Hamburg. Nach der Zerstörung: Nazis zwangen die Jüdische Gemeinde zum Verkauf des Grundstücks. Nach 1945 hielt die Stadt am Besitz fest.

Es war exakt 16.55 Uhr am vergangenen Mittwoch, als die Bürgerschaft ein dunkles Kapitel der Hamburger Geschichte, um nicht zu sagen: einen langwährenden Skandal, beendete. Das Parlament beschloss einen gemeinsamen Antrag von SPD, Grünen, CDU und Linken zur Rückgabe des Grundstücks der ehemaligen Bornplatzsynagoge im Grindelviertel an die Jüdische Gemeinde – einstimmig, also auch mit den Stimmen der AfD und FDP.

Die Nazis hatten das Gotteshaus während der Pogromnacht im November 1938 verwüstet und geschändet. Die Jüdische Gemeinde wurde gezwungen, das Grundstück weit unter Wert zu verkaufen, und musste den 1939 erfolgten Abriss der Synagoge – welch eine Perfidie – auch noch selbst bezahlen. Dort, wo die alte Synagoge stand, soll in den kommenden Jahren die neue Bornplatzsynagoge entstehen. Es wird der erste Neubau eines jüdischen Gotteshauses nach 1945 in Deutschland sein, der an exakt derselben Stelle errichtet wird.

Synagoge am Bornplatz: Abgeordneter erinnert an Rolle der Stadt nach 1945

„Dieser Tag wird historisch und bewegt mich tief. Über 80 Jahre währendes Unrecht endet heute. Wir erhalten endlich zurück, was uns gehört hat, gehört und wieder gehören wird. Das ist großartig“, sagte Peter Zamory, Abgeordneter der Grünen und Mitglied der Jüdischen Gemeinde, in der Debatte über die Rückgabe des Synagogen-Grundstücks.

Doch Zamory wies auch darauf hin, dass es „zur historischen Wahrheit gehört, dass die Jüdische Gemeinde eigentlich zweimal enteignet wurde“. Der Grünen-Abgeordnete spielte darauf an, dass Senat und Bürgerschaft auch unter den demokratischen Bedingungen nach 1945 an dem Besitz des Grundstücks bis in die Gegenwart festhielten.

Jüdische Gemeinde erwarb das Grundstück 1902 für 90.459 Mark

Wie konnte es dazu kommen? Die Geschichte des Umgangs der Stadt mit dem Grundstück in attraktiver Lage in unmittelbarer Nähe zum Campus der Universität ist außergewöhnlich gut dokumentiert, aber bislang kaum bekannt. Der pensionierte Archivar Jürgen Sielemann hat die einschlägigen Akten im Staatsarchiv ausgewertet und ist dabei zum Teil auf haarsträubende Vorgänge gestoßen, Verstöße gegen geltendes Recht eingeschlossen.

Am Anfang stand der Erwerb des 3015,3 Quadratmeter großen Grundstücks zwischen Grindelhof, der damaligen Binderstraße und dem damaligen Bornplatz. Die Jüdische Gemeinde zahlte laut Kaufvertrag vom 10. Dezember 1902 exakt 90.459 Mark an die Stadt, um dort die Synagoge zu bauen. Die im historisierenden Stil errichtete Bornplatzsynagoge war eines der ersten frei stehenden jüdischen Gotteshäuser und als größte Synagoge Norddeutschlands auch Ausdruck der gewachsenen Bedeutung der Jüdischen Gemeinde zu Beginn des Jahrhunderts.

Nazis zwangen die Gemeinde, das Grundstück weit unter Wert zu verkaufen

Die Nationalsozialisten waren sich des hohen symbolischen Werts der Bornplatzsynagoge bewusst, und NS-Gauleiter Karl Kaufmann drängte wohl auch deswegen auf einen schnellen Abriss. „Der Herr Reichsstatthalter hat gestern in einer Besprechung... angeordnet, dass die Synagoge am Bornplatz möglichst sofort abgebrochen werden soll. Er erwartet, dass der Erwerb des Grundstücks in allerkürzester Zeit durchgeführt wird“, heißt es in einer Mitteilung der Bauverwaltung vom 9. März 1939 an die Stadtkämmerei.

Die demütigenden Verhandlungen über den „Verkauf“ des Grundstücks übernahm aufseiten der Jüdischen Gemeinde Leo Lippmann. Der Jurist und stellvertretende Vorsitzende der Gemeinde war in der Weimarer Republik hoch angesehener Staatsrat in der Finanzbehörde gewesen und 1933 von den Nazis sofort entlassen worden. Lippmann, nach dem heute ein Saal in der Behörde benannt ist, nahm sich am 11. Juni 1943 zusammen mit seiner Frau das Leben, als beider Deportation in das KZ Theresienstadt kurz bevorstand.

Jüdische Gemeinde musste den Abriss der Synagoge selbst bezahlen

Der von der Stadt diktierte Kaufpreis orientierte sich exakt an jenen 90.459 Mark, die die Jüdische Gemeinde 1902 für den Erwerb des Grundstücks gezahlt hatte, ohne die Wertsteigerung oder Inflation im Laufe von mehr als 35 Jahren zu berücksichtigen. Abgezogen wurden 5000 Mark, die die Gemeinde für den Abriss der Synagoge entrichten musste. Archivar Sielemann kann anhand eines Schreibens des Landesfürsorgeamtes nachweisen, dass der verbliebene Kaufpreis in Höhe von 85.459 Mark von der Stadt tatsächlich nie gezahlt wurde. Die Nazis errichteten unmittelbar neben der abgerissenen Synagoge einen Hochbunker, der heute noch steht und nun laut dem Beschluss der Bürgerschaft aus dieser Woche abgerissen werden soll, um für den Synagogen-Neubau Platz zu machen.

Die wenigen Jüdinnen und Juden, die nach der Shoah in Hamburg lebten, verlangten das Synagogengrundstück zurück. „Die Jüdische Gemeinde ... hat den Anspruch auf Rückgabe des obigen Grundbesitzes (auf dem die Synagoge stand, die Red.) mit der Begründung angemeldet, dass ihr derselbe unter Nötigung aus rassischen Gründen entzogen worden sei“, heißt es in einem Schreiben der Wiedergutmachungsstelle an die Liegenschaftsabteilung vom 17. August 1949.

Der Fall zähle „zu den fatalsten Beispielen personeller Kontinuität“ in der Nachkriegszeit

Die erste Antwort des Liegenschaftsamtes fiel ausgesprochen kühl aus und gab schon die Richtung des künftigen Umgangs vor: „Ich bemerke zu der Angelegenheit, dass die auf dem Grundstück befindliche Synagoge zerstört ist. Der größte Teil der abgeräumten Fläche ist an die Fa. Travers Omnibus City vermietet, der Rest des Grundstücks wird von dem Hochbunker, der vom Oberfinanzpräsidenten verwaltet wird, in Anspruch genommen.“

Geschrieben hat den Vermerk der Regierungsamtmann Hans-Jochim Rechter. Fast unglaublich: Der Liegenschaftsbeamte besorgte den Zwangsverkauf zahlreicher weiterer jüdischer Gemeindegrundstücke am 18. Dezember 1942 und war nun ausgerechnet für die Bearbeitung von Anträgen auf Rückerstattung dieser Grundstücke beteiligt. Für Sielemann, der sonst in seinem Urteil sehr zurückhaltend ist, gehört der Fall Rechter „zu den fatalsten Beispielen der personellen Kontinuität in der hamburgischen Verwaltung der Nachkriegszeit“.

Jüdische Gemeinde wurde rechtskräftig als Rechtsnachfolgerin anerkannt

Juristisch war die Jüdische Gemeinde auf der sicheren Seite. Die „Wiedergutmachungskammer“ des Landgerichts urteilte am 22. September 1950 anhand zweier Fälle aus Altona, dass die am 8. November 1948 auf Grund von Beschlüssen von Senat und Bürgerschaft „als Körperschaft öffentlichen Rechts wieder entstandene Jüdische Gemeinde in Hamburg“ als „Rechtsnachfolgerin der Deutsch-Isralitischen Gemeinde in Hamburg anzusehen“ ist. „Dieser Beschluss ist rechtskräftig“, heißt es schließlich noch.

Die Entscheidung des Landgerichts hätte nahegelegt, ja erzwungen, dass der Senat auch im Fall des Bornplatz-Grundstücks mit der Jüdischen Gemeinde als Rechtsnachfolgerin verhandelt. Doch genau das geschah nicht. Es kommt stattdessen zu Gesprächen mit der internationalen Organisation Jewish Trust Corporation (JTC), die Jüdische Gemeinde bleibt ausgeschlossen.

Stadt Hamburg wollte die Fläche für Erweiterungsbauten der Universität nutzen

In den Verhandlungen geht es überhaupt nicht um die Rückerstattung von Grundstücken, die bis zu den Zwangsverkäufen im Besitz der Jüdischen Gemeinde und deren Mitgliedern waren. Es geht vielmehr um eine Art summarische Abschlagszahlung an die JTC, mit der alle Ansprüche abgegolten sein sollen. Hinhaltenden Streit gibt es allenfalls um die Höhe der zu zahlenden Beträge.

Die Stadt hatte die Absicht, die zahlreichen Grundstücke, häufig in den besten Lagen der Stadt, dauerhaft in ihren Besitz zu nehmen, um sie für den Wiederaufbau zu nutzen. An ein Wiederentstehen jüdischen (Gemeinde-)Lebens in Hamburg wurde damals offensichtlich nicht gedacht. Von besonderem Interesse war das Synagogen-Grundstück am Bornplatz. In einem Vermerk hieß es 1951, dass die Hochschulabteilung „nach wie vor ein sehr starkes Interesse an dem Grundstück“ hat. Und 1952: „Das Grundstück wird für Erweiterungsbauten der Universität benötigt.“ Es folgt ein Vorschlag, wie weit man den Preis wohl drücken könnte.

Vergleich sah Abgeltung aller Rückerstattungsansprüche gegen 1,5 Millionen D-Mark vor

Den Vorschlag der Stadt, 50.000 D-Mark für das Grundstück zu zahlen, lehnte die JTC auch mit dem Hinweis ab, dass dort eine wertvolle Synagoge gestanden habe, die von den Nazis zerstört worden sei. Die Entgegnungen trugen zum Teil absurde Züge. „Der Abbruch selbst war vom Reichsstatthalter angeordnet worden, nicht von der Hansestadt Hamburg“, lautete eine Rechtfertigung für den niedrigen Preis.

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Am Ende einigten sich beide Seiten in einem Vergleich am 9. Dezember 1953 auf eine Paketlösung: Die Stadt zahlte für insgesamt zwölf Grundstücke 1,5 Millionen D-Mark: Außer dem Synagogengrundstück zählten dazu die Gebäude der Israelitischen Töchterschule im Karoviertel, das Israelitische Krankenhaus auf St. Pauli und die Talmud-Tora-Oberrealschule am Grindelhof direkt neben der Synagogenfläche.

Hamburger Bürgerschaft beschloss die zweite Enteignung ohne jede Aussprache

Die Bürgerschaft hatte dem Vorgehen des Senats bereits am 14. Oktober 1953 zugestimmt und bewilligte 1,5 Millionen D-Mark für den „Gesamtvergleich zur Erledigung von Rückerstattungsansprüchen“ – ohne jede Aussprache. Hinzu kam noch ein weiteres Paket zahlreicher kleinerer Grundstücke über noch einmal 1,8 Millionen D-Mark.

Die JTC nutzte das Geld nach Informationen des Abendblatts für den Bau von jüdischen Altenheimen und auch Synagogen unter anderem in Israel. Da die Jüdische Gemeinde in Hamburg als Rechtsnachfolgerin nicht an den Verhandlungen beteiligt war, ist durchaus von einer zweiten Enteignung zu sprechen.

Synagoge am Bornplatz: Seit 1945 erst eine Rückgabe eines Grundstücks an die Jüdische Gemeinde

Bislang hat es lediglich eine Rückgabe gegeben: Im November 2002 beschloss die Bürgerschaft auf Antrag des CDU-geführten Senats, das Eigentum am Grundstück der Talmud-Tora-Schule auf die Jüdische Gemeinde zu übertragen. Heute sind dort die jüdische Joseph-Carlebach-Schule und die Gemeindeverwaltung untergebracht.

Angesichts der beschämend langen Dauer bis zur Rückgabe des Synagogen-Grundstücks bat SPD-Fraktionschef Dirk Kienscherf die Jüdische Gemeinde in der Bürgerschaftsdebatte um Entschuldigung. „Sie wärmt das jüdische Herz“, sagte der Grünen-Abgeordnete Peter Zamory in seiner Rede.