Hamburg. Der 35-Jährige tötete bei den Zeugen Jehovas sieben Menschen und sich selbst. Auch sein Sportschützenverein war offenbar alarmiert.

Es war längst dunkel, als Ekkehard Wysocki (SPD), der Vorsitzende des Innenausschusses der Bürgerschaft, den Abgeordneten und Gästen am Donnerstagabend um 21.25 Uhr gönnerhaft „eine schnelle Fünf-Minuten-Pause“ gewährte. Ursprünglich zwei Stunden sollte die um 17 Uhr beginnende Sitzung laut Einladung dauern. Am Ende brauchte alleine Tagesordnungspunkt 1 („Sachstand der Ermittlungen zur Amoktat am 9. März 2023 in Alsterdorf“) knapp viereinhalb Stunden.

Dabei war es für die meisten Anwesenden nicht weiter verwunderlich, dass die Ausschusssitzung so lange ging. Immerhin wurde vier Wochen nach dem laut Innensenator Andy Grote (SPD) „schwersten Verbrechen in Hamburg in der jüngeren Zeit“ mit insgesamt acht Toten bei einer Gemeindeversammlung der Zeugen Jehovas in Alsterdorf erstmals ausführlich die schlimme Tat von Amok-Schützen Philipp F. politisch aufgearbeitet.

Hätte der Amoklauf verhindert werden können

Vor allem zwei Fragen standen für die innenpolitischen Sprecher der Bürgerschaft im Raum: Hätte der Amoklauf verhindert werden können? Und: Muss sich die Waffenbehörde ein Fehlverhalten vorwerfen lassen?

Bevor aber der Innensenator seine Antwort auf diese Fragen präsentierte, schilderten zunächst einmal Polizeipräsident Ralf Martin Meyer, Jan Hieber, der Leiter des Hamburger Landeskriminalamts, dessen Kollegen und Generalstaatsanwalt Jörg Fröhlich den dramatischen Ablauf des Einsatzes und den Stand der Ermittlungen.

Funkspruch: „Mutmaßlicher Täter ist tot“

Und obwohl ein Großteil des Ablaufes längst bekannt war, wurde es in dem bis auf den letzten Platz gefüllten Saal 151 im Rathaus mucksmäuschenstill, als die 16 Minuten vom schicksalhaften Abend des 9. März zwischen 21.03 Uhr, als der erste von 19 Notrufen bei der Polizei einging, und 21.19 Uhr dargestellt wurden. Um diese Uhrzeit hieß der Funkspruch: „Mutmaßlicher Täter ist tot.“

„Einige Kollegen mussten Dinge erleben, die sie noch nie erlebt haben“, berichtete Timo Zill. Der Leiter der Einsatzabteilung der Schutzpolizei beschrieb, wie in der Zentrale ein Kollege mit einem Mitglied der betroffenen Kirchengemeinde der Zeugen Jehovas vor Ort telefonierte, als dieser während des Notrufs erschossen wurde.

Täter: „Mir ist nicht mehr zu helfen“

Bereits unmittelbar vor der Tat soll Philipp F. vor dem Gemeindezentrum „auf und ab getigert“ sein. Als ihn ein Mitarbeiter der gegenüber liegenden Tankstelle fragte, ob er Hilfe brauche, soll Philipp F. geantwortet haben: „Mir ist nicht mehr zu helfen.“

1017 Polizisten und Polizistinnen waren laut Zill an diesem Abend im Einsatz. Dazu kamen noch einmal 171 Kräfte der Feuerwehr und der Hilfsorganisationen. Die beste Nachricht der Sitzung: Alle im Krankenhaus eingelieferten Verletzte haben überlebt.

Philipp F. schon vor Jahren psychisch auffällig

Neu war die Information, dass sich der Vater von Phlipp F. bereits 2021 wegen psychischer Probleme seines Sohnes an die Behörden gewandt hatte. Der Vater habe den Sozialpsychiatrischen Dienst angerufen und gesagt, dass sein Sohn Stimmen höre und sich umbringen wolle, sagte der Leiter des Hamburger Landeskriminalamts, Jan Hieber.

Nach einem Gespräch mit dem Sohn seien jedoch keine weiteren Maßnahmen für nötig befunden worden. Dabei habe das Umfeld des späteren Täters bereits 2019 eine Wesensänderung bei Philipp F. festgestellt, nachdem dieser seine Beziehung beendet und seinen Arbeitsplatz verloren habe, sagte Hieber.

Vater hatte 2021 die Behörden informiert

Philipp F. habe dann selbst Kontakte zu Ärzten aufgenommen, „um seine psychischen Probleme in den Griff zu bekommen“, und sei zwischenzeitlich auch in Bayern in stationärer Behandlung gewesen. Als er 2021 angekündigt habe, sich selbst heilen zu wollen, habe sich der Vater schließlich entschieden, die Behörden einzuschalten. Laut Polizeipräsident Meyer war der Hinweis den Sicherheitsbehörden allerdings nicht bekannt.

Von Versäumnissen aufseiten der Behörden wollten Meyer und Innensenator Grote trotzdem nichts wissen. Beide wurden besonders von den Vertretern der Opposition kritisiert, verwiesen aber auf bisherige Erkenntnisse einer Prüfgruppe der Polizei und der Fachaufsicht der Innenbehörde. Demnach sei der 35-jährige Sportschütze nach einem anonymen Hinweis wenige Wochen vor der Tat eng an den rechtlichen Vorgaben und nach den üblichen Standards überprüft worden.

Gladiator kritisierte Grote scharf

Doch genau an dieser Stelle folgten die meisten kritischen Nachfragen. Besonders Dennis Gladiator überzeugten die Ausführungen der Verantwortlichen nicht wirklich. Der innenpolitische Sprecher der CDU erinnerte mehrfach an das wirre Buch von Philipp F., von dem die Waffenbehörde schon vor der Überprüfung wusste.

Laut Meyer hätte die Tat aber wohl auch nicht verhindert werden können, wenn die Waffenbehörde das krude Werk mit dem Titel „Die Wahrheit über Gott, Jesus Christus und Satan“ ausgewertet hätte. Denn selbst wenn man zu dem Schluss gekommen wäre, ein fachpsychologisches Gutachten anzufordern, hätte Philipp F. die Waffe nicht sofort entzogen werden können.

LKA soll Waffenbehörde unterstützen

Grote räumte ein, dass auch ohne eigene Versäumnisse man Dinge in Zukunft ändern müsse. „Das alles hat nicht ausgereicht. Wir brauchen eine andere Prüfungstiefe“, sagte der 54-Jährige, der sich fleißig während der gesamten Versammlung Notizen machte. Seine Schlussfolgerung: Zukünftig müsse aus seiner Sicht das Landeskriminalamt (LKA) die Waffenbehörde bei der Risikobewertung unterstützen.

Nicht äußern wollten sich Meyer, Grote und Generalstaatsanwalt Fröhlich zu dem nur wenige Stunden zuvor veröffentlichten Artikel der „Zeit“, nach dem der Polizei und der Generalstaatsanwaltschaft konkrete Hinweise vorlägen, nach denen auch der Hanseatic Gun Club frühzeitig vor Philipp F. gewarnt worden war. Zur Erinnerung: In dem Sportschützenverein in der Hamburger Innenstadt war der spätere Amokläufer bereits seit Oktober 2021 Mitglied. Noch während der Innenausschusssitzung zitierte das Nachrichtenportal „t-online“ einen Sprecher des Hanseatic Gun Club mit der Aussage, dass man nach einem Anruf des Bruders von Philipp F. umgehend die Hamburger Waffenbehörde informiert hätte.

„Wir können momentan nicht sagen, wie sich der Sachverhalt weiter entwickelt“, sagte Grote zum Ende, nachdem er offenbar noch während der Sitzung die neusten Meldungen mitbekommen hatte. Unabhängig von den neusten Entwicklungen stand eine Sache für den Innensenator nach den Schilderungen am Abend fest: „Es ist zu leicht für Menschen mit psychischen Erkrankungen, an eine Waffe zu gelangen. Das Waffenrecht muss verschärft werden.“