Hamburg. Die Stadt tut sich schwer mit Gedenken an die Taten. Der Versuch im Stadthaus ist gescheitert, Neustart folgt – fast 77 Jahre danach.

Manchmal bedarf es nur einer kleinen Geschichte, um ein großes Versagen offenzulegen. Der Arzt und Grünen-Bürgerschaftsabgeordnete Peter Zamory benötigte dafür am Mittwoch in der Bürgerschaftsdebatte über den Gedenkort Stadthaus, das frühere Gestapo-Hauptquartier, nur eine Minute, in der er seine Familiengeschichte erzählte.

„1942 starb meine Großmutter an Tuberkulose, und ihre beiden Töchter, damals 13 und 15 Jahre alt, wurden als sogenannte jüdische Halbwaisen aufgefordert, sich in einem jüdischen Waisenhaus in der Rothenbaumchaussee einzufinden. Von diesem Waisenhaus ist niemand zurückgekehrt. In dieser Situation hat mein Urgroßvater all seinen Mut zusammengenommen und ist aus Altona nach Hamburg zu den Stadthöfen gefahren, um in der Gestapo-Zentrale zu verlangen, dass seine Enkelinnen bei ihm bleiben sollten. Dies wurde ihm gewährt. Deswegen kann ich heute hier stehen“, sagte Zamory mit stockender Stimme und hielt kurz inne.

Nationalsozialismus: Gedenkstätten sollen Erinnern möglich machen

„Das 13-jährige Mädchen, das damals von meinem Urgroßvater gerettet wurde, ist am letzten Sonntag 92-jährig nach einem erfüllten Leben verstorben“, fügte der Grünen-Abgeordnete hinzu, um gleich danach das Persönliche ins Politische zu wenden. „Die Zeitzeugen verlassen uns, umso wichtiger ist es, in Hamburg Gedenk- und Lernorte zu schaffen, die sich speziell an die junge Generation und speziell an die junge Generation mit Migrationshintergrund wenden, um das Erinnern und das Gedenken wachzuhalten“, sagte Zamory, der erinnerungspolitischer Sprecher seiner Fraktion ist.

Der Arzt aus Altona musste es nicht einmal aussprechen, weil alle es wussten oder jedenfalls wissen konnten: Auch fast 77 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges gibt es kein würdiges Gedenken an die Verbrechen des Nationalsozialismus in dem Haus an zentraler Stelle der Stadt, in dem die Nazischergen Tausende folterten und Hunderte ermordeten. Vom einstigen Gestapo-Hauptquartier des gründerzeitlichen Gebäudekomplexes aus wurde die Deportation der Jüdinnen und Juden, der Roma und Sinti über den Hannoverschen Bahnhof in die Konzentrationslager geplant und organisiert.

Stadthaus war die „Zentrale des Terrors“

Von hier aus wurde der Einsatz der berüchtigten „Polizeibataillone“ organisiert, die am Holocaust aktiv beteiligt waren. Das Stadthaus war die „Zentrale des Terrors“, wie der Linken-Abgeordnete Norbert Hackbusch bemerkte. „Die Bedeutung des Stadthauses für die Aufarbeitung der nationalsozialistischen Verbrechen in dieser Stadt kann kaum überbewertet werden“, sagte Kultursenator Carsten Brosda (SPD).

Viele Jahre lang hatte die Baubehörde im Stadthaus ihren Sitz. Seit den 80er-Jahren wies lediglich eine beinahe versteckt angebrachte Gedenktafel im Eingangsbereich auf die hier verübten Nazi-Gräuel hin. Die Stadt hatte die Erinnerung an die schreckliche Geschichte des Ortes „über Jahrzehnte schändlich vergessen“, wie Hackbusch es ausdrückte. Und erst nach der Jahrtausendwende mehrten sich die Forderungen nicht zuletzt von den Verbänden der Opfer des Nationalsozialismus nach einer Gedenkstätte und Ausstellung in dem denkmalgeschützten Gebäudekomplex.

Quantum AG erwarb Komplex für 54 Millionen Euro

„Von großer Bedeutung für die Gedenkstättentopographie in Hamburg wird auch die weitere Entwicklung des Gebäudeensembles an der Stadthausbrücke sein, dessen Verkauf bevorsteht“, schrieb immerhin der damalige schwarz-grüne Senat Ende 2009 in seiner Stellungnahme zum bürgerschaftlichen Ersuchen „Gesamtkonzept für Orte des Gedenkens an die Zeit des Nationalsozialismus 1933–1945 in Hamburg“.

Im Rahmen eines Großverkaufs städtischer Immobilien zumeist in Toplage durch den Ole-von-Beust-Senat erwarb die Quantum AG für 54 Millionen Euro im November 2009 den Komplex zwischen Neuem Wall und Großen Bleichen, der nun „Stadthöfe” heißen und nach umfänglicher Sanierung eine exklusive Einkaufspassage mit Restaurants, Hotel, Wohnungen und Büros werden sollte. Teil des Kaufvertrages war die Verpflichtung der Quantum AG, eine Gedenkstätte auf eigene Kosten dauerhaft einzurichten.

Senat wurde heftig kritisiert

„Die von dem neuen Eigentümer vertraglich zugesagte Fläche von 750 Quadratmetern für die Nutzung ,Gedenkstätte‘ sieht einen ,Lernort mit unterschiedlichen Inhalten (Ausstellung, Seminare, Veranstaltungen, Inszenierungen, Dokumentationen) zur Nutzung des Stadthauses in den Jahren 1933 bis 1943‘ einschließlich der Einbeziehung von Räumen vor, ,die als historische Stätten von der Verfolgung des Widerstandes zeugen‘“, heißt es zuversichtlich in einer Senatsdrucksache vom 30. April 2013. Inzwischen regierten die Sozialdemokraten, und der Erste Bürgermeister hieß Olaf Scholz (SPD).

Von Beginn an kritisierten nicht nur die Opferverbände das Vorgehen des Senats scharf, die Erinnerung an die Gewalttaten der Nazis einem profitorientierten Unternehmen zu überlassen. Als der Gedenkort Stadthaus schließlich 2018 eröffnet wurde, war das vertraglich fixierte Vorhaben stark geschrumpft. Dreh- und Angelpunkt war nun die Buchhandlung Lesesaal mit einem angeschlossenen Café und einer 70 Quadratmeter großen Ausstellungsfläche. Für Veranstaltungen mussten Teile der Ausstellung beiseitegeräumt werden. Die 750 Quadratmeter ergaben sich nur unter Einbeziehung aller Neben-, Verkehrs- und teilgenutzten Flächen.

Gedenkstätten-Konzept steht vor dem Aus

Vorschläge des von Brosda aufgrund des Protests ins Leben gerufenen Beirats zur Erweiterung der für den Gedenk- und Lernort nutzbaren Fläche – etwa die benachbarte ehemalige Meldehalle des Stadthauses – wurden nicht verfolgt oder scheiterten an den Eigentümern. In der vergangenen Woche erklärte die Buchhändlerin, dass sie ihr Geschäft aufgibt. Damit steht das Gedenkstätten-Konzept in der jetzigen Form vor dem Aus. Der Kultursenator kündigte an, in Gesprächen mit den neuen Eigentümern, der Ärzteversorgung Niedersachsen, ein neues Konzept mit der städtischen Stiftung Hamburger Gedenkstätten und Lernorte als Betreiberin vereinbaren zu wollen.

„Die Privatisierung der Erinnerungskultur in Hamburg ist gescheitert“, sagte Zamory, der nun auf eine zweite Chance hofft. „Jetzt besteht die Chance, die Privatisierung des Gedenkens zurückzunehmen und die Stiftung Hamburger Gedenkstätten und Lernorte unter Einbeziehung der Verfolgten- und Opferverbände mit der Gestaltung eines angemessenen und würdigen Geschichtsortes, der diesen Namen wirklich verdient, zu beauftragen“, heißt es in einer Erklärung der Initiative Gedenkort Stadthaus, an der unter anderem die Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes/Bund der Antifaschisten beteiligt ist.

Auch SPD in der Verantwortung

„Die SPD-Fraktion hat sich damals gegen diese Lösung ausgesprochen“, sagte die SPD-Abgeordnete Christel Oldenburg in der Bürgerschaftsdebatte und meinte den Verkauf der Immobilie und die Privatisierung des Gedenkens. Das stimmt. Doch sollten sich die Sozialdemokraten hüten, das hohe Ross moralischer Überlegenheit zu besteigen. Ein Blick in die Parteigeschichte zeigt, dass der Unwille oder das Unvermögen, an die in dieser Stadt verübten NS-Verbrechen angemessen zu erinnern, erstaunlicherweise lange auch in der SPD, deren Mitglieder selbst Opfer der Nationalsozialisten waren, sehr verbreitet war.

Heute ist die KZ-Gedenkstätte Neuengamme, um die wichtigste Einrichtung zu nehmen, ein auch international anerkannter Ort der Erinnerung. Wer das Gelände betritt, kann sich kaum der beklemmenden Wirkung des einstigen Appellplatzes mit den Grundrissen der Lagerbaracken entziehen. Doch der Weg zur Einrichtung der Gedenkstätte war ausgesprochen schwierig und von heute kaum mehr nachvollziehbaren Widerständen gekennzeichnet.

Gefängnis auf dem Gelände eines Konzentrationslagers

Detlef Garbe, bis 2019 Leiter der Gedenkstätte, sagte rückblickend, Neuengamme sei bis in die 80er-Jahre hinein ein „vergessenes KZ“ gewesen, weil es trotz seiner einstigen Größe aus dem öffentlichen Bewusstsein verdrängt und vergleichsweise unbekannt geblieben war. Es war die Politik der zumeist SPD-geführten Senate, das Areal anderweitig zu nutzen, auch um die „Schaffung einer Wallfahrtsstätte“ zu verhindern, wie der damalige Bürgermeister Max Brauer, der selbst vor den Nazis fliehen musste, Anfang der 50er-Jahre einmal bemerkte. Bereits 1947 war auf dem Gelände des ehemaligen Konzentrationslagers ausgerechnet ein Gefängnis eröffnet worden.

„Das Schandmal der Vergangenheit möge ausgelöscht werden und Neuengamme uns eine Verpflichtung zur Wiedergutmachung bedeuten, die wir willig übernehmen, um aus dieser Anstalt nunmehr eine vorbildliche Anstalt der Menschlichkeit und des modernen Strafvollzugs zu schaffen“, schrieb ein leitender Beamter der Gefängnisbehörde an die britischen Besatzungsbehörden.

Senat ließ weiteres Gefängnis bauen

Eine erste Gedenkstätte entstand 1953 nur auf Drängen der Überlebenden und auch nur außerhalb des einstigen KZ-Geländes. Ein Mahnmal kam 1965 hinzu und wurde 1981 um ein Dokumentenhaus ergänzt. Andererseits wurde 1970 auf Betreiben des SPD-geführten Senats sogar ein weiteres, modernes Gefängnis auf dem KZ-Gelände gebaut, die Justizvollzugsanstalt (JVA) Vierlande, ohne den Verband der Überlebenden, die „Amicale Internationale de Neuengamme“, zu informieren. Laut Garbe wurde in den politischen Gremien und in der Öffentlichkeit die einstige Existenz des Konzentrationslagers auf dem Gelände nicht einmal thematisiert.

Erst Ende der 70er-Jahre wuchs die Bereitschaft, sich mit der NS-Vergangenheit intensiver auseinanderzusetzen. Mitte der 80er-Jahre beschloss der Senat, die noch erhaltenen Gebäude und Geländeteile des KZ außerhalb der Gefängnismauern unter Denkmalschutz zu stellen, „aber nicht museal zu gestalten“. Das bis dahin kommerziell genutzte Klinkerwerk, in dem schon KZ-Gefangene unter unerträglichen Bedingungen arbeiten mussten, wurde geschlossen und als Baudenkmal gesichert.

„Was falsch war, sollen wir so nennen"

Einen Schlussstrich unter den unwürdigen Umgang mit der Erinnerung an die NS-Gräuel in Neuengamme zog erst der damalige Erste Bürgermeister Henning Voscherau (SPD) 1989. Er setzte einen Senatsbeschluss zur Aufgabe der JVA auch gegen parteiinterne Widerstände im Senat durch. „Was falsch war, sollen wir so nennen – und endlich ändern. Der Senat und diese Stadt werden die Justizvollzugsanstalt Vierlande verlegen, werden die früheren Gebäude des Konzentrationslagers der Gedenkstätte zuführen. Das ist nicht Wiedergutmachung, die kann es nicht geben. Es ist das Eingeständnis einer Unzumutbarkeit“, erklärte Voscherau unmissverständlich.

Als alles auf einem guten, wenn auch langsamen Weg schien, sorgte eine letzte politische Kapriole für heftige Irritationen. Noch während der Koalitionsverhandlungen zwischen CDU, Schill-Partei und FDP erklärte der designierte Erste Bürgermeister Ole von Beust (CDU) im September 2001, der neue Senat werde auf die Schließung der JVA Vierlande verzichten, weil die Stadt die 400 modernen Haftplätze benötige. Nach massiven auch internationalen Protesten lenkte der Mitte-rechts-Senat im November 2001 schließlich ein. Erst 2006 war das Gefängnis abgerissen.

Gedenkstätten: Es liegt jetzt an Kultursenator Brosda

Es liegt jetzt vor allem an Kultursenator Brosda – wie schon bei der kürzlichen Einigung über den Standort des Dokumentationszentrums Hannoverscher Bahnhof –, auch im Stadthaus für ein dauerhaftes würdiges Gedenken an die NS-Verbrechen zu sorgen. Er wird die Eigentümer nicht aus der Verantwortung entlassen wollen, hat aber auch angekündigt, den Beirat und die Verfolgtenverbände in die Überlegungen einzubeziehen. Es wird vor allem die Aufgabe der Stiftung Hamburger Gedenkstätten mit Vorstand Detlef Garbe sein, ein alle Seiten überzeugendes Konzept für den Gedenk- und Lernort zu entwickeln.

Kernstück wird wohl der Raum der aktuellen Ausstellung sein, ergänzt um die bisher von Buchhandlung und Café genutzte Fläche. Besser als bisher müsste der sogenannte Seufzergang im Keller des Hauses einbezogen werden, über den die Inhaftierten einst in die Verhör- und Folterräume geführt wurden. Der Gang ist das letzte original erhaltene Gebäudeteil aus der NS-Zeit. Eine zeitnahe Verständigung wäre sehr wünschenswert – fast 77 Jahre danach ...