Hamburg. Dramatische Fälle: Notärzte beklagen Situation im Rettungsdienst, Behörde beschwichtigt. Jetzt droht sogar großer Koalitionsstreit.
- Hamburger Notärzte beklagen sich über Fehlinformationen und die Situation im Rettungsdienst
- Der Vorwurf: Dass Notfallpatienten in Krankenhäusern abgewiesen werden, habe System
- Ein Entwurf zu einem neuen Rettungsdienstgesetz sorgt derweil für Zoff bei Rot-Grün
Der Notruf kam um 20.52 Uhr. Ein Mann lag auf dem Boden mit einer stark blutenden Verletzung. Die Polizisten waren die ersten am Tatort. Sie legten dem 33-Jährigen eine Aderpresse an. Es war ein Durchschuss an der linken Leiste. Die Eintritts- und Austrittswunde des Projektils war für die Notärzte schnell zu ertasten, die am 19. Januar innerhalb von Minuten in die Grünanlage am Elbe-Einkaufszentrum (EEZ) gerast waren.
Sie wollten den Verletzten so schnell es geht ins nächste Krankenhaus fahren. „Akute Lebensgefahr“ schrieben sie später auf das Einsatzprotokoll. Doch aus der Klinik hieß es über die Leitstelle der Feuerwehr Hamburg: Es gibt keine Kapazitäten. Ein zweites Krankenhaus lehnte laut Protokoll eine Aufnahme ebenfalls ab.
Also nahm der Rettungswagen den doppelt so langen Weg ins UKE in Kauf – und die Ersthelfer wider Willen ein weiteres Risiko für den Patienten, um dessen Leben sie kämpften.
Notärzte in Hamburg erheben schwere Vorwürfe gegen Rettungsdienst
Es war eine Fehlinformation, die da über die Leitstelle kam. Eine, die auch mal tödlich enden kann. Die Notärzte wurden in die Irre geleitet. Krankenhaus 1 war nicht gesperrt, Krankenhaus 2 ebenso wenig. Die Namen sind dem Abendblatt bekannt. So zumindest erklärte es der Lagedienst der Feuerwehr einen Tag später zu dem Zeitraum rund um die Schießerei am EEZ. Das ist kein Einzelfall mehr im Hamburger Rettungsdienst. Das Abendblatt konnte Einsatzprotokolle einsehen, interne Dokumente sowie E-Mails und hat mit zahlreichen Notärzten und Krankenhaus-Verantwortlichen gesprochen.
Diese „Steuerung“ von Notfallpatienten hat offenbar System. Obwohl ein offiziell aufnahmebereites Krankenhaus auf dem Weg liegt, also am nächsten zum Patienten, fährt ein Rettungswagen daran vorbei zu einem anderen. Das widerspricht Vorschriften und Verabredungen. Und es gefährdet Patientenleben.
Hamburger Innenbehörde: Verstöße liegen nicht vor
Die Notärzte, mit denen das Abendblatt sprach, machen die Situation im Rettungsdienst dafür verantwortlich. Wie es heißt, übe der Fachbeirat der Innenbehörde von Senator Andy Grote (SPD) einen großen Einfluss aus. Und dort sitzt Prof. Thoralf Kerner, ein Vertrauter von Kathrin Schuol, die als Beamtin von Grote zur Feuerwehr abkommandiert wurde und der wiederum der Senator vertraut. Auf eine Abendblatt-Anfrage erklärte die Behörde, Verstöße oder Beschwerden lägen nicht vor. Kerner, der als Arzt im AK Harburg arbeitet, ließ eine Anfrage unbeantwortet.
Ein weiteres Beispiel: Eine Frau wurde vom Pflegedienst mit akuter Atemnot aufgefunden – Lebensgefahr. Die Notärztin versucht, sie zu stabilisieren. Sie soll in die nächste Klinik gefahren werden. „Keine Anästhesie verfügbar“ heißt es aus dem Krankenhaus an die Leitstelle. In den offiziellen Statistiken der Feuerwehr für die Behörden taucht eine Sperrung des Hauses später nicht auf.
Stimmen die Angaben nicht? In den Notaufnahmen gibt es ein rotes Telefon für Anrufe der Leitstelle der Feuerwehr. Hakt es bei der Informationsweitergabe? Oder wird eine Abmeldung in den Behördendaten nicht erfasst?
Obdachloser und Mann nach Sturz in Lebensgefahr – langer Weg ins Krankenhaus
Ein 60-Jähriger stürzt die Rolltreppe an der U-Bahn Burgstraße herunter und verletzt sich lebensgefährlich. Der Notarzt will ihn ins nahe gelegene Krankenhaus fahren. Über die Leitstelle kommt: keine Kapazität.
Ein Obdachloser liegt ohne Lebenszeichen vor Penny am Steindamm. Polizisten beginnen mit der Reanimation, die herbeigerufene Notärztin macht weiter. Sie will den Mann ins nächste Krankenhaus bringen – gesperrt. Die Notärztin muss ihn woanders unterbringen. Bei Lebensgefahr können sich die Notärzte über eine Sperrung hinwegsetzen. Das räumt auch die Innenbehörde ein. Wenige wagen das.
„Bei Patientinnen und Patienten mit lebensbedrohlichen Erkrankungen/Verletzungen muss unbedingt die nächste geeignete Klinik angefahren werden, um Schaden von ihnen abzuwenden“, sagte Prof. Stefan Kluge dem Abendblatt, Direktor der Klinik für Intensivmedizin des UKE.
Feuerwehr Hamburg: Irrfahrten mit Rettungswagen
Wer ist für diese Irrfahrten verantwortlich? Experten, mit denen das Abendblatt sprach, erklärten: Weil Pflegekräfte fehlten, seien die Intensivstationen vieler Kliniken zum Teil gesperrt. Deshalb wollen manche Krankenhäuser keine zusätzlichen unrentablen Notfallpatienten. Denn für geplante große – und gut bezahlte – Operationen brauche man die Bettenkapazitäten. Kämen immer mehr Notfälle hinzu, müssten planbare Eingriffe immer wieder verschoben werden.
Eine andere Erklärung geht so: Rettungswagen fahren an aufnahmebereiten Krankenhäusern vorbei, weil die Notärzte vermeintlich „lukrative“ Notfallpatienten in bestimmte Kliniken bringen sollen.
Unter Notärzten rumort es deshalb. Sie sagen, sie wollten die Situation nicht mehr hinnehmen. Es gibt Proteste, die Krankenhaus-Verantwortliche unter anderem an die Sozialbehörde von Melanie Schlotzhauer (SPD) formuliert haben.
Rettungsdienst Hamburg: Krisen-Gespräch ohne Konsequenzen?
In einer Krisen-Runde zum Rettungsdienst mit allen, die in Hamburg Verantwortung dafür tragen, hatten sich Experten der Sozialbehörde, Notärzte, Chefärzte und Klinikmanager betroffener Häuser bereits Ende November zusammengesetzt. Dabei wurde diskutiert, ob man das Abmelden eines Krankenhauses für Notfälle wie die oben beschriebenen verbieten kann.
Das wurde verworfen, wie eine Mail an alle Teilnehmer des Krisengipfels belegt. Doch es heißt ganz klar: Der Rettungsdienst habe das nächstgelegene Krankenhaus anzufahren. Kaum war das vereinbart, kam es zu der Schießerei am EEZ und den dramatischen Minuten im Rettungswagen.
Die Schlotzhauer-Behörde ist zwar für Gesundheit zuständig. Verantwortlich für den Rettungsdienst und die Feuerwehr ist jedoch die Innenbehörde von Senator Grote. Die Brandbekämpfer, so hatte es das Abendblatt enthüllt, kämpfen mit internen Querelen, Überlastung, prominenten und monatelangen Krankheitsfällen, dazu offenbar mit Mobbing gegen leitende Mitarbeiter. Das eigene Haus ist gefährlich verqualmt.
Gesundheitspolitikerin verlangt Aufklärung „mit allen Konsequenzen“
Die Vorwürfe einer Einflussnahme von Behörden-Berater Kerner auf den Rettungsdienst kommen auch von führenden Managern Hamburger Krankenhäuser. Die Politik ist bereits alarmiert.
Die gesundheitspolitische Sprecherin der Grünen, Dr. Gudrun Schittek, ist selbst Ärztin. Sie sagte dem Abendblatt: Es müsse immer die nächstgelegene und nach notärztlicher Expertise am besten geeignete Klinik angefahren werden. Dafür sei Hamburg sehr gut aufgestellt. „Wenn es jedoch stimmt, dass Notfallpatientinnen und -patienten durch Rettungsdienste nicht nach medizinischen Standards in die für sie am besten geeigneten Kliniken eingeliefert wurden, sondern ökonomische oder andere Kriterien die Entscheidung beeinflusst haben, ist das scharf zu verurteilen und muss mit allen Konsequenzen aufgeklärt werden. Jede und jeden von uns kann es treffen, plötzlich zu einem Notfall zu werden. Alle müssen in solch einem Fall darauf vertrauen können, schnellstmöglich die beste medizinische Versorgung zu erhalten.“
Rettungsdienst: Rot-grüner Zoff um neues Gesetz
Die Grünen sind in diesen Tagen ohnehin bis in ihre Führungspositionen verstimmt über die rot-geführten Ämter. Aus der Grote-Behörde wurde ein Entwurf zu einem neuen Hamburger Rettungsdienstgesetz gestreut. Als er bei den grünen Fachpolitikern ankam, hatten diese die Inhalte des Entwurfs bereits über Gerüchte und Info-Häppchen aus anderen Häusern gehört. Kein guter Stil unter Koalitionspartnern. Die Grünen lehnen den Grote-Entwurf ab – trotzdem wurde er verteilt.
Dem Abendblatt liegt der voll ausgearbeitete Text vor. Führende Mitglieder der Hamburgischen Krankenhausgesellschaft kannten ihn zuletzt noch nicht. Das UKE sollte den Entwurf innerhalb kurzer Frist kommentieren. „Während der Sommerferien ist das unmöglich, wenn eine fundierte Einschätzung erwartet wird“, hieß es. Man habe den Eindruck, dass der ominöse Gesetzentwurf durchgepeitscht werden solle.
Am Ende rafften sich die UKE-Fachleute doch auf – und lieferten eine Expertise, die wie ein Schlag ins Gesicht der Grote-Behörde und ihres Beraters Prof. Kerner wirkt.
Rettungsdienst Hamburg: Ärztlicher Leiter nur in Teilzeit?
Denn im „Entwurf eines Zweiten Gesetzes zur Änderung des Hamburgischen Rettungsdienstgesetzes“ und in der Begründung steht: Der Ärztliche Leiter des Rettungsdienstes (ÄLRD), der eigentlich fest bei der Feuerwehr installiert ist, soll künftig die Aufgabe nur noch in Teilzeit machen und ansonsten bei einem Krankenhaus „auf Chefarzt-Niveau“ angestellt sein. Vorgesehen sind 80 Prozent Arbeitszeit im Krankenhaus, 20 Prozent bei der Feuerwehr. Wie die Ärztliche Leitung im Rettungsdienst da gestärkt werden soll, ist fraglich. Das war aber ein Ziel der Reform.
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- Schwere Vorwürfe gegen Hamburger Gesundheitsbehörde
Den Grünen ist dieser heikle Absatz bewusst. Die Unabhängigkeit des Ärztlichen Leiters wäre dahin. UKE-Intensivchef Prof. Kluge sagte dem Abendblatt: „Beim Gesetzentwurf sehe ich in mehreren Punkten Ergänzungs- bzw. Korrekturbedarf. Die ärztliche Leitung des Rettungsdienstes sollte mit einer unabhängigen und neutralen Person besetzt werden. Die Stelle sollte bei der Feuerwehr liegen.“
Die Innenbehörde sagte dem Abendblatt über den Entwurf: Er sei noch in der Abstimmung und Diskussion.
UKE kritisiert Gesetzentwurf der Hamburger Innenbehörde
Der Präsident der Ärztekammer, Dr. Pedram Emami, hält es für sinnvoll, dass der Ärztliche Leiter im Rettungsdienst bei einem Krankenhaus arbeitet: „Es ist wichtig, dass die ärztliche Leitung Kenntnisse über die aktuellen Prozesse, Abläufe ebenso wie über die Strukturen in den Notaufnahmen hat.“ Das helfe, die Zusammenarbeit zwischen dem Rettungswesen und dem Krankenhaus zu verbessern. Allerdings dürfe die Nähe zu einem Arbeitgeber die medizinischen Entscheidungen nicht beeinflussen.
Das UKE schreibt in seiner Stellungnahme zum Gesetzentwurf: Der Ärztliche Leiter des Rettungsdienstes müsse unabhängig sein und bleiben. Das UKE fordert, dass die Wissenschaftsbehörde von Katharina Fegebank (Grüne) da unbedingt mitentscheiden müsse.
Außerdem wirft das UKE der Innenbehörde vor, der Gesetzentwurf sei zugeschnitten auf bestimmte künftige Ärztliche Leiter des Rettungsdienstes: „Die in der Begründung formulierte Anforderung ,Chefarzt-Niveau‘ ist für eine praxisgerechte Anwendung der Vorschrift deutlich zu unspezifisch. Sie engt den in Frage kommenden Personenkreis deutlich zu stark ein (unseres Wissens auf ca. zwei Personen).“
Krankenhaus-Manager: „Dann ist das ein Skandal“
Woher kommt dieser Vorwurf der „Einengung“ auf bestimmte Kandidaten? Auf eine Abendblatt-Anfrage erklärte die Innenbehörde, ihr Fachbeirat sei nicht beteiligt am Gesetzentwurf. Eine „Mitwirkung“ sei „nicht vorgesehen und auch nicht erfolgt“.
In dem Vorschlag für das neue Paragrafenwerk im Rettungsdienst steht, dass es darum gehe, „die Überlebenschancen für gefährdete Patientinnen und Patienten weiter zu steigern“. Diese Formulierung nennen Notärzte zynisch, die zusehen müssen, wie ihre „Fälle“ quer durch die Stadt gefahren werden. Mit Blick auf den Gesetzentwurf sagte ein hochrangiger Krankenhaus-Manager dem Abendblatt: „Wenn ein Ärztlicher Leiter des Rettungsdienstes für ganz Hamburg bei einem Krankenhaus angestellt ist, dann ist das ein Skandal.“
Anmerkung der Redaktion: Innensenator Grote weist darauf hin, dass Prof. Kerner nicht sein „Vertrauter“ sei. Wir haben eine missverständliche Stelle im Text angepasst.