Hamburg. Mehr als 40 Geschäfte jüdischer Eigentümer weit unter Wert verkauft oder liquidiert. Nordkirche startet Erinnerungsprojekt und Aufruf.

Die Post kam aus Ottawa, Kanada. „Meine E-Mail betrifft meinen Großonkel Hermann Hammerschlag (1878–1961), der ein sehr gut gehendes Hutgeschäft im Neuen Wall 52 hatte. Ich nehme an, dass Sie an näheren Informationen über Geschäfte, die in dieser Straße ,arisiert‘ wurden, interessiert sind“, schreibt Susan Hurtubise auf Englisch und erzählt die Lebens- und Leidensgeschichte ihres Großonkels und seiner Frau Alma. Die jüdischen Eheleute, zu gleichen Teilen Inhaber, mussten das Hutgeschäft „Hermann Hammerschlag Hamburg – Neuer Wall“ am 10. Oktober 1938 nach vielen Demütigungen, Schikanen und schrittweisen Entrechtungen durch die Nationalsozialisten zwangsweise und weit unter Wert verkaufen.

Es sind Schicksale wie das der Hammerschlags, die die Evangelische Akademie der Nordkirche in einem breit angelegten erinnerungskulturellen Projekt zur Enteignung jüdischer Unternehmer und Geschäftsleute am Neuen Wall aufarbeiten und öffentlich zugänglich machen will. Warum der Neue Wall? Wie noch heute war die 580 Meter lange schnurgerade Straße zwischen Jungfernstieg und Stadthausbrücke bereits vor 100 Jahren eine der, wenn nicht die Top-(Einkaufs-)Adresse in Hamburg. Am Neuen Wall gab es eine Reihe gehobener, in der Stadt und darüber hinaus bekannte Modehäuser, mehrere Banken, Anwaltskanzleien und Arztpraxen – sehr viele von ihnen bis weit in die 1930er-Jahre hinein in jüdischem Besitz und von Jüdinnen und Juden betrieben.

Nationalsozialismus in Hamburg: Archive geben nur begrenzt Auskunft über Vorgänge während Terrorherrschaft

Die Recherche ist fast 80 Jahre nach dem Holocaust schwierig und aufwendig. Die unmittelbaren Zeitzeugen leben nicht mehr, selbst deren direkte Nachkommen dürften heute hochbetagt oder ebenfalls verstorben sein. Die Hamburger Archive geben nur begrenzt Auskunft über die Vorgänge während der Nazi-Terrorherrschaft. So ist es heute die dritte Generation nach den von den Nazis ermordeten oder in die Emigration getriebenen Juden, die – wenn überhaupt – Informationen über ihre Vorfahren geben kann. Da ist ein Schreiben wie das von Susan Hurtubise über Hermann und Alma Hammerschlag und deren Hutgeschäft nachgerade ein Glücksfall. Dies umso mehr, als deren Großnichte ihrer E-Mail an die Evangelische Akademie historische Fotos und eine Selbstauskunft Hermann Hammerschlags über sein Leben aus dem Jahr 1949 beigefügt hat.

Der Journalist und Historiker Cord Aschenbrenner recherchiert im Auftrag der Evangelischen Akademie die Geschichte der jüdischen Unternehmen und Geschäfte am Neuen Wall. Auch zu den Hammerschlags und deren Hutgeschäft hat er bereits zum Beispiel im Staatsarchiv geforscht. „Aber dass Hammerschlag Filialen in London, Paris und Baden-Baden hatte, war mir nicht bekannt. Und Fotos der beiden Eheleute hatten wir bislang auch nicht“, sagt Aschenbrenner. Weil die Großnichte erwähnte, dass sie im Besitz zahlreicher Briefe der Hammerschlags ist, will Aschenbrenner sie nun bitten, ihm die Dokumente zugänglich zu machen. Deren Auswertung könnte weiteres Licht in die Geschichte der „Arisierung“ des Neuen Walls bringen.

Noch in den 1930er-Jahren investierten die jüdischen Besitzer 400.000 Reichsmark in ihr Hutgeschäft

Hermann Hammerschlag hatte sein Unternehmen, das angesichts der Hutbegeisterung der Zeit offensichtlich schnell wuchs, 1909 gegründet. Seit 1922 befand sich das Geschäft in bester Lage im Eckgebäude Neuer Wall/Bleichenbrücke – dort, wo heute das Hamburger Unternehmen Montblanc in einem Neubau edle Schreibgeräte und andere Luxusartikel anbietet. Hammerschlag verkaufte nicht nur Hüte, er ließ sie an Ort und Stelle auch produzieren. Die Modelle waren vielfach von seiner Frau entworfen. Die Firma, die zu einem nicht unerheblichen Teil ins Ausland, zum Beispiel nach Großbritannien, exportierte, hatte Anfang der 1930er-Jahre 25 Mitarbeiter.

Das Hutgeschäft „Herrmann Hammerschlag Hamburg“ am Neuen Wall 52/Ecke Bleichenbrücke
Das Hutgeschäft „Herrmann Hammerschlag Hamburg“ am Neuen Wall 52/Ecke Bleichenbrücke © privat | Privat

Hermann und Alma Hammerschlag waren angesehene, heute würde man sagen, gut vernetzte Bürger dieser Stadt. Sie besaßen und bewohnten ein Stadthaus in der Oderfelder Straße im großbürgerlichen Harvestehude, in dem sie häufig Gäste empfingen. Das Ehepaar blieb offensichtlich lange zuversichtlich trotz der sich zuspitzenden politischen Lage – oder wollte sie nicht wahrhaben. Noch in den 1930er-Jahren investierten die Hammerschlags insgesamt 400.000 Reichsmark in das Geschäft am Neuen Wall. „Sie ließen eine neue Dampfheizanlage einbauen, Wandverkleidungen aus Edelhölzern anbringen, dazu Spiegelwände, 27 Meter lange Einbauschränke, und schafften 120 Thonet-Stühle an“, wie die Autorin Sylvia Steckmest in einem Beitrag über das Hutgeschäft für die Zeitschrift „Liskor – Erinnern“, das Magazin der Hamburger Gesellschaft für jüdische Genealogie, berichtet.

„Protestkunden“ wollten mit ihrem Einkauf Widerstand gegen die Nazis zeigen

Viel erinnert heute nicht an die jüdische Vergangenheit des Neuen Walls. An den Eckgebäuden zu beiden Seiten der Schleusenbrücke sind Gedenktafeln für die einst sehr bekannten und führenden Modehäuser Gebr. Hirschfeld und Gebr. Robinsohn angebracht. Drei Stolpersteine erinnern an Juden, die von den Nationalsozialisten in den Tod getrieben oder deportiert und in Konzentrationslagern umgebracht wurden: Benno Hirschfeld und sein Sohn Kurt Manfred (Neuer Wall 19) sowie der Rechtsanwalt Walter Ludwig Samuel (Neuer Wall 32). Der eher sparsame Umgang Hamburgs mit der Sichtbarmachung der Nazi-Verbrechen im Stadtbild ist nicht untypisch, wie das Beispiel des ehemaligen Gestapo-Hauptquartiers im Stadthaus in unmittelbarer Nachbarschaft des Neuen Walls zeigt.

Zeitungsanzeige des Modehauses Gebr. Hirschfeld Neuer Wall/Ecke Schleusenbrücke/Alsterarkaden
Zeitungsanzeige des Modehauses Gebr. Hirschfeld Neuer Wall/Ecke Schleusenbrücke/Alsterarkaden © Staatsarchiv Hamburg | Staatsarchi Hamburg

Immerhin: Die Geschichte der beiden Modehäuser in den repräsentativen Gebäuden am Eingang zum Neuen Wall aus Richtung Rathausmarkt ist gut dokumentiert. Die Hirschfelds und Robinsohns waren zwar einerseits Konkurrenten, aber andererseits doch auch miteinander befreundet. Und beide Familien investierten noch nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten im Januar 1933 kräftig in ihre Unternehmen, um zu signalisieren, dass sie bleiben, und versuchten so, der Entrechtung zu trotzen. Hans Robinsohn, bis 1938 operativer Chef des Modehauses, der den Holocaust überlebte, berichtete in einem Zeitungsartikel 1958 rückblickend, es habe „Protestkunden“ gegeben, die mit ihrem Einkauf Widerstand gegen die Nazis zeigen wollten.

Dem nationalsozialistischen Hetzblatt war der Neue Wall ein Dorn im Auge

Doch der Druck auf die verbliebenen jüdischen Eigentümer und Unternehmer wurde immer größer. So schrieb das nationalsozialistische Hetzblatt „Der Stürmer“ im Februar 1938: „Wer jedoch mit offenen Augen durch die alte, ehrwürdige Hansestadt geht, der kann noch viele Dinge wahrnehmen, die den Nationalsozialisten nachdenklich stimmen. Eine der Hauptgeschäftsstraßen Hamburgs ist der Neue Wall. Ein Ladengeschäft liegt am andern! Und ein Jude liegt am andern.“

Blick in den Neuen Wall mit der Leuchtreklame des Modehauses Gebr. Hirschfeld links
Blick in den Neuen Wall mit der Leuchtreklame des Modehauses Gebr. Hirschfeld links © Staatsarchiv Hamburg | Staatsarchi Hamburg

Wenige Monate später waren alle Hoffnungen auf eine weitere Existenz jüdischer Geschäfte im NS-Staat zerstört oder alle Illusionen zerstoben. In der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 zerstörte und plünderte ein Mob von SA- und SS-Angehörigen auch in Hamburg Geschäfte jüdischer Eigentümer, jüdische Einrichtungen und Gotteshäuser wie zum Beispiel die Bornplatz-Synagoge. Hans Robinsohn lieferte als Augenzeuge einen eindringlichen Bericht über das Ausmaß der Zerstörungen seines Geschäfts.

Die Zerstörungen vom 9. November 1938: „Es sah aus wie nach einer Artilleriebeschießung“

„Am Morgen des 10. November 1938 wurde mir telefoniert, dass im Geschäft allerhand zerstört sei. Ich fuhr dann hinein (in die Stadt, die Red.) und musste feststellen, dass es bei uns aussah wie nach einer Artilleriebeschießung – man wunderte sich nur, dass noch die Mauern standen. Durch sämtliche Schaufenster und deren Rückwände waren um 4 Uhr ca. 50 Leute eingedrungen und hatten innerhalb einer Stunde eine Verwüstung ohnegleichen angerichtet“, schreibt Robinsohn. „Alles Glas, Tische, Schränke, Lampen und Vitrinen zerschlagen; die Splitter lagen etwa 25 Zentimeter hoch vom Boden. Alle Schränke und Tische waren umgestürzt, die Fahrstuhltüren eingeschlagen; die Waren heruntergerissen und ausgeschüttet, dann zertreten, zerschrammt und zerdrückt.“

Robinsohn beschreibt nüchtern, mit welcher Gewalt der nationalsozialistische Mob vorging. So seien Möbel aus dem ersten Stock und „einige Tische mit Waren ins Fleet geworfen, Schreibmaschinen zertrümmert, die Kartothek zerfetzt und in die Gegend verstreut“ worden. Robinsohns minutiöse Schilderung der Zerstörungen seines Geschäftes geht noch weiter, am Ende zieht er das Fazit: „Wer es nicht gesehen hat, kann sich keine Vorstellung davon machen.“

Besonders große Verwüstungen richtete der SA- und SS-Mob im Neuen Wall an

Entgegen mancher Nachkriegslegende war es keinesfalls so, dass die Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 in Hamburg „glimpflicher“ verlief als anderorts in Deutschland. „Besonders große Verwüstungen richteten die mit der Zerstörung beauftragten (Hamburger, die Red.) SA- und SS-Einheiten im Geschäftsviertel am Neuen Wall in der Nähe des Hamburger Rathauses an, wo die Ladeneinrichtungen systematisch demoliert, die Warenbestände teilweise geplündert und die Schaufensterpuppen der Modehäuser ins benachbarte Alsterfleet geworden wurden“, schreibt der Historiker Frank Bajohr in seiner grundlegenden und umfangreichen Studie „,Arisierung‘ in Hamburg – Die Verdrängung der jüdischen Unternehmer 1933 - 1945“.

Gedenktafel für das Modehaus Gebr. Robinsohn am Gebäude Schleusenbrücke/Neuer Wall
Gedenktafel für das Modehaus Gebr. Robinsohn am Gebäude Schleusenbrücke/Neuer Wall © Staatsarchiv Hamburg | Staatsarchi Hamburg

Das November-Pogrom bedeutete eine Zäsur. Der Prozess der schleichenden Entrechtung der deutschen Juden seit 1933 wurde durch verschärften und öffentlich wahrnehmbaren staatlichen Terror abgelöst. In den ersten Tagen nach dem Progrom verhaftete „die Gestapo mindestens 879 Hamburger Juden, die entweder längere Zeit im Polizeigefängnis Fuhlsbüttel inhaftiert oder in Konzentrationslager, vor allem ins KZ Oranienburg, weitertransportiert wurden“, schreibt Bajohr, der erhaltene Gestapo-Akten ausgewertet hat. Im Jahr 1938 waren bereits fast 4100 Jüdinnen und Juden aus Hamburg ausgewandert.

Grundsätzlich sollten alle jüdischen Geschäfte und Betriebe liquidiert werden

„Die Bedeutung des November-Pogroms als Radikalisierungsfaktor ergibt sich nicht aus den Mord- und Zerstörungsaktionen an sich, sondern aus den Folgemaßnahmen im bürokratisch-rechtsförmigen Gewande, die u. a. die ökonomischen Existenzgrundlagen innerhalb weniger Monate vernichteten“, schreibt Bajohr. „Die Zwangs-,Arisierung‘ und Liquidierung jüdischer Unternehmen wurde bereits am 12. November 1938 durch die erste Verordnung zur Ausschaltung der Juden aus dem deutschen Wirtschaftsleben eingeleitet, die Juden den Betrieb von Einzel- und Versandgeschäften sowie Handwerksbetrieben nach dem 1. Januar 1939 untersagte.“

Wenig später wurde die Anordnung auf die sonstigen Gewerbebetriebe und jüdisches Grundeigentum erweitert. Grundsätzlich sollten alle jüdischen Geschäfte und Betriebe liquidiert werden. Eine „Arisierung“, also der Verkauf weit unter Wert an Nichtjuden, kam nur dann infrage, wenn die Versorgung der Bevölkerung die Weiterführung des Unternehmens erforderlich machte.

Am 22. November 1938 wurde Familie Hirschfeld das Verfügungsrecht über ihr Modehaus entzogen

Ein Beispiel: Das Modehaus Gebr. Hirschfeld am Neuen Wall 19/Schleusenbrücke/Alsterarkaden wurde am 3. Dezember 1938 „arisiert“. Der von den Nationalsozialisten ausgewählte Käufer wurde später ein bekannter Name in der Geschäftswelt der Innenstadt in der Nachkriegszeit: Franz Fahning. Der frühere Geschäftsführer der Karstadt AG in Hamburg zahlte für das Geschäft der Hirschfelds und die Hälfte des Grundstücks, das einen Verkehrswert von 4,5 Millionen Reichsmark hatte, lediglich 800.000 Reichsmark. Nach dem 9. November war der Kaufvertrag zugunsten Franz Fahnings noch einmal verändert worden, indem die von den Nationalsozialisten verursachten Gebäudeschäden als wertmindernd eingerechnet wurden. Doch das Geld erhielt die Familie Hirschfeld nicht, es ging auf ein Sperrkonto.

Isidor Hirschfeld, der das später um Filialen in anderen Städten erweiterte Modehaus 1908 mit seinem Bruder Benno gegründet hatte, war 1937 völlig unerwartet an einem Herzinfarkt gestorben. Während der Pogromnacht waren Benno Hirschfeld und seine Familie bei einer Hochzeitsfeier in Bremen. Am frühen Morgen wurden alle verhaftet, wie Sylvia Steckmest in einem Beitrag über das Modehaus Gebr. Hirschfeld schreibt. Benno Hirschfeld kam erst nach zwei Herzattacken frei, doch bereits am 22. November 1938 war den Hirschfelds das Verfügungsrecht über das Geschäft durch eine sogenannte Sicherungsanordnung entzogen worden.

Benno Hirschfeld hatte die Idee für die markante Weihnachtsbeleuchtung des Neuen Walls

Alle Versuche Benno Hirschfelds, in die USA oder nach Kuba auszureisen, scheiterten. Im Februar 1943 wurde er erneut verhaftet, weil er angeblich „Feindsender“ gehört hatte. Benno Hirschfeld kam vom Polizeigefängnis Fuhlsbüttel ins KZ Neuengamme und wurde von dort zunächst nach Auschwitz und dann nach Buchenwald deportiert, wo er im April 1945 starb. Benno Hirschfeld hatte sich um die Entwicklung des Neuen Walls verdient gemacht. Er gründete zusammen mit anderen Geschäftsleuten 1929 die „Interessengemeinschaft Neuer Wall“, eine Vorläuferin des heutigen Business Improvement Districts (BID) Neuer Wall. Und Hirschfeld hatte die Idee für die Weihnachtsbeleuchtung, die in der Adventszeit die Straße überspannte, noch heute ein Markenzeichen des Neuen Walls.

Mit Boykottaufrufen vor Geschäften und Restaurants jüdischer Inhaber fing es 1933 an.
Mit Boykottaufrufen vor Geschäften und Restaurants jüdischer Inhaber fing es 1933 an. © picture alliance / akg-images | akg-images

Eher ungewöhnlich für die Geschichte der „Arisierung“, aber doch auch bezeichnend für das vielfache, Juden zugefügte Unrecht: Die überlebenden Mitglieder der Familie Hirschfeld kauften die Gebäude am Neuen Wall und an der Schleusenbrücke zurück und vermieteten an Fahning und später an seine Söhne. Ein Wiedergutmachungsverfahren endete erst 1963 mit einem Vergleich. Hans Hirschfeld, Sohn von Isidor, erhielt rund 56.000 D-Mark (23.000 Euro).

Mehr als 40 jüdische Unternehmen und Geschäfte gab es am Neuen Wall

Grundlage für die aktuelle Recherche ist eine von Frank Bajohr zusammengestellte Liste von 625 jüdischen Geschäften und Unternehmen in Hamburg, die 1938/39 „arisiert“ oder liquidiert wurden. Allein 42 Unternehmen und ihre Besitzer hat Bajohr am Neuen Wall identifiziert (siehe Grafik). Der Historiker weist ausdrücklich darauf hin, dass das Verzeichnis unvollständig ist und zitiert Angaben des NSDAP-Gauwirtschaftsberaters, nach denen im Herbst 1938 immer noch rund 1200 jüdische Unternehmen existierten.

„Daran zu erinnern, wie perfide der Antisemitismus der Straße und die staatliche Legalisierung der Enteignung jüdischer Geschäftsleute und schließlich ihre Vertreibung, Deportation und Ermordung Hand in Hand arbeiteten, scheint mir gerade gegenwärtig besonders wichtig. In einer Zeit, in der der Antisemitismus seit dem 7. Oktober 2023 auch bei uns in Deutschland in einer Weise aufflammt, wie wir es für nicht möglich gehalten hätten“, sagt Jörg Herrmann, Direktor der Evangelischen Akademie und Initiator des Projekts.

Eine erste Publikation mit 15 exemplarischen Fällen soll im Spätsommer erscheinen

„Es kann nicht sein, dass jüdische Menschen in Deutschland wieder Angst haben müssen. Das können wir nicht hinnehmen. Um das zu verstehen, braucht es Bildung, ein Wissen um die Geschichte, das mehr ist als Faktenwissen“, sagt Herrmann. Geschichte bestehe nicht nur aus Daten und Zahlen, sondern aus den konkreten Lebensgeschichten der Menschen, die erzählt werden müssen. „Das wollen wir am Beispiel von Geschichten jüdischer Geschäftsleute tun, die ihre Geschäfte am Neuen Wall hatten und mit der Machtergreifung der Nazis zunehmend verfolgt und schließlich enteignet, vertrieben und ermordet wurden“, erläutert Herrmann.

Porträt von Sigmund Freud, aufgenommen von seinem Schwiegersohn Max Halberstadt in dessen Fotostudio am Neuen Wall 54
Porträt von Sigmund Freud, aufgenommen von seinem Schwiegersohn Max Halberstadt in dessen Fotostudio am Neuen Wall 54 © picture alliance / Photo12/Ann Ronan Picture Librar | picture alliance

Vorstellbar ist, dass im Spätsommer dieses Jahres eine erste Publikation mit 15 exemplarischen Fällen aus der Recherchearbeit Cord Aschenbrenners erscheint. In einer weiteren Stufe geht es auch um die Präsentation der Erkenntnisse im öffentlichen Raum, also zum Beispiel in Form von Tafeln entlang des Neuen Walls oder QR-Codes an den Gebäuden. Als zentrales Medium des Projekts sieht Herrmann eine komplexe, interaktive Website mit Texten, Fotos und Videos zur „Arisierung“ des Neuen Walls.

Der Schwiegersohn von Sigmund Freud hatte sein Fotostudio am Neuen Wall

Herrmann und Aschenbrenner betonen, dass die Rekonstruktion dieses Teils der Geschichte des Neuen Walls ein offenes Projekt ist. Hinweise, Dokumente, Fotos und Briefe zu einzelnen jüdischen Geschäftsleuten oder deren Unternehmen sind hochwillkommen (siehe Hinweis am Ende des Textes). Dabei haben Archivarbeit und Recherchen von Wissenschaftlern und Journalisten schon manche Überraschung zutage gefördert. Dazu zählt die Geschichte des Fotografen Max Halberstadt, eines Schwiegersohns von Sigmund Freud, der sein Atelier im Neuen Wall 54 hatte. Auch wenn der Name Halberstadt den wenigsten Menschen noch etwas sagen dürfte, so sind seine Porträts des Begründers der Psychoanalyse gewissermaßen ikonisch.

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Zu den bekanntesten Arbeiten Halberstadts zählt eine Aufnahme Freuds aus dem Jahr 1921, die den weißbärtigen Mann zeigt, der den Betrachter ernst anblickt, während er eine brennende Zigarre in der Hand hält. Nach 1933 blieben die Aufträge für den angesehenen Porträtfotografen aus. Halberstadt verließ mit seiner Frau und den beiden Kindern 1936 seine Geburtsstadt Hamburg und emigrierte nach Südafrika. Zwar eröffnete er ein neues Atelier in Johannesburg, konnte aber an alte Erfolge nicht anknüpfen. Halberstadt starb am 30. Dezember 1940 als kranker Mann im Alter von 58 Jahren. Der Antisemitismus, die Entrechtung durch die Nationalsozialisten und die Flucht hatten ihn zermürbt.

Die meisten jüdischen Geschäftsleute wurden nach dem Krieg nicht angemessen entschädigt

Und wie ging es für die Eheleute Alma und Herrmann Hammerschlag weiter, die ihr gut gehendes Hutgeschäft am Neuen Wall 52 am 10. Oktober 1938 weit unter Wert verkaufen mussten? Es ist eines der erstaunlichsten Kapitel in der Geschichte der „Arisierung“ des Neuen Walls: Obwohl Herrmann Hammerschlag von 1938 an wegen angeblicher „Rassenschande“ erst im Untersuchungsgefängnis und dann im Zuchthaus Fuhlsbüttel einsaß, gelang es Alma, ihn freizubekommen. Sie hatte die nötigen Visa besorgt, sodass beide am 24. Oktober 1940, mehr als ein Jahr nach Beginn des Zweiten Weltkrieges, Hamburg in Richtung Osten verlassen konnten.

Alma Hammerschlag in ihrem Shanghaier Exil; sie organisierte die Ausreise aus Deutschland mit ihrem Mann Herrmann im Oktober 1940.
Alma Hammerschlag in ihrem Shanghaier Exil; sie organisierte die Ausreise aus Deutschland mit ihrem Mann Herrmann im Oktober 1940. © privat | Privat

Von Berlin gelangten sie per Zug über Moskau quer durch Sibirien bis in die chinesische Hafenstadt Dairen, heute Dalian, am Gelben Meer, von wo aus sie per Schiff nach Shanghai fuhren. Dort wurden die Hammerschlags von der japanischen Besatzungsmacht bis zu deren Abzug 1943 interniert, konnten aber später ein Hutgeschäft eröffnen. Ende der 1940er-Jahre wanderten sie nach Südafrika aus und lebten in Kapstadt. Von dort aus versuchte Alma Hammerschlag, die Rückgabe des Geschäfts zu erreichen – vergeblich. Stattdessen erhielten die Eheleute erst Mitte der 1950er-Jahre eine „Wiedergutmachungszahlung“ von 55.000 D-Mark, die zum Teil als Rente ausgezahlt wurde.

„Eine zentrale Erkenntnis meiner Arbeit ist, dass diejenigen, die nach dem Zweiten Weltkrieg ein Wiedergutmachungsverfahren betrieben haben, in den allermeisten Fällen nicht angemessen entschädigt worden sind“, sagt der Historiker Cord Aschenbrenner.

Haben Sie Dokumente, Schriftstücke oder Fotos zur Geschichte früherer jüdischer Geschäftsleute und Unternehmen am Neuen Wall? Hinweise bitte per E-Mail an hamburg@akademie.nordkirche.de oder postalisch an Dr. Jörg Herrmann, Evangelische Akademie der Nordkirche, Königstraße 52, 22767 Hamburg.