Hamburg. Fischmarkt, Wohnschiff, Kaserne: Wie Ostflüchtlinge die Stadt erlebten, zeigt ein multimediales Projekt zum Tag der Deutschen Einheit.
- Flüchtlingsstarthilfe in Hamburg war für DDR-Flüchtlinge ein Hoffnungsort
- Fünf multimediale Touren zu 16 Stationen im Hamburger Stadtgebiet
- Ausstellung ist ab 4. Oktober im Unimuseum im Hauptgebäude der Uni
Die Trostbrücke 1, für viele Hamburger und Hamburgerinnen ist das nicht mehr als eine Adresse. Ein Gebäude unweit des Mahnmals St. Nikolai, an dem sie eher achtlos vorbeigehen. Für zahlreiche Menschen, die aus der DDR nach Hamburg flüchteten, war es aber ein Hoffnungsort. Denn hier hatten wohlsituierte Bürger, unter ihnen die Publizistin Marion Gräfin Dönhoff, einen Verein namens Flüchtlingsstarthilfe gegründet.
Wolfgang und Eckard beispielsweise erhielten Geschirr und Möbel vermittelt für ihre erste Bleibe in der Hansestadt. Für Manfred wurde ein Schreibmaschinenkurs organisiert – Voraussetzung für eine Lehrstelle. Noch in den 1980er-Jahren half die Flüchtlingsstarthilfe Heike mit einem Kontakt in die Uni. „Die Anlaufstelle hat den Einstieg in Hamburg sehr erleichtert“, erzählt Manfred. Nach dem Schreibmaschinenkurs klappte es mit der Lehrstelle.
Manfred, Wolfgang, Eckard und Heike sowie viele andere erzählen ihre Geschichten vom Ankommen aus der DDR in Hamburg; eine Geschichte, die in der Hansestadt bisher kaum sichtbar war. Auf Basis von Gesprächen und ausführlichen Interviews mit 18 Zeitzeuginnen und -zeugen sind daraus fünf multimediale Touren zu 16 Stationen im Hamburger Stadtgebiet entstanden, die diesem Montag an zu hören und zu erleben sind. Das Projekt will unsichtbare Orte sichtbar machen – passend zum Tag der Deutschen Einheit, der in diesem Jahr zentral in Hamburg gefeiert wird.
Universität Hamburg: Nach Abendblatt-Aufruf meldeten sich Zeitzeugen
Am Anfang stand ein Aufruf im Hamburger Abendblatt an Zeitzeugen, sich an das Team des Forschungsprojekts „Orte der (Un-)Sichtbarkeit“, angesiedelt im Arbeitsfeld Public History der Universität Hamburg, zu wenden. „80 Menschen haben sich gemeldet, wir wurden von Anrufen nur so überflutet“, erzählt Forscherin Theresa Hertrich. „Für viele von ihnen war es das erste Mal, dass sie so explizit darüber sprechen.“ Sie fühlen sich mittlerweile als Teil der Hamburger Stadtgeschichte, „hatten den Rucksack der Erinnerungen aber immer mit sich geschleppt“. Jetzt wollten sie ihre Geschichte teilen. „Von der Uni dazu eingeladen zu sein gab vielen von ihnen ein Gefühl der Wertschätzung“, sagt der Historiker Prof. Dr. Torsten Logge vom Arbeitsfeld Public History der Universität.
In den Gesprächen kristallisierten sich die Orte heraus, die viele ihrer Wege prägten. Daraus entwickelten die Forscher um Logge die Audiotouren. Sie führen unter anderem nach Finkenwerder, an den Jungfernstieg und in den Hamburger Osten nach Wandsbek. Neben der audio-geführten Tour gibt es jeweils auch eine detaillierte Beschreibung mit ergänzenden historischen und aktuellen Fotos und Dokumenten. Anhand individueller Schicksale, spezieller Orte oder spezifischer Jahre von 1953 bis zum Fall der Mauer wird so die Erinnerung an die DDR und das Ankommen in der Hansestadt erlebbar. „Es ist interessant, wie viele unterschiedliche Geschichten ein Ort erzählen kann“, sagt Logge. Eine Ausstellung im Universitätsmuseum gibt Einblick in die Touren und stellt das Projekt vor.
Wohnschiff „Casa Marina“ und Südfrüchte massenhaft
Der Fischmarkt ist so ein Ort. Hier in der Nähe lag die „Casa Marina“, ein stählernes Wohnschiff, auf dem viele Flüchtlinge unterkamen, als alle anderen Unterkünfte zu Lande belegt waren. Für Sarah Victoria war das nach ihrer Ankunft eine wichtige Station. Aber auch das Markttreiben immer am Sonntagmorgen übte auf die Neuankommenden eine große Faszination aus. Nach der Grenzöffnung 1989 zogen Atmosphäre, aber auch die günstigen Südfrüchte und Jeans aus Fernost die Besucher aus der DDR an, die solche Fülle schier überwältigte. An „große Augen, großes Staunen“ erinnert sich eine Zeitzeugin. Die Umgebung war mit Trabis zugeparkt, der Abgasgeruch der Zweitakter erfüllte die Luft.
Oder die Lettow-Vorbeck-Kaserne in Jenfeld, ein weiterer Ort des Ankommens. Tausende DDR-Bürger fanden hier ab den 1950er-Jahren ein erstes Zuhause, ein sehr spartanisches allerdings. Als im Anschluss an den gewaltsam niedergeschlagenen Volksaufstand in der DDR im Juni 1953 eine Flüchtlingswelle vom Osten in den Westen einsetzte, bot die Kaserne im Schnitt nur 2,5 bis drei Quadratmeter Platz pro Person.
DDR-Flüchtlinge: Drei Familien in einem Zimmer
„Wir lebten mit drei Familien in einem Zimmer“, erinnert sich Gitte in der Audiotour. Mit dreckig-braunen Militärdecken wurde der Raum notdürftig in drei Abschnitte geteilt. Auch Marlen lebte mit zehn Personen in einem Kasernenraum. Geschlafen wurde in Stockbetten. Wichtig war es für die Erwachsenen, schnell Arbeit in Hamburg zu finden. Denn wer in der Hansestadt keine Arbeitsstelle vorweisen konnte, wurde meist nach Nordrhein-Westfalen weiterverteilt.
- DDR-Flucht: Wie Peter Döbler bis nach Fehmarn schwamm
- Chronik: Hamburg zwischen Wende und Einheit
- Todesmutig: Die Flucht meiner Eltern aus der DDR
„Dieses Kooperationsprojekt zeigt, wie nah Wissenschaft an den Menschen und ihrem Leben sein kann“, sagt Universitätspräsident Prof. Dr. Hauke Heekeren: „Es wird eine bedeutende Zeit der deutschen Geschichte neu beleuchtet, lokal verbunden und auf neue Art erfahrbar gemacht.“ Das Projekt, das in Kooperation mit der Landeszentrale für Politische Bildung entstanden ist, sei ein hervorragendes Beispiel für Wissenstransfer.
Universität Hamburg: Letzte Zeitzeugin verpasst den Mauerfall
Das Projekt endet mit dem Fall der Mauer. Den hat die letzte Zeitzeugin verpasst. Sie war schon zur Flucht entschlossen und hatte ihre Habseligkeiten verpackt oder abgebaut – inklusive des Fernsehers. So bekam sie erst gar nicht mit, dass die Grenze geöffnet und eine Flucht nicht mehr nötig war. Am 11. November 1989 reiste sie aus, einfach so.
In fast allen Erzählungen der Zeitzeugen spielt auch ein Gefühl von Diskriminierung eine Rolle, das sie als DDR-Flüchtlinge in Hamburg aufgrund ihres Dialekts oder Herkunft erlebten. „Das zieht sich durch alle Epochen hindurch“, sagt Forscher Jan Krawczyk. Eine Zeitzeugin erzählt, sie habe vor einigen Jahren ein ganz schnulziges Lied über Hamburg gehört. Da erst sei ihr klar geworden, dass die Hansestadt ihre Heimat geworden war.
Die Ausstellung ist ab 4. Oktober (bis März 2024) im Unimuseum im Hauptgebäude der Universität an der Edmund-Siemers-Allee zu sehen (Di 10.00–14.00 Uhr, Do 15.00–19.00 Uhr, Sa 14.00–18.00 Uhr). Der Eintritt ist frei. Am 3. Oktober ist die Ausstellung von 11 bis 18 Uhr zugänglich, um 15.30 Uhr gibt es zudem eine Führung. Weitere Führungen am 5.10., 2.11., 7.12., 4.01.24 und 1.02.24 jeweils um 15 Uhr. Bei den Führungen wird es auch die Möglichkeit geben, mit Zeitzeuginnen und -zeugen ins Gespräch zu kommen. Darüber hinaus sind zahlreiche Workshops und Lesungen in der Ausstellung geplant, etwa mit Nicole Weis („Elbe 511“, 17.10.) und Aron Boks („Nackt in die DDR“, 31.10.). Alle Termine und Informationen, etwa für Schulen und Bildungseinrichtungen, gibt es online unter: www.orte-der-unsichtbarkeit.de