Sonderburg/Hamburg. Die Gemeinde in Nordschleswig will 2029 klimaneutral sein – 16 Jahre früher als die Hansestadt. Der Bürgermeister verrät sein Erfolgsrezept.

Das Mekka der Energiewende liegt an der Flensburger Förde – allerdings auf der dänischen Seite. Die Stadt Sonderburg, dänisch Sønderborg, zeigt den Deutschen und dem Rest der Welt, was eine klimapolitische Harke ist. Schon im Jahr 2029 will die Kommune mit ihren rund 70.000 Einwohnern im Energiesektor klimaneutral sein und damit noch ein Jahr früher als die ehrgeizigen 100 europäischen Städte, die sich im April 2022 dazu verpflichtet hatten, bis 2030 klimaneutral zu werden.

Bis zu diesem Jahr will Hamburg seine CO₂-Emissionen „nur“ um 70 Prozent gegenüber dem Basisjahr 1990 reduzieren. Der Klimaplan der Stadt sieht vor, dass die Elbmetropole 2045 klimaneutral wird – die Handelskammer peilt immerhin das Jahr 2040 an. Sonderburg ist Hamburg also 16 Jahre voraus.

Ehrgeiz beim Klimaschutz kam, als Sonderburg in der Krise steckte

Da lohnt der Blick gen Norden, was die Dänen anders machen. Erik Lauritzen ist seit 2014 Bürgermeister der Nordschleswiger Kommune. Der Sozialdemokrat saß schon im Rat der Stadt, als 2007 der folgenreiche Beschluss fiel. Im Gespräch mit dem Abendblatt erinnert er sich: „Wir hatten damals eine Kommunalreform und wollten ein Thema finden, das alle sieben Kommunen eint.“ Auch wirtschaftlich benötigte die Region damals frischen Wind. „Wir hatten schwierige Zeiten“, erinnert sich Lauritzen.

Im Gespräch mit Vertretern aus Politik und Wirtschaft kam da die Idee, sich auf Klima und Energie zu konzentrieren. Das lag nahe – mit dem Unternehmen Danfoss aus Nordborg (deutsch Norburg), das in der neuen Kommune Sonderburg aufging, ist ein internationaler Player in Sachen Klimaschutz dort beheimatet.

Einheimisches Unternehmen half Sonderburg auf die Sprünge

Danfoss wurde 1933 in der Gemeinde gegründet und ist längst ein Weltmarktführer der Industrie. Das Unternehmen, vielen bekannt durch seine Heizkörperthermostate, bespielt die komplette Klaviatur der Heiz- und Kühltechnik.

Stefan König ist beim dänischen Unternehmen Danfoss „President Central Europe“.
Stefan König ist beim dänischen Unternehmen Danfoss „President Central Europe“. © FUNKE Foto Services | Marcelo Hernandez

„Wir sind ein Hidden Champion der Energiewende“, sagt Stefan König, Danfoss-Präsident für Zentraleuropa. Im Hamburger Büro in der HafenCity beschäftigen die Dänen rund 200 Menschen aus 39 Nationen, die Hansestadt ist ein wichtiger Standort für Danfoss, schließlich gilt die Bundesrepublik nach den USA und China als wichtigster Markt. Der Bereich Klimalösung ist einer von drei Geschäftsbereichen.

Hamburg ist für Danfoss ein wichtiger Standort

Der Manager sieht mehrere Startvorteile beim nordischen Nachbarn. „Dänemark ist besser vorbereitet“, sagt König. In Dänemark stammen schon heute gut 40 Prozent der dortigen Wärme aus grünen Quellen. Seit Jahren ist das kleine Königreich Vorreiter in der Wärmewende: Zwei Drittel der dänischen Haushalte sind an ein Fernwärmenetz angeschlossen, Öl- und Gasheizungen seit einem Jahrzehnt verboten. Wärmepumpe und das gut funktionierenden Fernwärmenetz greifen dabei ineinander.

„Wichtiger als ein Hauruck- ist systemisches Denken“, beschreibt König den Unterschied zwischen der Herangehensweise in Deutschland und der in Dänemark. Kleinere Maßnahmen summierten sich zu einer großen Wirkung: „Der hydraulische Abgleich an den Heizungskörpern spart beispielsweise fünf bis zehn Prozent der Energie. Gesamtwirtschaftlich sind das beachtliche Beträge.“ Hierzulande kommt er wegen des Fachkräftemangels nur langsam voran.

Klimaaschutz: Dänen haben weniger Angst vor Technik

Dänemarkweit sind auch sogenannte Smart Meter, intelligente Messsysteme für den Verbrauch, Standard – in Deutschland bleiben sie vorerst die absolute Ausnahme. Hierzulande werden sie erst 2032 verpflichtend – die Deutschen kümmerten sich noch jahrelang vor allem um den Datenschutz.

Dabei sind die Möglichkeiten der Technik enorm: Smart Meter ermöglichen, den Stromverbrauch über einen dynamischen Preis besser zu steuern. Die Menschen waschen abends oder laden nur bei Sonnenschein das Auto auf, nicht zu Spitzenzeiten. So lässt sich Energie einsparen, vor allem aber die Spitzenlast senken. „Wenn wir Smart Meter und flexible Stromverträge hätten, könnte jeder Haushalt seinen Beitrag leisten.“

Sonderburg ging also mit dänischem Rückenwind ins Rennen. Das Jahr 2029 als Ziel war mehr Marketing – Kopenhagen hatte das Jahr 2030 avisiert, da wollten die Süddänen einfach schneller sein. Und ließen ihren Worten Taten folgen. Die Strategie ist kein Hexenwerk. Auf der einen Seite versucht Sonderburg, so viel Energie zu sparen wie möglich. Die Energie, die dann noch benötigt wird, soll CO₂-frei sein. So wird einerseits in erneuerbare Energien investiert, andererseits Abwärme als Wärmequelle genutzt. In das bestehende Fernwärmenetz hat die Kommune massiv investiert.

Kommune Sonderburg fing bei sich selbst an

„Wir haben zunächst bei der Energieeffizienz der Gebäude angesetzt“, sagt Lauritzen. Dabei ging der Stadtrat mit gutem Beispiel voran. Er investierte in die öffentlichen Gebäude und half damit, dass einheimische Handwerker Expertise entwickeln. Danach wurden Hilfsprogramme für Privathaushalte aufgelegt. „Da hat sich ziemlich vieles sehr schnell verbessert“, sagt der Bürgermeister. Ein zweiter Baustein war die Umweltbildung. „Wir haben bei Kindern und Jugendlichen angesetzt. Das hilft uns jetzt.“

Sonderburg ist Modellregion für Innovation zu beiderseitigem Nutzen – der Kommune und der Wirtschaft. „Es war wichtig, dass Danfoss vorausgegangen ist. Das Unternehmen hat ein großes Interesse an der Energiewende“, sagte Lauritzen. So präsentiert sich nicht nur die Gemeinde mit ihrem ambitionierten Klimaschutzzielen, sondern weist zugleich Wege. „Wir wollen als Kommune zeigen, was möglich ist. Und Danfoss und andere Unternehmen präsentieren ihre Lösungen.“

Inzwischen reisen Besucher aus aller Welt nach Süddänemark: 2022 lud die Internationale Energieagentur (IEA) in der Fördestadt zur Konferenz, zuletzt wurde eine Partnerschaft mit Singapur beschlossen. „Es gibt hier ein kleines Wirtschaftswunder – viele Unternehmen profitieren, manche wären sonst gar nicht hier.“

Sonderburg will Wissen bald ins Ausland verkaufen

Das gilt auch für die Kommune. „Gerade im Bereich der Fernwärmeversorgung, der Sektoren-Koppelung und Abwärme von Unternehmen haben wir ein Wissen, von dem andere Städte profitieren können. Wir haben fertige Lösungen“, sagt Bürgermeister Lauritzen. Es sei möglich, diese Beraterdienste eines Tages in Rechnung zu stellen. Bis dahin eifern viele andere Kommunen den Dänen nach, beispielsweise Norderstedt.

Der Sozialdemokrat Erik Lauritzen ist seit 2014 Bürgermeister in Sonderburg.
Der Sozialdemokrat Erik Lauritzen ist seit 2014 Bürgermeister in Sonderburg. © Sønderborg Kommune | Sønderborg Kommune

Trotzdem stößt das Projekt Zero auch an Grenzen: „Im Gebäudesektor geht es sehr gut“, sagt Lauritzen. Problematisch bleibt wie auch in Deutschland der Verkehrssektor. „Als Kommune haben wir weniger Einfluss darauf.“ Die Gemeinde versuche das Bewusstsein zu schärfen. „Viele Menschen wollen ein E-Auto. Es geht schneller als anderswo, aber nicht schnell genug.“ Es bedürfe staatlicher Hilfe, um die Infrastruktur auszubauen.

Bürgermeister: Auch Hamburg kann von Sonderburg lernen

Gerade zu Beginn habe es Konflikte und Proteste gegeben, etwa beim Bau von Windparks. Inzwischen hat sich die Skepsis gelegt. „Heute blicken viele andere Gemeinden nach Sonderburg – und Sonderburg blickt auf andere Kommunen. Möglicherweise hilft, dass die Dänen eine andere Kultur und Tradition der Zusammenarbeit arbeiten.“

Aber kann eine Millionenmetropole von einer Gemeinde mit 70.000 Einwohnern lernen? Lauritzen ist sich sicher: „Ja, das können sie.“ Er nennt zwei Bereiche. Zum einen den Ausbau der erneuerbaren Energie, zum anderen die Einbeziehung der Bevölkerung und das Einschwören auf ein gemeinsames Ziel: „Diese Zusammenarbeit ist eine Stärke in Sonderburg. Es sind die Kommunen, die die Energiewende umsetzen, nur sie können die Bevölkerung überzeugen und motivieren.“

Eine Stiftung und das Unternehmen Danfoss unterstützen

Auch König sieht Sonderburg als Modell: „Alle haben sich verpflichtet, alle sind mit dabei. Hinter dem Projekt steht ein ganzheitliches Denken.“ Es gibt eine Steuerungsgruppe, die Bitten-und-Mads-Clausen-Stiftung der Danfoss finanziert das ProjectZero 2029 – und so konnte schon die Hälfte des Konzeptes umgesetzt werden. „Wahrscheinlich wird Sonderburg sogar schneller sein als geplant“, prophezeit König.

Die Fähren sind elektrifiziert, Abwärme werde intensiv genutzt. Und überall wird experimentiert: „Kühlung erzeugt Wärme. In Norborg hat Coop mit unserer Hilfe einen Modell-Supermarkt gebaut, der die Abwärme der Kühltheken nutzt. Zusammen mit der Solaranlage auf dem Dach speisen die Supermärkte Energie ins Netz ein. Das hat sich in zwei Jahren amortisiert.“ Immerhin drei Prozent des Stromverbrauchs in Industriestaaten entfiel früher auf Supermärkte, nun werden sie zumindest zeitweise zu Stromerzeugern.

„In Deutschland ist manches leider schwieriger“

König erklärt den Dreisprung Reduce-Re-Use-Renew zum Ziel. Reduce steht für einen effizienteren und verminderten Energieeinsatz, Re-Use für Nutzung etwa von Abwärme und Renew für die Nutzung erneuerbarer Energien. „Darauf setzt auch Sonderburg.“

„In Deutschland ist manches leider schwieriger“, konstatiert der Hamburger. „Das ist vielleicht auch kulturell bedingt: Wir diskutieren viel und verzetteln uns im Föderalismus. Dänen sind einfacher und pragmatischer.“ Und manchmal auch innovativer: Esbjerg will in diesem Jahr die größte Wärmepumpe der Welt fertigstellen, die rund 25.000 Haushalte mit Wärme versorgen soll. Dafür wird dann das alte Kohlekraftwerk abgeschaltet.

Auch bei den Großprojekten sind die Dänen den Deutschen voraus

Die Technik dafür kommt aus Deutschland – von MAN. „In der Praxis vollzieht sich der Fortschritt der Wärmewende in Deutschland leider noch schleppend“, sagte MAN-Vorstandschef Uwe Lauber der „Berliner Zeitung“. Großwärmepumpen seien eine ideale Technologie für eine effiziente und umweltfreundliche Wärmewende, doch bisher sei dies in Deutschland eher theoretisch.

Solche Großprojekte wie in Esbjerg zeigen, dass das versprochene Wirtschaftswunder durchaus möglich ist. Olaf Scholz hatte vor einigen Monaten wegen der Energiewende hohe Wachstumsraten in Aussicht gestellt. Bislang ist davon wenig zu sehen.

Hierzulande mangelt es an Tempo

Vielleicht auch, weil Deutschland zu langsam ist. Von der Idee zur konkreten Planung dauerte der Bau in Esbjerg drei Jahre. „In dieser Zeit hätten wir gerade die Antragsformulare ausgefüllt, und der Widerstand hätte sich formiert.“ Dabei gebe es die Unternehmen, sagt König. „Wir reden nicht, sondern wir machen es einfach“, sagte Esbjergs Bürgermeister Jesper Frost Rasmussen dem „Spiegel“. „Und wir machen es schnell. Wer jetzt handelt, ist ganz vorn mit dabei, auf der Gewinnerseite.“

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Und Hamburg? Zwar gibt es Vorzeigeprojekte wie Hamburgs Abwasserwärmepumpe oder der Elektrolyseur im Hafen - aber bis zur Fertigstellung wird noch viel Wasser die Elbe herunterfließen. An das Fernwärmenetz sind nur rund 25 Prozent der Haushalte angeschlossen, deutschlandweit sogar nur 14 Prozent.

Sehr trübe sieht auch die Bilanz bei erneuerbaren Energien aus: Laut aktuellen Daten der Bundesnetzagentur liegt die Hansestadt beim Gesamtausbau von Biomasse, solarer Strahlungsenergie und Windenergie im Vergleich der Bundesländer mit 296 Megawatt Bruttoleistung noch hinter Bremen mit 313 Megawatt auf dem letzten Platz. Auch ein Städteranking in Bezug auf die Energieeffzienz der Gebäude taxiert Hamburg in der unteren Hälfte – mit Platz 26 unter 50 Städten.

Das Ziel einer 70-prozentigen Reduktion bis 2030 wird schwer zu erreichen sein. Der Klimabeirat stellte im Sommer angesichts vieler Versäumnisse „die Frage, wie Hamburg das bis 2030 erreichen will“. Sonderburg zeigt, dass es geht trotz Widerständen und Hindernissen.