Hamburg. Zugunfall in Allermöhe hat für politische Debatte gesorgt. So schätzt Michael Schulte-Markwort den Umgang mit sozialen Medien ein.
Die Weltgesundheitsorganisation WHO hat die Computerspielstörung (eng. Gaming Disorder) als Krankheit klassifiziert. Die kinder- und jugendpsychiatrische Fachgesellschaft schlägt eine Erweiterung des Begriffes auf den übergeordneten Begriff „medienbezogenen Störungen“ vor. Bei drei bis fünf Prozent der der deutschen Kinder und Jugendlichen gehen digitale Medien mit einem pathologischen Nutzungsverhalten einher.
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Nicht die verdaddelte Zeit ist entscheidend, sondern die negativen Auswirkungen. Dazu zählen die Mediziner gedankliche Vereinnahmung durch das Medium, Reizbarkeit bei Nichtnutzung, den Verlust sonstiger Interessen, dass Schule und Sozialkontakte zunehmend verdrängt werden. Jetzt hat der tödliche Unfall an den Bahngleisen in Allermöhe, wo ein junges Mädchen ein TikTok-Video drehen wollte, für eine politische Diskussion gesorgt.
Der renommierte Kinder- und Jugendpsychiater Prof. Dr. med. Michael Schulte-Markwort verfolgt die Debatte um soziale Medien und deren Folgen nicht nur in der Öffentlichkeit, er hat in der täglichen Arbeit in seiner Praxis Paidion und der Oberberg Fachklinik Marzipanfabrik damit zu tun.
Inzwischen hat sich auch die Politik in die Debatte um TikTok und die Wirkung von sozialen Medien eingeschaltet. Bedarf es schärferer Regeln?
Michael Schulte-Markwort: Mir fehlt in dieser Debatte die Frage, warum es uns nicht gelingt, unsere Kinder kompetenter im Umgang mit TikTok zu machen. Wo sind die nicht moralisierenden pädagogischen Strategien? Warum brauchen unsere Kinder, übrigens ebenso wie wir Erwachsenen, diese intensiven digitalen Flaniermeilen? Der Hinweis auf die Flaniermeilen, die keine Erfindung der Neuzeit sind, verweist auf ein natürliches menschliches Bedürfnis, sich zu zeigen und bewundert zu werden. Das Tempo und die Intensität sind neu. Deshalb müssen wir unsere Kinder kompetenter machen.
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Wie nehmen Sie in Ihrer täglichen Arbeit denn die Entwicklung wahr?
Die sozialen Medien mit all ihren unterschiedlichen Implikationen sind nicht neu und immer auch integraler Bestandteil unserer kinder- und jugendpsychiatrischen und psychotherapeutischen Arbeit. Das heißt, wir kümmern uns um die Frage eines fehlenden Selbstbewusstseins einer Jugendlichen, eines Jugendlichen, hinterfragen die Mediennutzung und versuchen, mehr Erfolge in der analogen Beziehungswelt zu ermöglichen. Aber es gilt auch das Umgekehrte: Ich persönlich habe durch WhatsApp gelernt, dass ich meine Patienten intensiver, schneller und besser versorgen kann ...
Gerade TikTok wird aber vorgeworfen, dass gefährliche Challenges nur einen Klick weit neben lustigen Tanzvideos liegen. Weltweit ist es zu Todesfällen gekommen. Ist TikTok gefährlicher als andere Plattformen?
Alle Plattformen sollten es zulassen, dass der angewendete Algorithmus nutzerseitig verändert werden kann. Unsere Kinder müssen allerdings auch verstehen, dass jedes Hinschauen den angebotenen Algorithmus verfestigt. Selbstverständlich müssen sich Politik und Rechtsstaat um diese Plattformen kümmern. Die Nutzer müssen vor der Darstellung selbst- und fremdschädigender Verhaltensweisen besser geschützt werden; suchtfördernde Verstärkungsmuster in Spielen müssen gesetzlich eingeschränkt und Altersfreigaben stärker kontrolliert werden. Wir sollten aber nicht den Fehler machen, die Gefahr immer nur im Außen zu suchen. Kinder sind neugierig, Kinder suchen Grenzen – und unsere Aufgabe ist es, sie dabei so zu begleiten, dass ihnen nichts passiert.
Wie fatal ist die dunkle Seite von TikTok, also „PainTok“ oder „SadTok“, wo sich Kinder und Jugendliche über Depressionen, Selbstverletzung oder Suizid austauschen?
Die Beschäftigung mit psychischen Krankheiten als dunkle Seite zu kennzeichnen, gefällt mir nicht und verrät eigene Unsicherheiten im Umgang damit. Unsere modernen partizipativen Konzepte, wie wir sie beispielsweise in der Marzipanfabrik und in unseren Praxen umsetzen, zeigen, dass ein begleiteter Austausch darüber sehr schnell dazu führt, dass unsere Kinder und Jugendlichen selbstreflexiv und verantwortungsvoll damit umgehen.
Manche vergleichen soziale Medien mit der Wirkung von Drogen – viele probieren sie aus, wenige werden abhängig, und einige wirft es völlig aus der Bahn?
Wir sind heute schnell dabei, Medienkonsum als Abhängigkeit zu kennzeichnen. Wenn das angemessen wäre, würde diese Diagnose für die Hälfte der Menschheit zutreffen. Es ist unsere Aufgabe, unsere Kinder so gut, kenntnisreich in Bezug auf sie und deren Mediennutzung, zu begleiten, dass sie eben nicht psychisch krank werden. Die Mediennutzung alleine wird es sehr selten sein, deshalb sollten wir uns unaufhörlich um das seelische Wohl unserer Kinder in allen ihren Lebenswelten, also auch der Schule, kümmern.
Zu welchem Umgang raten Sie als Kinder- und Jugendpsychiater?
Unsere wissenschaftliche Fachgesellschaft, die Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie, hat hierzu Empfehlungen veröffentlicht: Bis zum Schulbeginn sollen Kinder beispielsweise nur analog und nicht mithilfe digitaler Medien lernen und spielen. Vor der 5. Klasse sollten die Kinder auch kein eigenes Smartphone besitzen. Danach sollten sie die die Nutzung unter elterlicher Steuerung zeitlich und inhaltlich lernen. Die DGKJP empfiehlt als digitales Limit maximal 45 Minuten am Tag für Kinder zwischen 7 und zehn 10 Jahren, bei Elf- bis 13-Jährigen dann eine Stunde und höchstens 1,5 Stunden am Tag für Jugendliche ab 14 Jahre. Ein PC im eigenen Zimmer hat bei unter 12-Jährigen nichts verloren.
TikTok kommt aus China – ausgerechnet dort regelt die Regierung aus Gründen des Jugendschutzes die Online-Zeiten von Minderjährigen. Mehr als drei Stunden pro Woche sind Onlinespiele nicht erlaubt.
China ist das Land der Restriktionen und der tiefen machtbesessenen Überzeugung einer politischen Kaste, dass man damit ein Volk regieren kann. Die Verachtung von Menschenrechten kann kein Beispiel sein. Restriktionen auch im Kleinen – in deutschen Familien – führen zu Unfreiheit und am Ende zu Unmündigkeit – und Aufbegehren. Es gibt keinen anderen Weg, als unsere Kinder gut zu begleiten und maximal kompetent zu machen.