Hamburg. Alarmierend: Jeder sechste Schüler wurde online bedroht, beschimpft und bloßgestellt. Das hier sind einige der schlimmsten Fälle.
- Schüler veröffentlichen Nacktfotos von anderen
- Auch Lehrer werden online blossgestellt
- Täter und Opfer werden immer jünger
Sie beleidigen sich Klassenchat, verschicken Sprachnachrichten mit Hassbotschaften oder veröffentlichen Nacktfotos von Klassenkameraden. Immer mehr Kinder und Jugendliche werden Opfer von Cybermobbing. Die Auswirkungen sind oft dramatisch.
„Du bist so hässlich, dass es wehtut“, „Wenn du morgen zur Schule kommt, bist du tot“ und „An deiner Stelle würde ich sterben.“ Das sind einige der Nachrichten, die sich Kinder und Jugendliche gegenseitig schicken.
Etwa jedes sechste Schulkind im Alter von elf bis 15 Jahren ist nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation (WHO) im Jahr 2022 in Onlinediensten gemobbt worden. Das geht aus einer neuen Studie hervor. „Dieser Bericht ist ein Alarmsignal, das uns nötigt, gegen Gewalt vorzugehen, wann und wo sie entsteht“, betonte der WHO-Regionaldirektor für Europa, Hans Kluge.
Hass per Whatsapp: „Wenn du zur Schule kommst, bist du tot.“
Die virtuellen Formen der Gewalt unter Gleichaltrigen nahmen demnach jedoch seit Beginn der Corona-Pandemie stark zu. „Da junge Menschen bis zu sechs Stunden am Tag online verbringen, können selbst kleine Veränderungen der Mobbing-Raten tiefgreifende Auswirkungen auf die Gesundheit und das Wohlbefinden Tausender Menschen haben“, betonte Kluge.
Laut der neuen Studie gaben 15 Prozent der Jungen und 16 Prozent der Mädchen an, in den vergangenen Monaten mindestens einmal online belästigt worden zu sein. Die Studie basiert auf Aussagen von knapp 280.000 Kindern und Jugendlichen in 44 Ländern in Europa, Zentralasien und Kanada.
Schule Hamburg: Opfer und Täter von Cybermobbing werden immer jünger
Die Folgen sind fatal: Viele der jugendlichen Opfer von Cybermobbing greifen zu Alkohol, Tabletten oder Drogen. Einige bekommen Depressionen und Angstzustände, andere können nicht mehr zur Schule gehen und äußern Suizidgedanken.
„Und das ist erst der Anfang“, sagt die Sozialpädagogin eines Gymnasiums. „Wir steuern da auf etwas zu, dessen Ausmaße wir noch nicht überblicken können.“ Auch nach mehr als 20 Jahren in dem Job sei sie selbst oft noch geschockt, wie sich Schüler heute über das Handy und das Internet gegenseitig beleidigen, bedrohen und verleumden.
„Da werden Nacktfotos weitergeleitet, intime Details aus Beziehungen veröffentlicht und Hasstriaden per Sprachnachricht verschickt“, sagt die Expertin.
Cybermobbing: Schüler drohen sich übers Handy
Davon betroffen seien nicht nur Schüler, sondern auch Lehrer. Ohne das oft selbst zu wissen. „Wir erleben immer wieder, dass im Unterricht Mitschnitte gemacht, zusammengeschnitten und veröffentlicht werden“, so die Sozialpädagogin. Auch unvorteilhafte Fotos von Lehrern seien schon gemacht und in den sozialen Medien verbreitet worden. „Ich glaube, viele Lehrer ahnen gar nicht, was da hinter den Kulissen abgeht. Sonst würde es im Unterricht bestimmt bei allen ein konsequentes Handyverbot geben.“
Sorge bereitet den Experten, dass Cybermobbing immer früher auftritt. „Vor zehn bis 15 Jahren ging Mobbing meistens erst in der Mittelstufe los. Heute sind oft schon Kinder in der fünften und sechsten Klasse betroffen“, sagt Christian Böhm, Leiter der Beratungsstelle Gewaltprävention der Schulbehörde. Je früher die technischen Geräte verfügbar seien, umso größer sei die Gefahr für einen missbräuchlichen Einsatz. Das Problem: „In dem Alter sind Kinder oft noch impulsiv und handelt unüberlegt. Oft ist ihnen gar nicht bewusst, was sie da eigentlich anrichten.“
Neue Studie der WHO: Fast jeder sechste Schüler ist davon betroffen
Das bestätigt auch ein Hamburger Medienskipper, der seit 15 Jahren an Schulen Lehrer, Schüler und Eltern zum Thema Medienkompetenz berät. Sein Ziel ist es, die Teilnehmer für mögliche Gefahren zu sensibilisieren. „Es wird immer wieder deutlich, dass die Schüler zwar häufig über sehr hohe technische Fertigkeiten, jedoch oft nicht über eine ausreichende Medienkompetenz verfügen – das bedeutet, sie haben noch nicht ausreichend Hintergrundwissen sowie Gefahreninstinkte und gehen sehr leichtfertig mit persönlichen Informationen und Fotos um“, sagt und erzählt von einem Achtklässler, der bei einem Treffen mit Freunden sein Handy ungesperrt herumliegen ließ.
„Als er kurz den Raum verließ, wollten sich die anderen zum Spaß seine Bilder anschauen. Sie entdeckten ein sehr persönliches Video des Jungen und verbreiteten es im Klassenchat“, erzählt der Medienskipper, der nach dem Fall von der Mutter des betroffenen Jungen kontaktiert wurde. Nach der Veröffentlichung bekam der Achtklässler schwere Depressionen, konnte nicht mehr in die Schule gehen und musste in einer Klinik behandelt werden. „Vielen Tätern ist gar nicht bewusst, was sie anrichten“, so der Fachmann.
Mobbing: „Vielen Tätern ist gar nicht bewusst, was sie anrichten.“
Was den Medienexperten immer wieder begegnet: „Wie leichtfertig einige Eltern ihren Kindern ein Handy in die Hand drücken und sie einfach machen lassen“, sagt er und appelliert an die Eltern, genau hinzugucken, was ihre Kinder mit dem Smartphone anstellen. „Das hat nichts mit Kontrolle zu tun. Sondern mit Begleitung, Befähigung und Schutz.“ Er ist selbst Vater und vergleicht die Handynutzung gerne mit dem Fahrradfahren. „Wenn unsere Kinder Fahrrad fahren lernen, würden wir sie nie ohne Hilfe und Aufsicht in den Straßenverkehr lassen, sondern laufen neben ihnen her und tun alles, damit ihnen nichts passiert. Doch beim Thema Handynutzung überlassen viele Eltern die Kinder oft einfach sich selbst!“
Besonders groß sei das Problem von Cybermobbing über WhatsApp. Wie aus der aktuellen Sinus-Jugendstudie hervorgeht, haben 52 Prozent der gemobbten Heranwachsenden schlechte Erfahrungen über WhatsApp gemacht . Dahinter folgen TikTok und Instagram. 74 Prozent der Betroffenen waren laut der Studie Mobbing in Form von Beleidigungen ausgesetzt, gefolgt vom Verbreiten von Gerüchten und dem Ausschluss aus Gruppen. 32 Prozent berichten, dass peinliche Bilder und Videos gepostet wurden.
Corona hat den Alltag ins Digitale verlagert. Jugendliche sind bis zu 58 Stunden pro Woche online
Cybermobbing wird zu einem immer größeren Problem. Durch die Corona-Pandemie hat sich der Alltag immer mehr ins Digitale verlagert – vor allem der von Kindern und Jugendlichen. Laut der JIM-Studie 2022 zur Mediennutzung von Jugendlichen verbringen die Zwölf- bis 19-Jährigen täglich mehr als 200 Minuten online.
Knapp zwei Drittel der befragten Jugendlichen (65 Prozent) gaben an, dass Cybermobbing seit der Pandemie zugenommen hat. Auch 46 Prozent der befragten Eltern, Lehrer und Lehrerinnen beobachten diesen Trend. Das ist das Ergebnis einer aktuellen Studie des Bündnisses für Cybermobbing und der TK „Cyberlife IV – Cybermobbing bei Schülerinnen und Schülern“.
„Früher wurden Jugendliche in der Schule oder auf dem Heimweg gemobbt, hatten aber geschützte Räume zu Hause, in denen ihnen nichts passieren konnte. Heute gibt es diesen Schutz nicht mehr. Heute ist Mobbing rund um die Uhr möglich“, so die Sozialpädagogin. Ihre Beobachtung: Viele Kinder und Jugendliche trauten sich in der scheinbar anonymen virtuellen Welt eher, andere zu mobben, als wenn sie dem Opfer persönlich gegenüberstehen würden.
Schulen müssen sich ihrer Verantwortung bewusst sein und unmittelbar eingreifen
Aus diesem Grund hat die Beratungsstelle Gewaltprävention der Behörde für Schule und Berufsbildung Hamburg gemeinsam mit der Techniker Krankenkasse das Schulprojekt „Gemeinsam Klasse sein“ gegen Mobbing und Cybermobbing entwickelt. Es soll Schulen dabei unterstützen, gezielt und präventiv gegen Mobbing und Cybermobbing vorzugehen, und richtet sich vor allem an fünfte Klassen. Das Programm wird inzwischen von Schulen in ganz Deutschland eingesetzt.
„Es ist ein großer Erfolg, dass das in Kooperation zwischen der TK und der BSB Hamburg entwickelte Präventionsprogramm mittlerweile in allen 16 Bundesländern angeboten wird. „Gemeinsam Klasse sein“ erfreut sich an den Schulen einer hohen Anerkennung und Wertschätzung. Ziel des Programms ist es, nicht nur die Kinder und Jugendlichen sondern auch die Lehrkräfte und Eltern zu erreichen. Mit „Gemeinsam Klasse sein“ wollen wir ihnen Werkzeuge an die Hand geben, um Mobbingsituationen besser zu erkennen und entsprechend zu handeln“, sagt Schulsenatorin Ksenija Bekeris.
Warnung von Experten: „Da die Mediennutzung zunimmt, wird auch Cybermobbing zunehmen.“
In Hamburg hatten mehr als 300 Jungen und Mädchen aus 14 fünften Klassen aus fünf Stadtteilschulen und Gymnasien an der Befragung teilgenommen. 93 Prozent der Hamburger Schülerinnen und Schüler gaben an, dass nach der Projektteilnahme Regeln zum Umgang miteinander in der Klasse und in Klassenchats eingeführt und angepasst wurden. Und 85 Prozent dieser Schülerinnen und Schüler denken, dass die Regeln dazu beitragen, Mobbing in der Klasse zu verhindern.
„Schulen dürfen das Thema nicht ignorieren und müssen sich ihrer Verantwortung bewusst sein“, sagt Christian Böhm. Werde Mobbing geduldet, verschlechtere sich zwangsläufig das Klassenklima und damit auch die Lernsituation. „Daher ist es wichtig, dass Schulen neben einem Fahrplan auf Präventionsebene auch geeignete Interventionsstrategien bereithalten. Schulen sollten Qualifizierungsangebote in Anspruch nehmen, damit geschultes Personal bei Mobbingvorfällen unmittelbar und handlungssicher eingreifen kann“, so der Experte.
Mehr zum Thema Schule
- Cybermobbing: Wie Schüler und Eltern sich dagegen wehren können
- Stadtteilschule Oldenfelde in Hamburg überfüllt – Eltern schlagen wegen hoher Zahl an Schülern Alarm
- Schule in Hamburg: Platz vier unter 16 – nur diese Bundesländer sind besser im Ranking
Beleidigt, bedroht und bloßgestellt: So schlimm ist Cybermobbing für die Betroffenen
„Wir raten den Betroffenen immer zu einer Anzeige“, sagt die Sozialpädagogin eines Gymnasiums, die vor allem mit jüngeren Schülern und auf Elternabenden intensiv über das Thema spricht und über die Folgen von Mobbing aufklärt. Sowohl für die Opfer als auch Täter. „Wir haben den Eindruck, dass wir seitdem mehr Kenntnis erhalten als früher und dagegen gezielt vorgehen können, sodass insgesamt weniger passiert“, so das Fazit. Aus Sicht der Sozialarbeit begrüße man das Handyverbot, das es an einigen Schulen bereits gibt.
Als problematisch bewerten Experten die Rechtslage in Deutschland: Bisher gibt es in Deutschland kein eigenes Gesetz gegen Cybermobbing, das heißt, Cybermobbing ist keine eigenständige Straftat. „Aber natürlich kann Cybermobbing durchaus strafbar sein, wenn ein Straftatbestand erfüllt wird wie Beleidigung, Verleumdung, Bedrohung, Nötigung, Erpressung oder Stalking“, sagt Holger Vehren, Sprecher der Polizei Hamburg. Strafbar können sich nur die eigentlichen Täter machen, sondern auch Teilnehmende.
„Wir dürfen uns dem Thema nicht verschließen, sondern müssen konsequent aufklären und dagegen vorgehen“, sagt Christian Böhm und warnt: „Da die Mediennutzung zunimmt, wird auch Cybermobbing zunehmen.“
Viele weitere Berichte rund um Schule und Bildung in Hamburg gibt es online unter: https://www.abendblatt.de/themen/schule/