Hamburg. Über Täter Philipp F. ist viel bekannt, weniger über die Opfer. Einer, der zwei der Toten kannte, will das ändern.

Die Nachricht, die Berthold von Kamptz’ Leben auf den Kopf stellen sollte, kam am 9. März um 23.01 Uhr. „Schießerei bei den Zeugen Jehovas“, stand kurz und knapp in der WhatsApp-Nachricht, die ihm ein Freund zugeschickt hatte. „Ich wusste zunächst gar nicht, was er meinte“, sagt von Kamptz sieben Wochen später.

Was sein Freund an jenem schicksalhaften 9. März gemeint hatte, wurde dem Hummelsbüttler wenige Minuten später klar, als er immer mehr Nachrichten erhielt, immer mehr Links zu Medienberichten über das Unfassbare. „Tödliche Schüsse bei Zeugen Jehovas“, titelte beispielsweise das Abendblatt noch in der Nacht. „Mein erster Gedanke war: Ein Glück bin ich diesmal nicht zur Versammlung gegangen“, sagt von Kamptz, der auf seiner Wohnzimmercouch sitzt und sich fast ein bisschen für den Gedanken schämt. „Mein zweiter Gedanke war dann: Hoffentlich ist niemand umgekommen, den ich kenne.“

Amoklauf: Die Opfer fühlen sich alleingelassen

Das Hoffen war vergebens. Sieben Menschen hat der Amokläufer Philipp F. an jenem Abend umgebracht, ehe er sich selbst richtete. 135 Schüsse in 16 Minuten. Unter den Opfern sind auch Marie und ihr Mann James O., den von Kamptz seit mehr als 20 Jahren kannte.

„Ich konnte und wollte das zunächst nicht glauben. Er und seine Familie waren die ersten Zeugen Jehovas, die ich Anfang der 2000er kennengelernt hatte.“ Von Kamptz atmet einmal tief durch. „Jetzt ist James tot. Einfach erschossen. Über den Amokläufer liest man fast jeden Tag etwas in den Zeitungen. Über die Opfer aber nichts.“

Künstler war mit Opferfamilie O. seit mehr als 20 Jahren befreundet

Berthold von Kamptz ist ein nachdenklicher Mann. Sein Leben ist schon einmal aus den Fugen geraten. 1999, als seine Mutter an Brustkrebs gestorben ist. Der damals 26-Jährige suchte Antworten. Er fragte den Pastor der evangelischen Gemeinde von Hummelsbüttel, ob es ein Leben nach dem Tod gebe. Die Antwort überzeugte ihn nicht. Er ging zu den Mormonen. Und schließlich zu den Zeugen Jehovas, wo er als Erstes die Familie O. bei einer Versammlung in Eilbek kennenlernte – und sich später mit ihnen anfreundete.

„Ich bin tieftraurig und habe noch immer viele Fragen“, erzählt von Kamptz anderthalb Monate nach dem Abend, der seine Welt in ein „davor“ und ein „danach“ trennt. Der 50-Jährige mit dem grauen Pferdeschwanz spricht langsam und leise, seine Gedanken springen.

Berthold von Kamptz sprach dem Vater persönlich sein Beileid aus

Er erinnert sich an James („er war ein guter Tänzer, sehr sportbegabt“), redet über dessen Bruder („künstlerisch sehr talentiert“) und schwärmt von dem Vater („unglaublich gastfreundlich“), dem er einige Tage nach dem Amoklauf persönlich sein Beileid aussprach.

„Natürlich war James‘ Vater tief getroffen. Aber er sagte auch, dass James wieder auferstehen werde.“ So sieht es auch die Lehre der Zeugen Jehovas vor. So hat es Berthold von Kamptz gelernt, als er sich ab 2000 regelmäßig mit der Familie O. bei ihr zu Hause in Wandsbek an der Brodersenstraße zum gemeinsamen Bibelstudium traf. In Jesaja 26:19 heißt es: „Jehova verspricht, dass die Toten wieder leben werden.“

James versuchte, seine Frau mit seinem Körper zu schützen

Auch Michael Tsifidaris, der Sprecher der Zeugen Jehovas in Hamburg, kennt die Bibelstelle – und er kennt auch James und seine Ehefrau Marie O. „Die beiden haben sich in den vergangenen Monaten mit viel Engagement um Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine gekümmert und sich für deren Integration in Hamburg eingesetzt. James war selbst aktiver Seelsorger und hat in der Tatnacht mit seinem Leben bezahlt, während er versucht hat, seine Frau und seine Freunde mit seinem Körper zu schützen. Wir werden die beiden nicht vergessen.“

Das will auch von Kamptz nicht. Der freischaffende Künstler und Illustrator fängt an, über das Geschehene zu schreiben und zu malen. In der Novelle 9/3/ lässt er die Geschehnisse des schicksalhaften Märzabends Revue passieren, schreibt über James und die Familie O. Fast jeden Tag malt er ein neues Bild im Zusammenhang mit dem Amoklauf. Impressionistische Skizzen und Aquarelle. Das Ehepaar O., James allein, eine blaue Pistole mit flammendem Hintergrund, der Königssaal in Alsterdorf, aber auch Täter Philipp F.

In der Gemeinde waren die psychischen Probleme von Philipp F. bekannt

Nach und nach erfährt er durch Gespräche mit Bekannten, dass Opfer James O. und Täter Philipp F. sich offenbar gekannt haben müssen und zusammen die Bibel studiert haben sollen. Nach Abendblatt-Informationen war in der Gemeinde bereits seit Herbst 2019 bekannt, dass Philipp F. psychische Probleme hatte.

„Er fand Halt in der Gemeinde der Zeugen Jehovas. Dort kümmerte man sich liebevoll um ihn, und verschiedenste Gemeindemitglieder haben versucht, Hilfe zu leisten“, bestätigt Tsifidaris. Man habe Philipp F. auch wiederholt und dringend geraten, sich in therapeutische Behandlung zu begeben.

Gemeindemitglieder begleiteten späteren Täter Philipp F. ins AK Nord

Tsifidaris, der Sprecher der Gemeinde, ist noch immer erschüttert. Seiner Aussage zufolge war Philipp F. sogar bereit, sich auf Rat der Gemeinde hin professionelle Hilfe zu suchen. „Unterstützt von zwei Seelsorgern der Gemeinde, wurde er in die Notaufnahme des AK Nord in Hamburg begleitet. Leider wollte Philipp F. nach wenigen Monaten kein Mitglied der Gemeinde mehr bleiben und lehnte von diesem Zeitpunkt an weitere ärztliche und seelsorgerische Hilfe ab“, sagt er.

Auch deswegen ist sich von Kamptz mittlerweile sicher: „James war kein Zufallsopfer.“ Das Reden fällt ihm nun zunehmend schwerer. Er sagt, dass er gehört habe, dass James am Tatabend den Lichtschalter ausmachen wollte, als Philipp F. um sich schoss. „Dann hat er ihn erschossen“, sagt von Kamptz, der einen Bibelvers erinnert, den er einst mit James zusammen diskutierte: „Wir leben füreinander, und wir sterben füreinander.“ Die Augen sind feucht, die Stimme brüchig. „Für mich ist James ein Held. Er wollte andere retten.“

Von Kamptz will den Amoklauf durch die Bilder verarbeiten

Das Malen, das Schreiben und das Darüberreden würden ihm helfen, mit all dem besser klarzukommen. Und natürlich wolle er die Bilder nicht zu einem kommerziellen Zweck verkaufen, es gehe ihm viel mehr um Verarbeitung des Amoklaufes, sagt der zweifache Familienvater.

Die Berichte über die Aufklärung des Amoklaufes verfolgt er intensiv. Die psychische Erkrankung von Philipp F., die Mitgliedschaft im Hanseatic Gun Club von Philipp F., die anonyme Warnung vor Philipp F. „Warum hat keiner die Gemeinde gewarnt?“, fragt von Kamptz.

Auch Familie und Freunde versuchten, Philipp F. zu helfen

Was ihm nicht bekannt war: Ein Großteil der Gemeinde wusste über den schwierigen Zustand von Philipp F. Bescheid. „In den Monaten danach haben seine Familie und Freunde offensichtlich weiter versucht zu helfen und wohl auch den Hamburger Gun-Club sowie die Behörden gewarnt“, sagt Tsifidaris.

Die Behörden stehen nun im Fokus – vor allem die Waffenbehörde. Ein Mitarbeiter, der zuvor selbst beim Hanseatic Gun Club gearbeitet hatte, wurde strafversetzt; Polizeipräsident Ralf Martin Meyer und Innensenator Andy Grote müssen sich viele kritische Fragen gefallen lassen. „Aber niemand fragt so richtig, wer denn die Opfer waren“, sagt von Kamptz.

Amoklauf: Gemeinde kritisiert einseitige Fokussierung auf den Täter

Das bemängelt auch Sprecher Tsifidaris. „Gerade in den ersten Stunden und Tagen nach der Amoktat fühlte sich die Fokussierung auf den Täter sehr einseitig an“, sagt er. „Kein Opfer und keine Opfergruppe haben es nach einem Gewaltverbrechen verdient, sich zuerst mit der Frage konfrontiert zu sehen, ob sie selbst daran Schuld sein könnten.“

Die Opfer – eines hatte Sommersprossen „und immer ein herzliches Lachen“. Von Kamptz schüttelt mit dem Kopf. „James wirkte sehr reif und gesetzt für sein Alter. Er war auch stets eine Person, die Verantwortung übernehmen konnte.“ Er könnte noch so viel erzählen, doch eigentlich ist ihm nur noch eines wirklich wichtig: „James und sein Tod sollen immer in Erinnerung bleiben.“

Deswegen will von Kamptz auch weitermalen. Ein Bild sagt mehr als 1000 Worte.