Hamburg. Die jesidischen Brüder aus dem Irak kämpften jahrelang um den Nachzug ihrer Familien. Nun konnten sie die erstmals wieder umarmen.

Am schnellsten war Aysar. Im Sprint lief der 14-jährige Junge aus dem Gepäckbereich am Hamburger Flughafen dem wartenden Amer in die Arme. Acht Jahre lang hatten sich Vater und Sohn nicht mehr gesehen. Doch vor allem die acht eng umschlungenen Sekunden im Ankunftsbereich von Terminal 2 am vergangenen Donnerstag kamen Amer wie eine halbe Ewigkeit vor. „Von diesem Moment habe ich so lange geträumt“, sagt Amer vier Tage später, „aber ich hatte auch Angst vor dem ersten Wiedersehen.“

2015 war Amer Saeed Murad (38) mit seinem ein Jahr älteren Bruder Adil aus dem Irak nach Hamburg geflohen. Amer und Adil sind Jesiden. Die im Nordirak und Ostsyrien beheimatete ethnisch-religiöse Minderheit wurde spätestens seit 2014 systematisch vom „Islamischen Staat“ (IS) gejagt, gefoltert und getötet. Jesidische Männer wurden zu Tausenden umgebracht, Frauen und Kinder vergewaltigt und versklavt. Am 19. Januar dieses Jahres hatte der Bundestag die Verbrechen des IS an den Jesiden als Völkermord anerkannt.

Flüchtlinge Amer und Adil mussten acht Jahre auf ihre Familien warten

„Ich liebe unsere Heimat, aber ich wusste, dass wir als jesidische Familie keine Zukunft im Irak haben würden“, sagt Amer vier Tage nach der ersten Umarmung mit seinem Sohn am Flughafen. „Ich wusste allerdings nicht, dass auch eine Zukunft in Deutschland so schwer für uns werden würde.“

Es ist bereits ein Dreivierteljahr her, dass das Abendblatt erstmals Amer und Adil getroffen hatte. Die Brüder konnte man schon damals guten Gewissens als Musterflüchtlinge bezeichnen. Beide sprachen fließend Deutsch, hatten einen festen Job, zahlten Steuern, hatten eine Wohnung. Und beide hatten einen jahrelangen Kampf gegen die Behörden hinter sich, um auch ihre Familien nachzuholen. „Sie sind gekommen, um zu bleiben“, stand im März im Abendblatt. Und weiter: „Nur fühlt es sich für sie bisher eher so an, als seien sie gekommen, um zu leiden.“

Seit zwei Jahren waren rechtlich alle Auflagen für den Familiennachzug erfüllt

Rechtlich hätten die Männer aus dem Irak ihre Frauen und Kinder schon seit zwei Jahren zu sich holen dürfen. Alle Auflagen für den Nachzug waren längst erfüllt. Doch ihre Familien erhielten einfach keine Termine, um ihre Visa in den zuständigen deutschen Auslandsvertretungen formell zu beantragen. „Es war eine harte Probe, nicht den Glauben zu verlieren – an sich, an die Behörden, an das Land und auch an die Gerechtigkeit“, sagt Amer. „Das Leiden ging irgendwie immer weiter.“

Doch am vergangenen Donnerstag hatte das Leiden vorerst ein Ende. Kurz nach dem 14 Jahre alten Aysar durfte Papa Amer auch seine zehnjährige Tochter Galaxy und Ehefrau Wsylh umarmen, Bruder Adil nahm der Reihe nach Sohn Anas (10), Tochter Insam (12) und Ehefrau Shareen in die Arme. Mehr als 20 Familienangehörige aus ganz Europa waren zum Flughafen gekommen, um bei den Familienzusammenführungen dabei zu sein. „Mein Geburtstag ist eigentlich am 28. April“, sagt Adil vier Tage später, „aber ab jetzt werde ich auch immer am 16. November einen neuen Ehrentag feiern.“

Familien der Jesiden müssen sich erst einmal an Deutschland gewöhnen

Adil und Amer haben mit ihren Familien am Montagmorgen an einer langen Tafel im Café Karlsons im Grindelviertel Platz genommen. Auf dem Tisch liegen Brötchen, Aufschnitt, Käse. Es gibt Rührei, Müsli, Marmelade. Die zwölfjährige Galaxy guckt skeptisch, probiert zunächst einmal ein trockenes Brötchen. Bruder Aysar (14) ist mutiger. Erst gibt es Rührei, dann ein Knäckebrot mit Frischkäse.

„Natürlich müssen sich unsere Familien erst einmal an das neue Leben hier gewöhnen“, sagt Amer. Am Sonntag hat er seinen Kindern als Erstes beigebracht, was man machen muss, wenn es an der Tür klingelt. Wie man in die Sprechanlage auf Deutsch „Hallo!“ und „Ja bitte?“ sagt. In dem Flüchtlingsdorf in Sharya, wo 3000 bis 5000 Jesiden im Nordirak untergekommen sind, gibt es keine Türklingeln.

Amers größter Wunsch: Seine Kinder sollen schnell Deutsch lernen

Aysar will Fußballer werden, am liebsten bei Real Madrid, Galaxy Anwältin. „Damit ich meine Familie verteidigen kann“, sagt die Zwölfjährige auf Kurdisch. Papa Amer übersetzt. Sein größter Wunsch für die Zukunft: „Ich möchte, dass auch meine Kinder möglichst schnell Deutsch lernen – und dass wir ein gutes Leben hier führen können.“

Mama Wsylh hat bereits in ihrer Flüchtlingsunterkunft im Nordirak Deutsch gelernt. Sie hat A1-Niveau, genau wie Adils Ehefrau Shareen. „Wir wissen, dass die Sprache wichtig ist, damit wir es hier schaffen“, sagt Adil.

Mehr zum Thema

Für das Grauen, das jesidische Familien im Irak erlebten, gibt es aber weder auf Deutsch noch auf Kurdisch die richtigen Worte. Mehr als 5000 Menschen sollen bei den Massakern des IS getötet worden sein, etwa 7000 verschleppt, Hunderttausende vertrieben. Der Völkermord sei zwar nicht rückgängig zu machen, aber Deutschland könne für Gerechtigkeit sorgen, hatte Außenministerin Annalena Baerbock (Die Grünen) gesagt, als die IS-Verbrechen offiziell als Genozid anerkannt wurden.

Amer und Adil haben sich über die deutlichen Worte gefreut, einerseits. Und sich andererseits auch geärgert. Denn die Brüder mussten durch alle Instanzen gehen. Wörtlich hatte ein Richter am Oberverwaltungsgericht gesagt: „Ihr Flüchtlingsstatus kann aufgrund einer Religionszugehörigkeit nicht anerkannt werden.“

Flüchtlinge: Amer konnte die ersten Nächte gar nicht schlafen

Vergangenheit. Genauso wie der jahrelange Kampf gegen die Bürokratie, die eigene Familie in Sicherheit zu bringen. „Ich bin so glücklich, dass endlich alle da sind“, sagt Amer, der sich an dieses Glück aber erst einmal gewöhnen muss. In den ersten Nächten seit dem Wiedersehen am Flughafen konnte er kaum schlafen. Weil er es gar nicht mehr gewohnt war, neben seiner Frau zu liegen. Und weil er es nicht glauben konnte, dass seine Kinder in Sicherheit sind. In Hamburg. Bei ihm.

Doch auch in der Gegenwart gibt es Schwierigkeiten auf dem Weg in eine bessere Zukunft. Am Montag nach dem Frühstück waren Amer und seine Familie im Bezirksamt Grindelberg, Adil und seine Familien haben nur einen Termin im Bezirksamt Blankenese bekommen. Und bei beiden klappte die erhoffte Anmeldung der Frauen und Kinder nicht.

Anmeldung der Familien klappt am Montag noch nicht

Die offizielle Begründung: Obwohl sämtliche Dokumente zuvor in der deutschen Botschaft im Irak und vom Ausländeramt beglaubigt wurden, sie ihre Pässe dabeihatten, eine Wohnungsbestätigung, Heiratsurkunden und Geburtsurkunden, fehlte den Behörden nun eine sogenannte Legalisation.

Amir und Amer wissen nicht, was das eigentlich heißt. Aber eines wissen sie: Es wird sie nicht davon abhalten weiterzukämpfen. „Nach acht Jahren habe ich vor nichts mehr Angst“, sagt Amer. Nicht einmal vor den deutschen Behörden.