der so besorgt ist um das Wohl seiner fünf Jahre alten Tochter, hat eben diese Tochter im November 2023 erst durch eine List und mit Gewalt aus der Obhut ihrer Mutter entrissen, heißt es in der Anklage. Danach raste der mit einer Schusswaffe und Molotowcocktails bewaffnete sowie einer Sprengstoffwesten-Attrappe ausgerüstete Mann aufs Rollfeld des Hamburger Flughafens, um ihre Ausreise per Flugzeug nach Istanbul zu erzwingen.

18 Stunden war der Flugverkehr lahmgelegt, Tausende Reisende kamen in Hamburg nicht an oder von dort nicht weg. Die Generalstaatsanwaltschaft hat Mehmet R. unter anderem wegen Geiselnahme angeklagt. Die Mindeststrafe liegt bei fünf Jahren Haft.

Flughafen Hamburg: Angeklagter will nach Geiselnahme „bezahlen, was ich bezahlen muss“

Mit den unvermeidbaren Folgen der Tat hat sich Mehmet R. nach eigenen Angaben schon abgefunden. „Ich habe niemanden verletzt, weiß aber, dass ich Panik ausgelöst habe“, lässt er die Verteidigerin in seinem Namen erklären. „Ich entschuldige mich bei allen. Bei allen Polizisten möchte ich mich bedanken und entschuldigen.“

Auch sei er sich des finanziellen Schadens bewusst, den er verursacht habe. „Egal, wo ich sein werde, ich werde so lange das bezahlen, was ich bezahlen muss“, sagt er. Da gibt es bislang nur eine konkrete Zahl: Allein der Flughafen Hamburg hat angekündigt, für die durch die Geiselnahme am 4. November entstandenen Schäden eine halbe Million Euro von ihm zu verlangen.

Rund 18 Stunden dauerte der Einsatz von Polizei und Rettungskräften. Hier wird der Täter auf dem Flughafen von der Polizei weggeführt.
Rund 18 Stunden dauerte der Einsatz von Polizei und Rettungskräften. Hier wird der Täter auf dem Flughafen von der Polizei weggeführt. © picture alliance/dpa | Jonas Walzberg

Am Montag bleibt im Landgericht unklar, wie Mehmet R. zu der irrwitzigen Einschätzung gelangen konnte, mit der Geiselnahme Erfolg haben zu können. Nicht ohne Grund verfolgt eine psychiatrische Sachverständige den Prozess. Viel deutet auf eine Verzweiflungstat hin, denn ein Sorgerechtsstreit mit seiner Ex-Partnerin und Mutter der damals Vierjährigen war zu seinen Ungunsten verlaufen. Zuletzt war ihm monatlich ein vierstündiger, betreuter Umgang mit seiner Tochter eingeräumt worden.

Über die Vorgeschichte der Tat werde am nächsten Verhandlungstag in zwei Wochen zu reden sein, sagt seine Verteidigerin. Schon einmal, im März 2022, war gegen Mehmet R. wegen des Verdachts der Entziehung Minderjähriger ermittelt worden. Damals war er unberechtigt mit seiner Tochter in die Türkei gereist. Sie konnte später von der Mutter wieder nach Deutschland geholt werden.

„Kind links, Schusswaffe rechts“ – so soll Geiselnehmer aus Wohnung seiner Ex geflüchtet sein

Als er am frühen Abend des 4. November 2023 an der Wohnung seiner Ex-Frau in Stade aufkreuzt, hat er seine Tochter seit 14 Monaten nicht mehr gesehen. Nach Überzeugung der Staatsanwaltschaft verschafft er sich mit einer List Zutritt, indem er sich als Interessentin für eine am Vortag im Internet veröffentlichte Kleinanzeige seiner Ex-Partnerin ausgibt. Vor der Tür verstellt er demnach seine Stimme, lässt sie höher klingen, so wie die einer Frau. Und tatsächlich öffnet ihm seine frühere Partnerin.

Er habe sie sogleich mit einer Schusswaffe, Kaliber 9 mm bedroht, und an ihrem Oberarm gezerrt, sodass sie Schmerzen und ein Hämatom erlitt, so die Anklage. Dann habe er seine Tochter gepackt – die Kleine links, die Waffe rechts –, sei mit ihr nach draußen gestürmt und habe einmal in die Luft geschossen, während die Mutter um Hilfe schrie. Mit den Worten „Ihr werdet mich zum Mörder machen“ sei er dann in einem gemieteten Audi geflohen.

Dieser Satz sei nicht gefallen, beteuert hingegen Mehmet R. in seiner Erklärung. Er habe seine Ex auch nicht am Arm gepackt und verletzt. Vielmehr habe er geklingelt, und sie habe ihn ohne Widerstand in die Wohnung gelassen, doch nach einiger Zeit habe sie plötzlich „Hilfe“ geschrien. Da sei er mit seinem Kind auf dem Arm zum Auto gelaufen. Den Lauf der Waffe habe er, vorbei an den aufmerksam gewordenen Nachbarn, nach unten gerichtet. „Sie sollten mir nur aus dem Weg gehen.“

Geiselnehmer alarmiert am Flughafen Hamburg die Polizei: „Ich habe dreimal Bomber“

Was danach passiert, ist unstrittig und wird vom Angeklagten auch nicht in Abrede gestellt: Wie er mit dem Audi zum Flughafen rast, dort die Schranke des Nordtores durchbricht und auf dem Rollfeld neben einer Maschine der Turkish Airlines zum Stehen kommt. Wie er zwei Molotowcocktails wirft und zweimal mit der Waffe in die Luft feuert – beides angeblich „um Aufmerksamkeit“ zu erregen, so der Angeklagte.

4. November 2023: Die Masse an Rettungsfahrzeugen und Peterwagen zeigt die Dimension des Großeinsatzes während der Geiselnahme am Flughafen Hamburg.
4. November 2023: Die Masse an Rettungsfahrzeugen und Peterwagen zeigt die Dimension des Großeinsatzes während der Geiselnahme am Flughafen Hamburg. © Michael Arning | Michael Arning

Dafür hat er nach Durchbrechen der Schranke gesorgt: Er ist es nämlich selbst, der sich beim Notruf der Polizei meldet. Die Anklage zitiert die ausgewerteten Telefonprotokolle mit den Worten: „Ich habe dreimal Bomber…ich bin jetzt Flughafen.“ In einem weiteren Telefonat: „Es gibt Bombe, ich habe auch Bombe, man kann sie auch aus der Ferne sprengen lassen. Wir können alle sterben.“

Und schließlich: „Ich möchte gehen. Ich sage es offen, entweder sie sollen uns töten oder wir gehen weg. Sollen einen kleinen Jet schicken, wir gehen in die Heimat.“ Sein Anliegen habe er zwei Beamten auf dem Rollfeld vorgetragen, so Mehmet R. Eine Verständigung sei da aber nicht möglich gewesen, weil der Wind und die Turbinengeräusche des Flugzeugs zu laut und die Sprachbarriere zu hoch gewesen sei.

Angeklagter: „Meine Tochter hat tief und fest und wunderschön geschlafen“

So habe er sich mit seiner Tochter ins Auto zurückgezogen, wo er in mehreren Etappen mit der Polizei via Dolmetscherin verhandelt. Hinter dem Steuer des Leihwagens sitzt ein Mann, der eine von Alufolie umwickelte Weste trägt, in der Drähte stecken. Es ist nur eine Attrappe, aber das ahnen die Beamten während des Großeinsatzes nicht. Der Mann berichtet auch von einer Bombe im Auto und einer weiteren im Flughafen. Unklar ist, ob die damals Vierjährige durch die Geiselnahme traumatisiert worden ist.

Seine Tochter habe fast die ganze Zeit über „tief und fest und wunderschön geschlafen“, so Mehmet R. Mehrere Stunden und weitere Verhandlungsrunden später gibt er schließlich auf: Er übergibt seine Tochter der Dolmetscherin. Ihm sei zuvor ein weiterer Familiengerichtsprozess in Aussicht gestellt worden, beschreibt der Angeklagte auf Nachfrage des Richters seine Motivation.

Nach Ende des 18-stündigen Nervenkrieges in Fuhlsbüttel sprengen Entschärfer der Bundespolizei die vermeintliche Sprengstoffweste vorsorglich kontrolliert unter Wasser. Bei Mehmet R. und im Wagen finden sie: ein Reizstoffsprühgerät in der linken Socke, die mit einer Patrone geladene Schusswaffe mit vorgespanntem Hahn, einen schwarzen Rucksack mit einem großen Messer, mit Alufolie verpackte Bücher und Schriftstücke.

So wurde die Sicherheit am Flughafen nach der Geiselnahme verbessert

Während des Großeinsatzes war der gesamte Flugverkehr am Helmut-Schmidt-Flughafen eingestellt. Erst gegen 17.30 Uhr am Tag nach Beginn des Geschehens wurde der Flugbetrieb wieder aufgenommen. Tausende Reisende waren von dem Stillstand auf dem Airport betroffen.

Wenige Wochen nach den Geschehnissen vom 4. und 5. November 2023 wurden dort nach Angaben des Flughafens erste Sofortmaßnahmen im Bereich der Sicherheit umgesetzt. Zugleich wurde beschlossen, dass dauerhafte bauliche Verstärkungen vorgenommen werden sollten. Vor vier Wochen schließlich war die Erweiterung des Sicherheitskonzepts am Flughafen Hamburg der Öffentlichkeit präsentiert worden.

Am Ein- und Ausgangsbereich des Nordtores wurden drei Falttore aus gepanzertem Metall eingebaut und nun in Betrieb genommen. Sie sollen verhindern, dass sich Menschen unerlaubt Zutritt zum Flughafengelände verschaffen.

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„Die Zufahrten zum Sicherheitsbereich sind nun zusätzlich gesichert. Diese wirklich massiven Tore, die höchstem Sicherheitsstandard entsprechen, öffnen sich erst dann, wenn Fahrzeug und Fahrzeuginsassen überprüft wurden“, erklärte seinerzeit eine Flughafensprecherin. „Darüber hinaus werden derzeit dauerhafte bauliche Verstärkungen geplant. Die Baumaßnahmen werden schnellstmöglich beginnen. Dabei wird der Flughafen zahlreiche zusätzliche Abwehrmaßnahmen installieren, die je nach Lage auf dem Flughafengelände ganz unterschiedlich ausfallen. Ein Beispiel sind massive Toranlagen und erweiterter Einfahrschutz.“