Hamburg. Christian Kohler hat keine eigenen Kinder, aber eine Großfamilie mit 65 Geflüchteten. Die besondere Geschichte eines Optimisten.
Die Welt ist schlecht. Krieg in der Ukraine, Krieg in Nahost. Klimakrise, Energiekrise, Flüchtlingskrise. Huthi-Terror im Roten Meer, ein Anschlag in Paris. Und Christian Kohler? Sitzt in seinem Lieblingscafé in Blankenese, bestellt einen Cornish Cream Tea und zwei warme Scones mit Clotted Cream und Marmelade, streicht sich über sein Bäuchlein und lächelt. „Ich glaube einfach an das Gute“, sagt er. Und eine Tasse Tee und etwas Gebäck sind schon mal ein ziemlich guter Anfang.
Für Christian Kohler (70) gehört all das Schlechte der Welt zum Alltag. Ihm wurde von Vergewaltigungen von IS-Kämpfern an Jesidinnen berichtet, von Massenerschießungen im Irak und von komplett ausgelöschten Familien. Kohler hat Dinge erfahren, die ihn in seinen Träumen verfolgten, die ihn zwischenzeitlich krank gemacht haben. „Sie sind immer da, ganz da hinten“, sagt Kohler – und tippt dreimal auf seinen Hinterkopf. „Aber ich versuche mittlerweile, diese Dinge nicht mehr aus der Schublade meines Kopfes herauszulassen.“ Er wolle, dass das Gute über das Böse gewinnt.
Flüchtlingskrise: Hamburger Rentner Kohler setzt sich ehrenamtlich für Geflüchtete ein
Kohlers Kampf für das Gute hat vor neun Jahren begonnen. 2014 und 2015. Als Deutschland erstmals drohte von einer Flüchtlingswelle überrollt zu werden, die damalige Bundeskanzlerin Angela Merkel den berühmten Satz „Wir schaffen das“ sagte und Kohler sich diese drei Wörter auch tatsächlich zu eigen machte. Wir. Schaffen. Das. Oder wie Kohler es selbst formuliert: „Es gibt nichts Gutes – außer man tut es.“
Kohler hat den Satz nicht selbst erfunden, sondern von Erich Kästner geklaut. Aber wahrscheinlich gibt es kein Motto, das besser zu seinem Leben passen würde. Wenn er 17 statt 70 wäre, würde er ihn sich vielleicht auf den Oberarm tätowieren. „Christian Kohler tut. Er macht. Und er bleibt immer positiv, egal wie negativ die Rahmenbedingungen auch sind“, sagt Helga Rodenbeck. „Einen Menschen wie ihn habe ich noch nie getroffen.“
In seinem vorherigen Leben war Hamburger Flüchtlingshelfer Kohler Unternehmensberater
Und Helga Rodenbeck trifft viele Menschen. Die Trägerin des Bundesverdienstkreuzes arbeitet in der Flüchtlingsberatung der Blankeneser Kirche am Markt. „Eines Tages stand Christian Kohler vor mir – und sagte mir, dass er helfen wolle. Aber richtig“, erinnert sich Rodenbeck an ihr erstes Treffen, das neun Jahre her sein muss. Kohler war und ist nicht in der Kirche – aber das war dem früheren Unternehmensberater, der besonders viel in Nord- und Südamerika gearbeitet hat, auch egal. „Er wollte sich nachhaltig engagieren“, sagt Rodenbeck.
Also engagierte sich Kohler. Als Erstes für Albas und Amra, einen Dachdecker und eine Altenpflegerin, die aus dem Kosovo nach Deutschland kamen. „Beide fanden schnell eine Arbeit, beide sprachen sehr gut Deutsch und beide waren perfekt integriert“, sagt Kohler, während er sein zweites Scone mit Cream und Marmelade beschmiert. „Und beide mussten zurück in den Kosovo.“
Im Dauerkampf gegen deutsche Bürokratie hat Kohler auch eine Niederlage erlitten
Die Geschichte von Albas und Amra versteht Kohler bis heute nicht. Aber vielleicht ist es die Geschichte, die Kohler brauchte. „Deutschland hat Fachkräftemangel, da sind diese beiden fleißigen Menschen, wollen helfen – und müssen zurück“, sagt der Rissener und schüttelt den Kopf. Bis heute ist der Fall von Albas und Amra seine einzige Niederlage im Kampf gegen die deutsche Bürokratie – und möglicherweise war es die Niederlage, die Kohlers Kampfgeist geweckt hat.
„Er hat eine richtige Kämpfermentalität“, sagt Rodenbeck. „Er kämpft wie ein Löwe für diejenigen, die nicht alleine für sich kämpfen können.“
Flüchtlingskrise – Ismael musste mitansehen, wie sein Vater getötet wurde
Zum Beispiel für Ismael. Ein Jeside aus dem Irak, der mitansehen musste, wie sein Vater getötet wurde. Oder für Mutzin. Dessen Geschichte so schlimm ist, dass Kohler mit der Stimme stockt, wenn er sie erzählt – und dann sogar bittet, dass man sie besser nicht aufschreibe. Für Zakia, Asadullah und ihre sechs Kinder, die vor den Taliban aus Afghanistan flüchten mussten. Für Najman, genau wie Ismael ein Jeside. Für Qahtan, Zahra, Wasim und Johan. Oder für die Brüder Amer und Adil, die acht Jahre lang gegen die Bürokratie kämpfen mussten, damit ihre Familien aus dem Kriegsgebiet im Nordirak, das derzeit von der Türkei bombardiert wird, ein Visum in Deutschland erhielten. Nur für sie hat Kohler in den vergangenen Jahren 1500 Mails geschrieben – und wurde für seinen Einsatz vor zwei Wochen belohnt.
Terminal 2, Ankunftshalle. Rund 20 Familienmitglieder sind da, um Amers und Adils Liebste zu begrüßen. Und als Aysar, der 14 Jahre alte Sohn von Amer, als Erster aus dem Gepäckbereich kommt, ist Christian Kohler nach Papa Amer der Zweite, dem der Junge in die Arme springt. „So etwas ist für mich mehr wert als alles Geld der Welt“, sagt Kohler, der sich die Tränen aus dem Gesicht wegwischt.
Verwaltungsgericht Hamburg lehnt Asylanträge ab: Kohler reagierte mit E-Mail der Verzweiflung
Anne, die eine Asylgruppe in Rissen leitet, kennt Christian Kohler – und sie kennt den Fall der beiden Familien, für die der Rentner in den vergangenen Jahren aufopferungsvoll gekämpft hat. Sie stellt eine E-Mail zur Verfügung, die Kohler ihr vor fünf Jahren geschickt hat. Dort schrieb er: „Gestern und vorgestern wurden die Asylanträge zweier Brüder jesidischen Glaubens, die ich seit drei Jahren betreue, vom Verwaltungsgericht Hamburg abgelehnt, sie werden aufgefordert, innerhalb von 30 Tagen Deutschland zu verlassen. Wohin schickt unsere Regierung in unserem Namen diese Menschen, die einem Genozid entkommen sind?“
Kohlers persönliche Betroffenheit wird in den nächsten Sätzen besonders deutlich: „Sind wir nicht mitschuldig an den Taten unserer Regierung? Ich kann nicht mehr ruhig schlafen, es gibt keine ,Stille Nacht, heilige Nacht‘ für mich in diesen Tagen. Müssen wir nicht in den Spiegel sehen und erkennen, dass wir unsere Werte verraten, wenn wir junge Menschen, die knapp einem Genozid entkommen sind und danach ihr Leben riskiert haben, um 5000 Kilometer zu Fuß und im Gummiboot nach Deutschland zu flüchten, in die Hoffnungslosigkeit eines Flüchtlingscamps in die Wüste des Nordiraks abschieben?“
Vor zwei Wochen konnte Kohler am Flughafen aufatmen
Fünf Jahre nach seiner Mail der Verzweiflung steht Kohler gemeinsam mit den beiden Brüdern am Flughafen und schließt nacheinander die vier Kinder und die beiden Ehefrauen der Brüder in die Arme. Kohler weiß: Er kann wieder ruhig schlafen.
Zumindest für ein paar Stunden in der Nacht. Denn der tägliche Kampf für seine Familien geht auch weiter, wenn sie in Deutschland sind. Ab 4 Uhr morgens schreibt der Pensionär Briefe an die Behörden, Mails an die Schulen, fragt beim Jobcenter nach, beantragt Schulweghilfe, kümmert sich um Krankenkassenanträge und Wohnungssuchen. Auch in seinem Lieblingscafé in Blankenese ist der Laptop aufgeklappt, um vor und nach dem Gespräch weitere Behördenmails zu schreiben. Im Normalfall kommt der Ehrenamtler auf eine 50-Stunden-Woche – und auf die eine oder andere Ermahnung seiner Frau, es nicht zu übertreiben.
Kohlers Frau ist dienstälteste ehrenamtliche Mitarbeiterin im Kinderhospiz Sternenbrücke
Dabei hat Elaine Kohler Verständnis für ihren Mann. Die US-Amerikanerin, die sich auch nach Jahren in Deutschland ihren amerikanischen Akzent bewahrt hat, weiß selbst ganz genau, wie es sich anfühlt, das Richtige zu machen. Sie ist dienstälteste ehrenamtliche Mitarbeiterin im Kinderhospiz Sternenbrücke.
Die beiden Kohlers hätten gerne selbst Kinder gehabt. „Aber leider hatten wir kein Glück“, sagt Christian Kohler. Sein Teller ist jetzt leer. „Nun haben wir aber ganz viele Kinder und Familienmitglieder, für die wir da sind.“ In seinem Fall sind es 24 Familien, 37 Erwachsene, 28 Kinder. Aus dem Irak, aus Afghanistan, Syrien. Aus dem Kosovo, der Türkei, dem Iran. Woher seine Familienmitglieder kommen, ist Kohler egal. „Jeder Einzelne ist kein Problem, sondern eine Chance.“
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Natürlich hat auch Kohler mitbekommen, dass sich die Willkommenskultur aus 2015 längst gewandelt hat. In den Zeitungen wird in Kommentaren gefragt, ob Deutschland das alles überhaupt noch schaffen könne. Auf den Straßen demonstrieren Menschen mit Migrationshintergrund gegen Israel. Es wird über Flüchtlingsunterkünfte berichtet, in deren Nachbarschaft sich die Anwohner über Müll und Lärm beschweren. Menschen machen sich Sorgen, ob sich die Geflüchteten auf ihre Kosten die Zähne hübsch machen. Und Politiker warnen vor Überfremdung.
Kohler schüttelt den Kopf. „Was kaum noch einer weiß: Als in den 60er-Jahren italienische Gastarbeiter zu uns kamen, galten Spaghetti und Pizza als exotisch. Nun hat keiner mehr Angst vor Pizza, keiner warnt vor Nudeln.“
Hamburger Flüchtlingshelfer Christian Kohler ist Gutmensch im besten Sinne
Christian Kohler ist ein Gutmensch. Aber wahrscheinlich ein Gutmensch im besten Sinne des Wortes, als es noch nicht abwertend für jemanden benutzt wurde, der die Augen vor der Realität verschließt.
„Wir verschließen leider immer mehr die Augen vor der Realität, die sich in anderen Teilen der Welt abspielt“, sagt Kohler – und zieht ein Schreiben des Amtsgerichts aus einem Ordner. „Die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft liegen nicht vor“, liest er vor – und schüttelt wieder mit dem Kopf. „In ihrer Heimat werden diese Menschen mit dem Tod bedroht. Jeden Tag. Und hier entscheiden Richter, dass eine Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nicht vorliegt. Da kann man doch verzweifeln.“
Zia hat Lesen, Schreiben und Deutsch gelernt. Seine Familie darf er aber nicht sehen
Doch Kohler verzweifelt nicht. Auch nicht bei Zia, der bereits seit zehn Jahren in Deutschland ist – und noch immer nicht seine Familie nachholen durfte. In seiner Heimat in Afghanistan gehörte Zia zu einer verfolgten Minderheit. Er floh nach Deutschland als Analphabet, lernte Lesen, Schreiben und Deutsch. Erst ein Praktikum, dann die Ausbildung und schließlich eine Festanstellung. 2021 wurde ihm die Niederlassungserlaubnis erteilt. Nur seine Familie darf er bis heute nicht nachholen.
„Wenn ich einen Wunsch zu Silvester frei habe, dann möchte ich, dass auch Zias Familie 2024 endlich nach Hamburg kommt. Er hat alles gemacht, was er machen konnte – und trotzdem lässt man seine Kinder und seine Frau nicht zu ihm“, sagt Kohler – und wird deutlich. „Das ist beschämend für Deutschland.“
Kohler mag den Song „Tu doch was“ von Stefan Gwildis
Doch es dauert nur ein oder zwei Schlucke Tee, dann hat Kohler sein ansteckendes Lächeln wieder gefunden. Und summt ein Lied von Stefan Gwildis. Der singt: „Du hast ja recht, die Welt ist schlecht, so gemein und ungerecht. Und im Besonderen nur zu dir. Du hast geredet, dich mokiert. Und mir dein Unglück illustriert. Sag mir nur eins, gefällt es dir? Mensch, dann tu doch was!“
Das Lied gefalle ihm. Es passe zu seinem Lebensmotto. Oder zu dem von Erich Kästner: „Es gibt nichts Gutes – außer man tut es.“
Auf dem Handy zeigt Kohler ein Foto von Qahtan und Zahra. Auch sie: Jesiden aus dem Nordirak. Auch sie haben unendlich viel Schlimmes erlebt. Und auch sie lachen auf dem Foto. Beide mit ihren Einbürgerungsurkunden in der Hand. Und in der Mitte: Christian Kohler mit einer kleinen Deutschlandflagge.
„Das Pendel in Deutschland schwingt gerade bedrohlich in die falsche Richtung“, sagt Kohler, kurz bevor er sich an diesem Vormittag verabschiedet. „Aber das Schöne an Pendeln ist, dass sie auch wieder zurückkommen.“ Und wieder lächelt Kohler. „Pizza und Nudeln“, sagt er noch. „Das Gute wird siegen.“