9. November 1938: Reichspogromnacht läutet Holocaust ein
Es war eine Feuerwand bis dato beispielloser offener Gewalt, mit der die Nationalsozialisten das jüdische Volk attackierten. Geplant von langer Hand, vollzogen und gefeiert mit bestialischem Genuss. In einer Vielzahl deutscher Städte schlugen fanatisierte SA- und SS-Trupps jüdische Geschäfte, Synagogen, Gemeindehäuser und andere jüdische Einrichtungen kurz und klein, setzten sie in Brand, misshandelten und ermordeten zahlreiche Juden. Die konzertierte Aktion der NS-Führung ging mit der zynischen Bezeichnung "Reichskristallnacht" in die Geschichte ein. Das braune Regime ließ Gläser klirren, ließ es schon mal krachen - zehn Monate, bevor es den Zweiten Weltkrieg anzettelte. Die Reichspogromnacht, so der von Historikern der Nachkriegszeit korrigierte Name, jährt sich heute zum 75. Mal.
Der von Joseph Goebbels dirigierte Propagandaapparat begründete die reichsweite Pogromnacht vom 9. November 1938 mit einem Attentat, das der 17-jährige Jude Herschel Grynspan am 7. November auf den Legationssekretär der deutschen Botschaft in Paris, Ernst vom Rath, verübt hatte. Der Diplomat war am 9. November an den Folgen gestorben.
Doch dieser Anschlag, mit dem Grynspan gegen die Behandlung der Juden durch das NS-Regime protestieren wollte, war nur ein Vorwand. Die zeithistorische Forschung hat ergeben, dass die radikalen Antisemiten in der Führung der NSDAP, allen voran Propagandaminister Goebbels und der fränkische Gauleiter Julius Streicher, mit voller Billigung Hitlers schon seit dem Frühjahr 1938 einen Pogrom gegen das deutsche Judentum vorbereiteten. Sie hatten nur auf einen günstigen Zeitpunkt gewartet, um in die Wege zu leiten, was Goebbels dann in bereits bewährter demagogischer Manier als "spontanen Ausbruch des Volkszorns" verkaufte.
In München hatte sich am 9. November 1938 die gesamte NS-Prominenz im Bürgerbräukeller zur Gedenkfeier des Hitler-Putsches von 1923 eingefunden. Als die Todesnachricht aus Paris eintraf, erteilte Hitler die Genehmigung für die lange zuvor geplanten Gewalttätigkeiten. Sie wurden also zentral von München aus in Gang gesetzt, erreichten in Hamburg die Oberabschnittsleitungen von SA und SS in den späten Abendstunden und wurden unverzüglich umgesetzt.
Kaufmann: "Eine unwürdige Lösung"
Der Pogrom vom 9. November 1938 löste in der Bevölkerung überwiegend kritische Reaktionen aus. Abgelehnt wurden in Hamburg und in anderen Städten weniger die Maßnahmen gegen die Juden an sich, sondern vor allem die damit verbundenen Gewalttätigkeiten. Dem damaligen Gauleiter und Reichsstatthalter Karl Kaufmann entging diese Stimmung nicht, die vor allem in der Wirtschaft anzutreffen war. Das führte zu bemerkenswert selbstkritischen Äußerungen des damals mächtigsten Mannes in der Hansestadt. Vor dem Plenum der Handelskammer nannte Kaufmann im Januar 1939 die Exzesse des 9. November 1938 eine "unwürdige Lösung" und versicherte den versammelten Kaufleuten, dass sich "derartige Dinge niemals wiederholen werden".
Karl Kaufmann hat zur Reichspogromnacht persönlich keine Zerstörungsbefehle erteilt. Seine spätere Behauptung, er habe in jener Nacht die Kreisleiter der NS-Partei angewiesen, Zerstörungen zu verhindern, sind aber widerlegt. Und Hamburgs Gauleiter ließ keinen Zweifel an einer schnellen "Endregelung des Judenproblems", nur eben nicht durch die Gewalt der Straße, sondern auf dem administrativen, dem Verordnungsweg. Den Juden wurde planmäßig und systematisch die wirtschaftliche Existenzgrundlage genommen - die Vorstufe zur späteren "Endlösung" in Gaskammern und Verbrennungsöfen.