Hamburg. Behördenchefin wusste, dass beschuldigter Mitarbeiter bis Ende 2021 für den Gun Club tätig war. Zum anonymen Brief befragte sie ihn nicht.
Wahrscheinlich liegt es in der Natur der Sache (oder des Menschen), dass man sich nach folgenschweren Ereignissen einen Sündenbock sucht. Oder zumindest einen Mitschuldigen. Für den Journalisten Lars Winkelsdorf scheint so ein Mitschuldiger für den schrecklichen Amoklauf in Alsterdorf am 9. März, bei dem sieben Menschen erschossen wurden, ehe sich der Schütze selbst richtete, jedenfalls gefunden zu sein. In einem offenen Brief an Hamburgs Polizeipräsidenten Ralf Martin Meyer machte er diesem und Waffenbehördenchefin Christina Gerstle schwere Vorwürfe.
Dazu muss man wissen: Winkelsdorf ist bei der Polizei Hamburg so etwas wie ein alter Bekannter. Der freie Journalist, der für das Nachrichtenportal t-online auch über den Amoklauf berichtete, soll schon zahlreiche Briefe und E-Mails an Meyer und auch an die Polizeisprecherin Sandra Levgrün geschickt haben – oft in sehr deutlichem Ton. Winkelsdorf selbst betont, lediglich zwei offene Briefe geschrieben zu haben und Mails nur in seiner Funktion als Journalist.
Amoklauf Alsterdorf: Warum stellte Waffenbehördenchefin Mitarbeiter nicht zur Rede?
In dem neuesten Brief (liegt dem Abendblatt vor) kritisiert Winkelsdorf nun aber, dass Christina Gerstle, die Chefin der Waffenbehörde, ihren mittlerweile versetzten Mitarbeiter Wolf K. nicht direkt zur Rede gestellt hatte, nachdem ein anonymer Brief eingegangen war, der vor dem psychischen Zustand des späteren Amokläufers Philipp F. warnte. Zur Erinnerung: Wolf K. war bis Ende 2021 nebenberuflich im Hanseatic Gun Club tätig, über den später auch Philipp F. seine Waffenlizenz erhielt. Gerstle soll im Oktober 2021 die auslaufende Genehmigung der Nebentätigkeit in dem Sportschützenverein für ihren Mitarbeiter nicht länger erteilt haben.
Winkelsdorf fragt in dem Schreiben: „Und obwohl Christina G. (die Behördenchefin, die Red.) damit vor dem Amoklauf von Philipp F. gewusst haben muss und sie als Volljuristin auch für die rechtliche Absicherung der getroffenen Maßnahmen verantwortlich war, wurde trotz des Wissens um seine Mitgliedschaft im Hanseatic Gun Club und die frühere Tätigkeit von Wolf K. Letzterer nicht gefragt? Man reduziert die Angelegenheit also tatsächlich auf die Feststellung, dass man nichts gewusst habe, weil Wolf K. keinen Vermerk geschrieben oder Mitteilung gemacht hätte?“
Hamburger Innenbehörde weist Vorwürfe zurück
Die Innenbehörde, die für die Waffenbehörde zuständig ist, weist Winkelsdorfs Vorwurf zurück. Hier heißt es, dass die Behördenchefin Christina Gerstle vor dem Amoklauf nichts von der Verbindung des späteren Täters Philipp F. und des Hanseatic Gun Club gewusst habe. Das sei auch der Grund, warum ihrem Mitarbeiter Wolf K. gleich zwei schwere Vorwürfe gemacht wurden.
Erstens habe er einen Anruf des Hanseatic Gun Clubs – als sich dessen frühere Kollegen bei dem Ex-Mitarbeiter erkundigt hatten, wie man mögliche psychische Auffälligkeiten eines Clubmitglieds berichten könnte – nicht ordnungsgemäß gemeldet. Und zweitens habe er auch nach dem Erhalt des anonymen Briefes am 24. Januar, den er selbst empfohlen haben soll, noch immer seine Vorgesetzten nicht auf den Fall Philipp F. aufmerksam gemacht.
Am vergangenen Donnerstag wurde auch die Waffenbehörde durchsucht
Bei der Polizei, die von Winkelsdorf immer wieder schwer kritisiert wurde, hieß es, dass man sich aus ermittlungstaktischen Gründen im Moment zu den konkreten Vorwürfen nicht äußern könne. Was genau damit gemeint war, konnte man in der vergangenen Woche beobachten: Am frühen Donnerstagmorgen wurden zehn Durchsuchungsbeschlüsse vollstreckt – darunter auch bei der Waffenbehörde in Hammerbrook.
Gegen dessen Mitarbeiter Wolf K. erhob die Staatsanwaltschaft Hamburg den schwerwiegenden Verdacht der sechsfachen fahrlässigen Tötung und der 14-fachen fahrlässigen Körperverletzung im Amt, wie Oberstaatsanwältin Liddy Oechering sagte. Zudem wurde gegen drei weitere Mitarbeiter des Hanseatic Gun Clubs Ermittlungen eingeleitet.
Hätte Amoklauf in Alsterdorf verhindert werden können?
Die Staatsanwaltschaft erläuterte, dass Philipp F. anders kontrolliert worden wäre, wenn der Sachgebietsleiter der Waffenbehörde die Hintergründe von dem Beamten Wolf K. erfahren hätte. Hätte dieser die Vorgeschichte ordnungsgemäß berichtet, hätte man dem späteren Täter bei der unangekündigten Kontrolle vor dem Amoklauf die Waffe wegnehmen müssen. In anderen Worten: Der Amoklauf hätte möglicherweise verhindert werden können.
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Nach Abendblatt-Informationen soll der Waffenbehördenmitarbeiter Wolf K. bei den Befragungen angegeben haben, den Anruf aus dem Hanseatic Gun Club und den späteren anonymen Brief nicht miteinander in Verbindung gebracht zu haben.
Amoklauf Alsterdorf ist Thema im nächsten Innenausschuss
Politisch dürfte der Fall auch bei der zweitägigen Tagung der innenpolitischen Sprecher der SPD am Dienstag und Mittwoch hier in Hamburg eine größere Rolle spielen. Spätestens am 11. Mai, bei der nächsten öffentlichen Sitzung des Innenausschusses in Hamburg, dürfte es dann weitere Fragen rund um den Fall geben.
Mitten in den letzten Innenausschuss platzte über das Nachrichtenportal t-online die damals noch nicht bekannte Nachricht, dass der Hanseatic Gun Club schon vor dem Amoklauf den früheren Mitarbeiter Wolf K. kontaktiert hatte. Einer der damaligen Autoren des Textes: Lars Winkelsdorf.