Kreis Pinneberg. Heute vor 60 Jahren – in der Nacht des Mauerbaus – floh Burghard Schalhorn aus der DDR. Die Geschichte des Pinneberger Kreispolitikers.
Eine gehörige Portion Glück und Zufall sowie ein gutes Maß an Mut und jugendlicher Chuzpe spielen wohl eine wichtige Rolle in dieser Geschichte. Sie erzählt vom Schicksal eines jungen Mannes von der Insel Usedom und seiner damaligen Verlobten, die haarscharf vor dem Bau der Berliner Mauer die letzte Lücke finden, um hindurch zu schlüpfen in die große Freiheit, die sie sich vom Westen versprechen.
Burghard Schalhorn flüchtet aus der DDR
Es ist die Geschichte des Klein Nordender Kreistagsabgeordneten Burghard Schalhorn, dem dieser nicht ungefährliche Ritt auf der Rasierklinge in der Nacht vom 12. auf den 13. August 1961 gelungen ist. Der 80-Jährige hat deshalb eine ganz besondere Beziehung zum Mauerbau, der heute vor 60 Jahren das Nachkriegsdeutschland endgültig – und für viele Familien schmerzhaft – in zwei Teile riss.
Vor genau 60 Jahren gelang Burghard Schalhorn, der heute mit seiner zweiten Frau in Klein Nordende lebt, die Flucht in den Westen. Besseres Timing hätte es kaum geben können. Oder: Schalhorn hat die allerletzte Chance genutzt. Denn exakt in der Nacht vom 12. auf den 13. August 1961, als die DDR damit begann, Ostberlin einzumauern, um die Massenflucht ihrer Bürger zu stoppen, brach der damals 20 Jahre alte Ostbürger auf. Für Schalhorn und seine spätere erste Frau Marlies ist es die entscheidende Wende in ihrem Leben.
Schalhorn lebte auf der Insel Usedom
Schalhorn, der in Peenemünde geboren ist, lebt damals mit seiner Familie in Wolgast auf der Insel Usedom. Die Eltern versorgten sich, die beiden Töchter und den einen Sohn mit ihrem Selbstversorger-Bauernhof mit Kühen, Schweinen und Schafen. „Das gelang ihnen mehr schlecht als recht“, erinnert sich Schalhorn, der seine Kindheit im Arbeiter- und Bauernstaat verbringt.
Ihr Vieh und die Gerätschaften müsse sie schließlich an die Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaft (LPG) abtreten. 1960/61 ist die zwangsweise erfolgte Kollektivierung der Landwirtschaft in der DDR abgeschlossen. Selbstständige Bauern gibt es jetzt nicht mehr.
Jura-Studium wurde Schalhorn verwehrt
Burghard Schalhorn lernt zu dieser Zeit Stahlschiffbauer auf der Werft in Wolgast. „Da haben wir Küstenmotorschiffe und auch Militärschiffe gebaut“, erinnert er sich. Dabei hat er eigentlich ganz andere Berufsziele. „Am liebsten wollte ich Jura studieren. Doch das ging leider nicht. Meine Noten waren zwar gut, nur meine politische Richtung stimmte nicht.“
Dann plant er, Förster oder Radio- und Fernsehtechniker zu werden, was damals ein aufstrebender neuer Berufszweig ist. Doch für den Förster hätte er eine Waffe tragen dürfen und als Radiotechniker womöglich mit dem Westen in Funkkontakt treten können. Also wird dieser Plan dem jungen Schalhorn von den Behörden verweigert. „Unsere Familie galt nicht als besonders politisch und ideologisch fest“, erklärt sich Schalhorn diese ablehnende Haltung.
Schalhorn ist leidenschaftlicher Radsportler
Seine ganze Leidenschaft gilt dem Radsport. Ständig ist Schalhorn mit seiner Rennmaschine unterwegs, radelt wohl 500 Kilometer pro Woche durch die Landschaft, am Wochenende auch mal gerne zu seiner Verwandtschaft nach Westberlin. 1960 wäre er am liebsten noch weiter nach Rom geradelt, um an den Olympischen Spielen teilzunehmen. Doch auch das wird dem jungen Rad-Enthusiasten verweigert.
So hat Schalhorn innerlich längst mit dem System in seinem Heimatland abgeschlossen, das ihm so wenige Entwicklungsmöglichkeiten und freie Entfaltung bietet. Er will nur noch weg. In den Westen, wo ihm alle Freiheiten offenzustehen scheinen.
Anfang August fällt er die schwere Entscheidung, mit seiner ein Jahr jüngeren Verlobten einfach abzuhauen. Am 12. August machen sie sich auf den Weg, steigen mit leichtem Gepäck und Handtaschen in Wolgast in den Zug nach Berlin. Nichtsahnend, dass der nächste Tag das Schicksal für alle Ostberliner für die nächsten 28 Jahre besiegeln wird.
Uniformierte kontrollieren die Fahrgäste
In Züssow, dem ersten Bahnhof nach Wolgast, müssen sie in die Reichsbahn von Stralsund nach Berlin umsteigen. Der Zug ist voll mit Uniformierten. Bereits da wundern sich die beiden Flüchtlinge. „Da wurde uns etwas mulmig zumute“, sagt Schalhorn. Ständig seien weitere Uniformierte zugestiegen. In Bernau vor Berlin sollen plötzlich alle aussteigen – auch Schalhorn und seine Verlobte. „Es war stockdunkel und der ganze Bahnhof voll von Polizei.“ Der Weg in die Freiheit scheint plötzlich verbaut.
Doch das Paar hat einen Rettungsanker. Weil die Schwester seiner Verlobten in Leipzig lebt, lösen sie vorsorglich eine Bahnfahrkarte nach Leipzig. Zwar fährt ihr Zug nicht weiter Richtung Berlin, wo sie eigentlich umsteigen wollen. Doch mit der S-Bahn zum Bahnhof Gesundbrunnen mitten in der Hauptstadt ist das noch möglich. Ganz in der Nähe befindet sich inzwischen die Gedenkstätte der abgerissenen Berliner Mauer.
Schalhorn gelingt es, die Beamten auf dem Bernauer Bahnhof zu überzeugen, dass er und seine Verlobte nur über diesen Weg den Anschlusszug nach Leipzig erreichen. Dort angekommen, springen sie raus aus der S-Bahn - und werden von zwei Typen verfolgt. Wieder denken sie, alles sei jetzt aus, das wären Vopos. Aber es sind ganz normale Fahrgäste so wie sie, die offenbar auch in den Westen wollen.
Am 13. August beginnt der Bau der Berliner Mauer
Von hier aus geht es weiter für das junge Paar mit dem Linienbus nach Kreuzberg, wo Schalhorns Onkel Max und Tante Elisabeth wohnen. Die Verwandten hat er ohnehin fast jedes Wochenende mit seinem Rad besucht, um ihnen Fleisch vom elterlichen Betrieb mitzubringen. Mitten in der Nacht auf den 13. August 1961 kommen sie dort an. Ein Schicksalsdatum für sie und viele andere DDR-Bürger.
Am nächsten Morgen holt der Onkel Brötchen vom Bäcker und kommt mit der Nachricht des Tages wieder: Der Berliner Osten ist über Nacht abgeriegelt. An der Heinrich-Heine-Straße sei Stacheldraht. Eine Mauer im Bau verhindert das Durchkommen. Aber zum Glück für Schalhorn und seine Begleiterin sind sie bereits auf der westlichen Seite.
„Wir waren so glücklich, dass wir es geschafft hatten.“
Sie müssen sich bei der Flüchtlingsstelle melden und werden nach einer Woche Richtung Westdeutschland ausgeflogen. Über Hannover beginnt für Schalhorn und seine Verlobte die neue Freiheit im Auffanglager Uelzen. „Wir waren so glücklich, dass wir es geschafft hatten.“
Sie ziehen weiter nach Dortmund, wo sie noch im selben Jahr heiraten und zwei Töchter bekommen, die heute um die 50 Jahre alt sind und in Wedel leben, wohin die Familie Anfang der 1990er Jahre umzieht.
Doch auch in Dortmund fassen sie Fuß. Schalhorn wird 1980 sogar Karnevalsprinz. Er arbeitet weiter im Stahlbau, macht sich mit Aluminiumhandel selbstständig und wird Verkaufsleiter für Norddeutschland einer großen Stahlbaufirma. Seine Familie im Osten besucht er, sobald es geht. 1969 das erste Mal. Einmal pro Jahr danach, meist in Berlin. Über seine Flucht sprechen sie dabei selten. Aber Schalhorn spürt, dass seine Eltern den Schritt in den Westen für den richtigen für ihn halten.
Schalhorn ist als Kommunalpolitiker engagiert
Einmal, als er sie wieder einmal in Usedom besucht, steht sogar ein Stasi-Spitzel mit dem Auto am Grundstück. „Suchen Sie jemanden?“, habe er ihn gefragt und nur betretenes Schweigen geerntet. Seiner Mutter hat er erzählt, sie solle sagen, dass er arbeitslos sei. Aber die Spitzel des Systems wissen genau Bescheid über seinen beruflichen Werdegang, wie er später erfährt.
Seine Flucht in den Westen hat Schalhorn nie bereut. Im Gegenteil. Hier bleibt er ein eiserner Gegner der DDR und engagiert sich politisch. Heute gehört er seit fast 30 Jahren dem Pinneberger Kreistag an, zunächst für die CDU, später für die Kreiswählergemeinschaft, die er vor 15 Jahren gründete.
Sein großes Ziel, eine Gedenkstätte für die Berliner Mauer und deren Opfer hier im Kreis Pinneberg zu errichten, hat er allerdings bis heute noch nicht erreicht.