Hamburg. Unterbringung von Geflüchteten soll auch gegen den Willen der Eigentümer geschehen. Wie ernst es dem Senat ist, zeigt eine Bestimmung.
Die Kapazitäten zur Unterbringung von Flüchtlingen sind in Hamburg zu 98 Prozent ausgelastet und in Kürze erschöpft. Gerade erst hat die Sozialbehörde angekündigt, für Asylbewerber und Schutzsuchende aus der Ukraine verstärkt Zelte auch in Parks und auf Festplätzen aufzustellen. Jetzt folgt ein harter Eingriff: Der Senat hat am heutigen Dienstag beschlossen, dass die Stadt künftig auf leer stehende Immobilien zur Unterbringung von Geflüchteten auch dann zugreifen kann, wenn die Eigentümer dies nicht wollen.
„Angesichts der drohenden Erschöpfung der sonstigen Optionen soll für die Unterbringung von Schutzsuchenden vorübergehend ein Zugriff auf geeignete Objekte ausnahmsweise auch dann ermöglicht werden, wenn die Eigentümer- bzw. Vermieterseite nicht bereit ist, leer stehende bzw. ungenutzte Objekte zur Verfügung zu stellen“, heißt es in der Senatsdrucksache aus dem Haus von Innensenator Andy Grote (SPD), die dem Abendblatt vorliegt.
Um die Requirierung von Privateigentum rechtlich zu ermöglichen, muss das Gesetz zum Schutz der öffentlichen Sicherheit und Ordnung (SOG) geändert werden. Eine entsprechende Regelung galt bereits teilweise während der Flüchtlingskrise in den Jahren 2015 bis 2017.
Die Gesetzesänderung stellt eine Grundrechtseinschränkung dar
Über eine solche Gesetzesänderung muss die Bürgerschaft entscheiden. Die zwangsweise Nutzung stellt gewissermaßen ein letztes Mittel dar, wenn die Kapazitäten in den vorhandenen Erstaufnahme- und Folgeeinrichtungen, in ehemaligen Schulgebäuden, Messe- und Gewerbehallen, Bürogebäuden, Hotels und Zelten nicht mehr ausreichen. Die Stadt kann danach zugreifen, wenn „das Grundstück, Gebäude oder ein Teil davon ungenutzt ist; der Nichtnutzung steht eine Nutzung gleich, die ausschließlich oder weit überwiegend den Zweck verfolgt, eine Sicherstellung … zu vereiteln“, heißt es warnend in dem Gesetzentwurf. So will der Senat verhindern, dass die Requirierung durch eine Scheinnutzung umgangen werden soll.
Die zuständigen Behörden sollen per SOG das Recht erhalten, infrage kommende Gebäude zu betreten und auf ihre Eignung zu überprüfen. Die Gesetzesänderung stellt eine Einschränkung des Grundrechts auf Unverletzlichkeit der Wohnung dar. Auch wegen dieses Grundrechtseingriffs soll der staatliche Zugriff auf leer stehende Wohnungen und Gewerbeimmobilien zeitlich befristet bis zum 31. März 2026 gelten.
Immerhin ist die Stadt verpflichtet, den Eigentümern für die Inanspruchnahme „auf Antrag eine angemessene Entschädigung in Geld zu leisten“. Wie ernst es dem Senat um die weitreichende Befugnis ist, zeigt diese Bestimmung des SOG-Änderungsentwurfs: „Widerspruch und Anfechtungsklage gegen die Sicherstellung haben keine aufschiebende Wirkung.“
Die Kapazitäten der öffentlichen Unterbringung sind zu 97,9 Prozent ausgelastet
Grundsätzlich sollen alle Arten von Immobilien in Anspruch genommen werden können, „die eine zügige Unterbringung von Flüchtlingen tatsächlich ermöglichen“, heißt es in der Senatsdrucksache. Doch einzelne leer stehende Mehrfamilienhäuser schaffen weniger Kapazitäten als größere gewerbliche Immobilien. „Es ist das Ziel, insbesondere gewerbliche Hallen und ähnliche Gebäude, die in sehr kurzer Zeit für eine Unterbringung von einer möglichst großen Zahl von Menschen geeignet sind oder dafür hergerichtet werden können, in Anspruch nehmen zu können“, schreibt der Senat.
Ausdrücklich weist die Landesregierung darauf hin, dass der Wohnungsmarkt „weiterhin sehr angespannt“ ist, sodass einer Ausweitung der Platzkapazitäten zur Unterbringung von Geflüchteten auch aus diesem Grund enge Grenzen gesetzt sind. „Mit einer Leerstandsquote im Jahr 2022 von nur 0,4 Prozent (bei bundesweit durchschnittlich 2,5 Prozent) weist der Hamburger Wohnungsmarkt nach Berlin den zweitgeringsten Leerstand im Geschosswohnungsbau auf“, heißt es in der Senatsdrucksache. Zudem sei die Fluktuationsquote mit 7,5 Prozent (Stand 2019) ausgesprochen niedrig.
Der Senat sieht „einen anhaltend krisenhaften Zustand in Hamburg“
„Die gegenwärtige Situation führt unverändert zu einem anhaltend krisenhaften Zustand in Hamburg, der sehr stark durch Reaktion auf die weitere Lageentwicklung geprägt ist“, lautet einer von mehreren alarmierenden Sätzen in der Grote-Drucksache. Der Senat bietet drei Szenarien auf der Basis des monatlichen Lagebilds Flüchtlinge der Stabsstelle Flüchtlinge und übergreifende Aufgaben (SFA) an, die europaweit Daten zu Flüchtlingswanderungen zusammenführt.
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Im günstigsten Fall ergibt sich ein zusätzlicher Bedarf für die Unterbringung von 1320 Personen für das Jahr 2024. Die mittlere Variante sieht einen Bedarf von 5460 zusätzlichen Plätzen, was bereits einen Anstieg um 86 Prozent gegenüber der Prognose für das Jahr 2023 bedeuten würde. Das „Worst Case Szenario“ (der schlechteste Fall, die Red.) sagt einen zusätzlichen Bedarf von 6780 Plätzen voraus.
In den Jahren 2022 und 2023 sind 62.704 Geflüchtete in Hamburg verblieben
Derzeit sind von 48.337 vorhandenen Plätzen für Geflüchtete in der öffentlichen Unterbringung 47.311 Plätze belegt. Das entspricht einer Auslastung von 97,9 Prozent ohne die Zentrale Erstaufnahme, deren Auslastung (noch) bei 52 Prozent liegt. Absehbar ist in Kürze der Verlust von 870 Plätzen in Hotels, weil die Verträge auslaufen. In den Jahren 2022 und 2023 sind laut den Zahlen des Senats insgesamt 62.704 Asyl- und/oder Schutzsuchende nach der Verteilung über die Länder in Hamburg verblieben.
Davon kamen 44.892 Menschen aus der Ukraine und 17.812 Asylbewerber aus anderen Staaten. Insgesamt 37.330 Personen mussten in einer öffentlichen Einrichtung untergebracht werden. Daneben leben auch Geflüchtete in der öffentlichen Unterbringung, die schon vor 2022 nach Hamburg gekommen sind.
Unterstützung für die Requirierung leer stehender Immobilien erhielt der Senat von der oppositionellen Linken. „Wir begrüßen, dass sich der Senat nun mit einer von der Linken geforderten Gesetzesänderung für die Nutzung leer stehender Grundstücke einsetzen will. Es gibt zu viele brach liegende Gewerbeflächen in Hamburg, die jetzt einer sinnvollen Nutzung zugeführt werden müssen. Besser spät als nie“, sagte Carola Ensslen, flüchtlingspolitische Sprecherin der Linken in der Bürgerschaft.