Hamburg. Zeugen Jehovas erreichen 20.000 Zuschriften nach der Tat. Was die Überlebenden machen, und wie es jetzt weitergeht.
Die Frage ist eigentlich ganz einfach: Kann man für eines der schwersten Verbrechen Hamburgs seit dem Zweiten Weltkrieg die richtigen Worte finden? Die Antwort darauf ist kompliziert und einfach zugleich. Die simple Kurzform: Man kann. Die etwas längere Variante: Man kann – mit ganz viel Geduld, Kraft, Unterstützung, Durchhaltevermögen, Empathie, einer positiven Grundeinstellung und dem unerschütterlichen Glauben, dass das Leben trotz allem gut ist. Und dass es weitergehen wird. Immer weiter.
Daran glaubten und glauben noch immer Julian, Kevin und Mary, Fee und Marcel sowie Jonathan. Sie alle haben am 9. März dieses Jahres eines der schlimmsten Verbrechen der vergangenen Jahrzehnte in Hamburg nur knapp überlebt. Philipp F., ein offenbar psychisch Erkrankter, hatte im Gemeindezentrum der Zeugen Jehovas an der Deelböge in Alsterdorf an jenem Abend ein Massaker angerichtet. In nur 16 Minuten erschoss er sechs Erwachsene, ein ungeborenes Baby und richtete schließlich sich selbst. Julian, Kevin und Mary, Fee und Marcel sowie Jonathan wurden nicht tödlich getroffen, waren aber dabei, als ihre Freunde starben. Doch trotz dieser traumatischen Erfahrung hatten sie sich rund 100 Tage nach dem sogenannten Amoklauf von Alsterdorf vorgenommen, diesen Schrecken noch einmal in langen Gesprächen mit dem Abendblatt zu verarbeiten.
Amoklauf Alsterdorf: Sechs Zeugen berichteten nach der Bluttat
Am Ende waren es viele Worte, die nicht nur die sechs fanden. Mehr als zehn Stunden waren die offiziellen Gespräche, die auf Band aufgezeichnet wurden. 30 Din-A4-Seiten lang waren die verschriftlichen Aussagen, die jeder Einzelne von ihnen vor der Veröffentlichung noch einmal autorisierte. Und zum Schluss dieses wochenlangen Prozesses erschien der Abendblattartikel „Die Zeugen“ in einer epischen Länge von drei Zeitungsseiten, beziehungsweise auf abendblatt.de mit rekordverdächtigen 32.000 Zeichen.
Oder anders: mit knapp 5000 Worten.
Wiedersehen nach dem Tod? Täter Philipp F. feuerte 135 Schuss ab
Beschrieben wurden die Minuten der Tat, wie Philipp F. durch das Fenster in den Saal schoss, insgesamt 135 Schuss aus einer halbautomatischen Pistole des Typs Heckler & Koch P30 abfeuerte und mit den ersten vier Schüssen Jonathan (38) traf. Doch es ging auch darum, wie die Polizei in nur wenigen Minuten vor Ort war – und ein noch schlimmeres Blutvergießen verhinderte. Und vor allem, wie es nach diesem schicksalhaften Abend weiterging. Im Leben der sechs Zeugen, aber auch bei der ganzen Gemeinschaft. Wie geholfen wurde, unterstützt, gemeinsam gebetet, getrauert, gelacht, geweint – und ganz viel geredet.
Die Macht der Worte half den Betroffenen. Darüber zu sprechen, noch einmal über alles nachzudenken und auch diese Gedanken noch einmal zu lesen. An die Verstorbenen zu erinnern – und zu erklären, dass sie alle fest daran glauben, dass in ihrer Gemeinschaft das Wiedersehen nach einem Abschied vorgesehen ist. Denn die Zeugen Jehovas glauben an ein Wiedersehen nach dem Tod. In ihrer heiligen Schrift heißt es: „Den Tod wird es nicht mehr geben.“ (Offenbarung 21:4).
Zeugen Jehovas gelten seit 2000 als rechtstreu und nicht als Sekte
Obwohl die Zeugen Jehovas seit 2017 in allen deutschen Bundesländern als Körperschaft des öffentlichen Rechts anerkannt und somit den Kirchen gleichgestellt sind, ist das Image der Glaubensgemeinschaft noch immer schlecht. Mutmaßlich, weil sie ihre eigene Bibelübersetzung sehr wörtlich interpretiert, sich streng an urchristliche Vorbilder hält, missioniert und mitunter rigide mit Aussteigern umgeht. Was viele aber auch erst nach dem Amoklauf von Alsterdorf über die Gemeinschaft kennenlernten, ist ihr pazifistisches Weltbild, ihren Optimismus und die Tatsache, dass die Zeugen Jehovas laut Bundesverfassungsgerichtsbeschluss aus dem Jahr bereits seit 2000 als rechtstreu und eben nicht als Sekte gelten.
Das alles wurde schon oft gesagt – und auch geschrieben. Doch was nach den vielen Wörtern im Abendblattartikel passierte, damit hatte wahrscheinlich keiner der Zeugen und auch niemand beim Abendblatt gerechnet. Es folgen: noch viel, viel mehr Worte.
Zeugen Jehovas erhielten rund 20.000 Zuschriften nach dem Amoklauf
Unzählige Briefe aus der ganzen Welt kamen sowohl im neuen Gemeindezentrum der Zeugen Jehovas in Eidelstedt an als auch in der Redaktion des Abendblatts. Handgeschriebene Briefe per Post und elektronische Nachrichten per E-Mail. Einer schrieb zum Beispiel, dass er zwar weder ein Zeuge Jehovas noch in Hamburg ansässig sei. Aber er habe sich vor allem gefreut, eine neue, objektive und neutrale Sichtweise auf die Zeugen zu erhalten. Eine andere, eine Zeugin Jehovas, die aber nicht aus Hamburg kam, schrieb: „Wir sind davon überzeugt, dass alles Unglück, alles Leid von der Erde beseitigt wird und wir in Zukunft ,das wirkliche Leben‘ genießen können.“ Und auch das waren Worte, die halfen. Beim Überleben. Beim Leben. Und beim wirklichen Leben.
Die meisten Worte in Form von Briefen und Karten kamen aber direkt im neuen Gemeindezentrum in Eidelstedt an, wo sich die Alsterdorfer Gemeinde mit 20 weiteren Glaubensgemeinschaften sechs Säle teilt. Das alte Zentrum an der Deelböge soll dagegen verkauft werden. Es gibt Zeugen, die das bedauern – und es gibt Zeugen, die froh über den Umzug sind. Wirklich alle sind aber froh über die rund 20.000 Zuschriften, die es mittlerweile sein sollen – und die Woche für Woche in einem extra dafür eingerichteten Raum im ersten Stock des Gemeindezentrums aufgehängt werden. Jeder, der will, kann vor oder nach einem Gottesdienst hier Trost und Halt suchen.
Amoklauf Alsterdorf: Am Tatabend waren 1017 Polizisten im Einsatz
Dieser ist umso mehr vonnöten, da auch bei der politischen Aufarbeitung des Amoklaufes viele Wörter benutzt wurden – aber kein einziges davon so richtig helfen konnte. In gleich drei Innenausschusssitzungen wurde der Amoklauf intensiv besprochen. Zeugen wurden verhört, die Polizei gab Auskunft, die Politik fragte. Die Zahlen des Schreckens: 135 Schüsse, 16 Minuten, 19 Notrufe. 1017 Polizisten waren im Einsatz. Allein die erste Sitzung, in der neben all dieser Zahlen vor allem ein anonymer Brief im Fokus stand, dauerte vier Stunden.
Doch der Brief mit den sehr deutlichen Worten, die mutmaßlich Philipp F.s Bruder lange vor dem Amoklauf an die Waffenbehörde geschickt hatte, dürfte die Glaubensgemeinschaft im Nachhinein erschüttern. Und obwohl Oppositionspolitiker wie Deniz Celik von den Linken mehrfach bei Innensenator Andy Grote anmahnten, über den genauen Inhalt des Briefes informiert zu werden, war es erst fünf Monate nach der Tat der „Stern“, der den Inhalt veröffentlichte. Wort für Wort.
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„Lassen Sie sich nicht täuschen“, hieß es in dem anonymen Brief an die Hamburger Waffenbehörde, einer Abteilung der Polizei. Und über Täter Philipp F.: „Seit mehr als zwei Jahren leidet er an einer Psychose mit Verfolgungswahn und wahrscheinlich an einer Schizophrenie, denn er hört auch täglich Stimmen. (…) Er hegt eine besondere Wut auf religiöse Anhänger, besonders aber gegenüber den Zeugen Jehovas und seinem ehemaligen Arbeitgeber. Seine religiösen Wahnvorstellungen hat er in einem Buch verarbeitet, welches er im letzten Jahr geschrieben hat und aktuell vermarkten will.“ Und weiter: „Sein Verfolgungswahn, gepaart mit dem Hören der Stimmen, lässt mich, seitdem ich weiß, dass er im Besitz einer Waffe ist, nicht mehr schlafen.“
Der Brief und der Umgang damit brachten sowohl Innensenator Grote als auch den im Oktober scheidenden Polizeipräsidenten Ralf Martin Meyer unter Druck. Besonders Meyer wurde immer wieder kritisiert, weil er sich bei einer Pressekonferenz direkt nach der Bluttat vor die Waffenbehörde gestellt und gesagt hat, dass es bei einer Beurteilung von Todesschütze Philipp F. im Vorfeld keine Fehler gegeben habe.
Hamburgs Polizeipräsident Meyer räumt mittlerweile Fehler ein
In einem Interview mit der „Zeit“ räumte er nun gerade erst in der vergangenen Woche ein, dass dieser Auftritt rückblickend „ein großer Fehler“ gewesen sei. Die Polizeibeamtinnen und Beamten hätten vielen Zeugen Jehovas das Leben gerettet, sagte der 63-Jährige. „Aber, und das muss ich inzwischen klar sagen, es sind im Vorfeld auch Fehler geschehen. Und auch ich habe Fehler in der Kommunikation gemacht.“
Ob die Zeugen Jehovas dem Polizeipräsidenten diese Worte der Reue abnehmen, ist unbekannt. Klar ist aber nach Abendblatt-Informationen, dass man aus dem Kreis der Verantwortlichen der Glaubensgemeinschaft noch immer ganz genau verfolgt, ob die offenkundigen Versäumnisse im Vorfeld der Schreckenstat doch noch zu strafrechtlichen und dienstrechtlichen Konsequenzen führen. Denn so wichtig auch jedes einzelne Wort im Zusammenhang mit dem Amoklauf auch ist – an dieser Stelle sind Taten gefragt.
Den sechs Zeugen geht es den Umständen entsprechend gut
Ein paar versöhnliche Worte ganz zum Schluss. Julian, Kevin und Mary, Fee und Marcel sowie Jonathan geht es – den Umständen entsprechend – gut. Sogar besser, als man es nach so einem einschneidenden Erlebnis vermuten könnte. Die Hilfe, Unterstützung und der Zusammenhalt haben ihnen gutgetan.
Und ganz bestimmt auch die vielen aufmunternden Worte.