Hamburg. Alkoholverbot, Videoüberwachung, Kontrollen: Was die Sicherheit erhöhen soll, kommt auf der Straße anders an, kritisieren Sozialarbeiter.
Pawel sitzt vor einem Hotel an der Langen Reihe in St. Georg. Camouflage-Hose, Militärjacke, Anorak drüber. Er hat dunkle Haare, der Bart sprießt ungebändigt und zeigt bereits graue Strähnen. Vor ihm steht der Bettelbecher. Klarer Blick, klare Sprache. Zum Hauptbahnhof um die Ecke geht er momentan lieber nicht. Er hat einen Platzverweis kassiert. Warum und wie genau, daran erinnert er sich nicht. „Ich war betrunken.“ Dumm nur: „Wahrscheinlich habe ich ,Fick dich‘ zu dem Polizisten gesagt.“ Keine gute Idee. Pawel musste mit zur Wache, in eine Zelle mit anderen Renitenten und durfte sich erklären. Dabei, das gibt er zu, hat er keine glückliche Figur abgegeben. „Ich war voll bis oben.“ Pawel hat noch Bewährung. Diese Episode dürfte sie verlängern.
Pawel trägt in Wirklichkeit einen anderen Namen. Zu seinem Schutz haben wir ihn verändert. Er lebt auf der Straße und ist einer der vielen Klienten von Caritas-Sozialarbeiter Julien Peters (32). Der schlanke Mann mit verwaschen schwarzer Wollmütze über der runden Brille und mit rotem Rucksack auf dem Rücken führt den Großteil seines Arbeitslebens selbst auf den Straßen zwischen Hauptbahnhof und Hansaplatz, zwischen Spitalerstraße und Steinstraße, wo sein Büro und ein Kurzzeit-Aufenthaltsort für Gestrandete liegt.
Hauptbahnhof Hamburg: Sollen Obdachlose verdrängt werden?
Peters kennt die Frau im Rollstuhl am Eingang der Wandelhalle. Sie stammt aus Polen, „wohnt“ in der Friesenstraße und kann nicht in ihre Heimat zurück. Er kennt den jungen Mann, der bei Saturn an der Mö liegt, den an der Danziger Straße unweit des Mariendoms und Dutzende andere. Pawel, sagt Peters, hat ein spezielles Schicksal hinter sich. Eine krebskranke Frau aus dem Viertel hatte ihn aufgenommen, damit er hilft, sie zu pflegen. Sie starb, und er musste zurück auf die Straße. Keine Wohnung, keine Perspektive – er trank wieder mehr. Alkoholverbot am Hauptbahnhof? Davon hat Pawel noch nichts gehört.
Rund 2000 Obdachlose leben in Hamburg. Peters glaubt, es seien wohl eher 3000. Mindestens. Seit November sind 24 gestorben, sechs auf der Straße, 18 im Krankenhaus. Seit dem vergangenen Jahr greifen Polizei und Sicherheitsdienste von Bahn und Hochbahn mit „Quattrostreifen“ härter durch. Das Waffenverbot wird mit Großkontrollen durchgesetzt. Seit Ostern gilt das Alkoholkonsumverbot in engen Grenzen im Bahnhof, am Hachmann- und Heidi-Kabel-Platz.
Hamburger Caritas kritisiert neue Sozialraumläufer
Am Drob Inn trennt jetzt ein Zaun mit Sichtschutz die zerzausten Drogensüchtigen vom Rest der Welt. In der Einrichtung können sie mit etwas Ruhe und medizinischer Beratung ihren Stoff konsumieren. Und seit dem 8. März hat die Sozialbehörde von Melanie Schlotzhauer (SPD) sogenannte „Sozialraumläufer“ von morgens 6 bis um 22 Uhr auf die Straßen rund um den Verkehrsknotenpunkt geschickt. Es sind im Prinzip „Platzwarte“, ein Begriff, den die Behörde nicht gerne liest.
Für Caritas-Mann Peters und den anderen etablierten Streetworker sind sie keine Hilfe. „Die Sozialraumläufer können die Betroffenen nicht so gut kennen wie die vielen Helfer vor Ort, die seit Jahren miteinander vernetzt sind und wissen, wer jetzt in welchem Zustand ist, wer welche Hilfe braucht und Rechte hat und welche Einrichtung die geeignete ist. Die Sozialraumläufer sind also eher ein Instrument der Ordnungspolitik statt der Sozialpolitik.“ Was Hunderttausenden Reisenden ein wohligeres Sicherheitsgefühl verschaffen soll, geht auf Kosten der Randständigen, so die Kritik. Peters sagt: „Wir finden zum Teil unsere Klienten nicht mehr, weil sie verdrängt wurden, aber ja genauso unsere Hilfe brauchen, um nicht noch weiter zu verwahrlosen oder noch schwerer zu erkranken.“
Sozialsenatorin Schlotzhauer: Miteinander von Sozial- und Sicherheitspolitik
Senatorin Schlotzhauer sieht die neuen Ansprechpartner positiv und als Teil des „Miteinanders“ von sozial- und sicherheitspolitischen Maßnahmen: „Mit den Sozialraumläufern gehen wir vor Ort gezielt auf das Klientel zu, weisen auf Hilfe- und Beratungsangebote hin, fordern aber auch gleichzeitig die Einhaltung von Regeln. Durch die Neugestaltung des August-Bebel-Parks stärken wir das Drob Inn als zentrale Anlaufstelle für drogenabhängige Menschen im Bahnhofsumfeld.“
Unter Peters‘ Klienten finden sich einige, die aus Rumänien oder Bulgarien kamen, aber auch aus Portugal. Manch einer hat auf dem Bau gearbeitet oder bei Reinigungsfirmen. In Containern unweit der Gerüste haben sie nachts Unterschlupf gefunden. Doch wenn sie krank wurden, wenn der Lohn vom Subunternehmer nicht kam und sie nachfragten, waren Job und Dach futsch. Kaum einer kennt seine Rechte, nur wenige verstehen Deutsch. Bei den fünf nach dem Einsturz eines Baugerüstes am künftigen XXL-Einkaufszentrum in der HafenCity Getöteten dachte man zunächst, es seien Bulgaren. Die Pässe waren offenbar gefälscht oder „geliehen“. Die Opfer waren Albaner.
„Housing first“: Zuerst ein Dach über dem Kopf
Einige der Obdachlosen rund um den Hauptbahnhof können und wollen arbeiten. Was ihnen hilft, ist ein verlässlicher Ort zum Zurückziehen und Schlafen. Mit dem Prinzip von „Housing first“ ist es bereits gelungen, einigen zu Therapie und Stabilität zu verhelfen. Sozialarbeiter Peters kennt viele Vereine und Initiativen, die mit Spendengeldern Hotelzimmer finanzieren, die kurz- und langfristige Unterkünfte besorgen. Hotels selbst haben vor allem während der Corona-Pandemie ihre Türen helfend geöffnet. Mal haben Privatleute, mal auch der FC St. Pauli Zimmer für Obdachlose finanziert.
Peters und die bisherigen Straßenläufer verstehen sich als Vermittler, im Idealfall als Moderatoren zwischen den Obdachlosen auf einer „Platte“ und den Anwohnern oder Geschäftsleuten. „Wir haben tolle Beziehungen von Geschäftsleuten zu Obdachlosen, die ihnen sagen: Du darfst hier liegen bis zu einer bestimmten Uhrzeit. Manche verwahren sogar Geld für die Obdachlosen, bringen ihnen morgens Brötchen oder einen Kaffee.“
Abschiebehaft und Weckdienste der Polizei Hamburg
Weckdienste der Polizei oder die Quattrostreifen am Hauptbahnhof störten allerdings diese Beziehung. „Zum Teil werden dabei oder direkt durch Rundgänge der Ausländerbehörde die Personalien aufgenommen und zur Überprüfung der Freizügigkeit weitergeleitet. So entstehen durch Repressalien neue Notlagen, wie zum Beispiel der Entzug der Freizügigkeit oder auch eine Abschiebehaft, die unserer Hilfe im Weg stehen. Dabei gibt’s Personen, die sind gesundheitlich zu stark beeinträchtigt, um auszureisen oder sie in Haft zu nehmen.“ Konsequenz: Die Menschen werden wieder auf die Straße entlassen.
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Dort werden ihre Wunden größer, nicht nur die körperlichen. Viele sind kaum ansprechbar. Vor allem, wenn sie „affig“ sind, also auf Entzug oder verzweifelter Suche nach ihrer Droge. Und die Szene verlagert sich: zur Holstenstraße, nach Altona, nach Harburg. An den Einrichtungen für die Essensausgabe nehmen sich die Bedürftigen liebevoll gepackte Bündel mit. Sind Kondome drin, das weiß jeder in der Szene, sollten die bei einer Polizeidurchsuchung nicht gefunden werden. Denn die Beamten gehen vor allem rund um den Hansaplatz jedem Verdacht illegaler Sexarbeit nach.
Straßensozialarbeiter Julien Peters: Obdachlose haben schützenswerte Rechte
Senatorin Schlotzhauer macht geltend, dass das neue Senatskonzept mit den Trägern der Drogen- und Obdachlosenhilfe erarbeitet worden ist. Sie fürchtet, dass die Akzeptanz für die Menschen in prekärer Lage sinkt. Und dass es zukünftig einen noch größeren Hilfebedarf geben werde. Das sagte sie bei der Vorstellung des mit Innenbehörde und Bezirksamt Mitte abgestimmten neuen Konzeptes. Die „aufsuchende“ Sozialarbeit der Behörde ist für Peters wegen der Verdrängung eher eine „suchende“. Für die Sozialraumläufer dürfte es schwierig sein, gleichzeitig die Rollen von Hilfspolizisten und Vertrauenspersonen auszuüben.
Schlotzhauer will Druck vom Hauptbahnhof nehmen und die Klientel dreiteilen: in die, die schon einen Anspruch auf Hilfe und Leistungen haben; die, die einen Anspruch haben könnten, und die, die keinen haben. Den „Anspruchslosen“ solle eine Rückkehr in ihre Heimatländer aufgezeigt werden.
Peters meint: „Das Gesetz zum Schutz der öffentlichen Sicherheit und Ordnung müsste auch die Rechte von Obdachlosen schützen und die Freizügigkeit.“ Es sei ein Trugschluss, dass die „Verdrängung“ am Hauptbahnhof der Stadtgesellschaft helfe. Für die Betroffenen habe das viele negative Folgen. So kämen die sozialen Probleme dauerhaft zurück. „Denen begegnen wir in zwei Jahren wieder, obwohl wir wissen. wie wir Sie heute nachhaltig lösen könnten.“