Hamburg. 50 Jahre nach der Flucht enthüllt ein Hamburger Kriminalautor, warum der einst linientreue Peter Döbler in den Westen floh.

Peter Döbler ist in die Freiheit geschwommen, 45 Kilometer über die Ostsee. Es war eine Hetzjagd. Seine Verfolger suchten ihn mit Scheinwerfern, ließen Motorboote aufheulen und setzten Kampfschwimmer auf ihn an. Ohne Erfolg. Der einst so linientreue Sozialist kam im Westen an und ließ die Deutsche Demokratische Republik (DDR) hinter sich.

Was war geschehen, dass er sich vom Regime der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) abwandte? Wieso wählte er den Seeweg? Und wie knapp entkam er wirklich?

„Kurs Nordwest“: Ein Enthüllungsroman

50 Jahre nach der Flucht enthüllt ein Hamburger Kriminalautor die Hintergründe zur Flucht. Rob Lampe (51) erzählt in seinem Roman „Kurs Nordwest“, was sich damals zutrug. „Mit dem Tatsachenroman möchte ich Zeugnis ablegen über diesen willensstarken Mann“, sagt Lampe, „ich möchte, die Geschichte vor dem Vergessen bewahren und anderen Menschen Mut machen: Gib nie etwas auf, an das du jeden Tag denken musst.“ So wie Döbler.

Peter Döbler ist vor 50 Jahren aus der DDR geflohen. Er schwamm mehr als 45 Kilometer durch die Ostsee.
Peter Döbler ist vor 50 Jahren aus der DDR geflohen. Er schwamm mehr als 45 Kilometer durch die Ostsee. © Peter Döbler

August 1959, Rostock. Der damals 19 Jahre Sozialist liebte seine Heimat. Er verstand die DDR als Fortschritt. Nicht umsonst hatte er sich bei den Jungpionieren und der Freien Deutschen Jugend engagiert. Als Arzt wollte er dem Gemeinwohl dienen, hatte sich für das Medizinstudium an der Universität Rostock beworben. Mit einem Abi-Schnitt von 1,6. Damals eigentlich ein Selbstläufer. Doch als eines Nachmittags ein Brief auf dem Esstisch lag, passierte, womit niemand gerechnet hatte. Der Brief lag neben einer Flasche Sekt auf dem Esstisch. Döbler riss ihn auf, als er nach dem Fußballspielen nach Hause kam. Lampe beschreibt die Szene im Roman:

Er las. Leise. Erblasste. Legte den Brief beiseite und schenkte sich etwas Sekt ein. Trank einen Schluck und nahm den Brief erneut zur Hand. Las noch einmal. Seine Miene blieb eingefroren ... „Sie haben mich abgelehnt“, fasste er ruhig zusammen, stand auf und ging ins Kinderzimmer. Dort verlor er seine Contenance. „Die Schweine haben mich abgelehnt!“, schrie er und warf die Tür ins Schloss.

Vom Tod des Vaters profitiert

An diesem Tag war Döbler sauer – auf die Uni, das SED-Regime und vielleicht auch auf seinen Vater. Der arbeitete als selbstständiger Steuerberater, galt als Handlanger der Kapitalisten und Feind des sozialistischen Gedankens.

Dabei konnte der Vater gar nicht mehr arbeiten. Er war krank, lag in einer Klinik und starb kurz darauf. Döbler nutze diesen Umstand, galt er doch nicht mehr als Kapitalistenkind, bewarb sich erneut an der Uni und wurde angenommen. Die Freude über den Studienplatz und am Regime waren getrübt. Döbler meinte, er habe Profit aus dem Tod des Vaters geschlagen.

Der Gedanke an Flucht kam spät

Trotzdem glaubte er noch an den Sozialismus, war glücklich in Rostock. Rückblickend sagt Döbler: „Ich hatte immer einen sehr guten Fernsehempfang und war gut informiert, was im Westen los war.“ Dadurch sei kein Fluchtgedanke aufgekommen. Er kam erst viel später, als er bereits verheiratet, Vater eines Kindes und wieder geschieden war. Als seine Ausbildung zum Facharzt für Chirurgie zu scheitern drohte.

In der Zwischenzeit hatte das SED-Regime im August 1961 mit dem Bau der Mauer begonnen. Die Sicherheitskräfte riegelten die Grenze zwischen West- und Ost-Berlin mit Stacheldraht ab, zogen schließlich eine Betonwand hoch.

Frust und der Drang nach Freiheit

Frühjahr 1970, Rostock. Döbler arbeitete im Bezirkskrankenhaus Rostock-Südstadt, leistete schon seit Monaten Schichten in der Unfallchirurgie. Laut Ausbildungsplan hätte er längst wechseln müssen, doch der Klinikchef Professor Martin erlaubte es nicht. Döbler entsprach nicht mehr dem sozialistischen Ideal: Immerhin wollte er nicht bestätigen, keine westlichen Fernseh- und Radiosender zu empfangen. Auch wollte er den sowjetischen Einmarsch in die Tschechoslowakei nicht gutheißen.

„Die haben mir zu verstehen gegeben, dass ich mich nur so verhalten müsste, wie sie wollten. Dann gäbe es keine Probleme. Aber ich wollte mich nicht zum Sklaven des Staates machen und alles nachplappern“, sagt Döbler heute. Aus dem Grund habe er unter der Woche 80 Stunden arbeiten und an Wochenenden Bereitschaftsdienste leisten müssen, bekam nur 76 Pfennig pro Stunde. Darüber hatte sich der junge Arzt wiederholt beschwert, zuletzt im Herbst 1970. Er suchte das Gespräch mit dem Professor, rechnete ihm vor, um einen Maler für einen halben Tag zu bezahlen, hätte er ein Wochenende lang arbeiten müssen.

Rob Lampe enthüllt die Details zu Döblers Flucht im Roman „Kurs NordWest“.
Rob Lampe enthüllt die Details zu Döblers Flucht im Roman „Kurs NordWest“. © Roland Magunia

„Das gleicht einer Ausbeutung, Professor Martin“, schreibt Lampe im Roman. „Ich war immer der Meinung gewesen, und so habe ich es gelernt, dass genau das der Unterschied zwischen Kapitalismus und Sozialismus sei.“ Martin beugte sich gemächlich nach vorn und kam Peter dabei immer näher. Dann stoppte er, zog seine Brauen zusammen und antwortete trocken: „Wenn Sie einen weißen Kittel tragen möchten, dann werden Sie doch Maler.“ Schweigen. Ohnmächtige Wut schäumte in Peter auf und er erkannte, was er schon längst hätte wissen müssen. Die Klinikführung hatte ihn in der Hand.

Döbler erinnert sich gut an diesen Moment, eine Schlüsselszene in seinem Leben. Von da an habe er gewusst, was zu tun war. „Als ich nach Hause ging, dachte ich: Das reicht jetzt! Das lässt du dir nicht mehr gefallen! Von da an gab es kein Zurück mehr. Es gab nur noch den Fluchtgedanken.“

Döbler: „Kurs Nordwest! Es gibt kein Zurück!“

Zwei Dinge waren dem Assistenzarzt von vornherein klar: Er wollte sich auf niemanden außer sich selbst verlassen, im Zweifel hätten ihn seine Helfer verraten, und der Landweg kam nicht infrage. Dort hätten zu viele Gefahren gelauert. Stattdessen setze er auf den Überraschungseffekt und entschied zu schwimmen. Döbler sagt, immerhin sei er schon als elf Jahre alter Junge nach Kessin und zurück geschwommen. Das waren 14 Kilometer. Über die Müritz seien es sogar 20 Kilometer gewesen.

Eineinhalb Jahre bereitete er sich darauf vor, über die Ostsee von Kühlungsborn bis nach Fehmarn zu schwimmen: Er trainierte auf der Oberwarnow, ging eisbaden und beobachtete das Treiben am Stand. Er musste die Routine der Grenzer, deren Routen und Kontrollpunkte ausspähen. Dadurch wusste er, dass die Scheinwerfer zwar kilometerweit leuchteten, doch nur der Angstmacherei dienten. Niemals hätte ein Schwimmer beim kleinsten Wellengang gesichtet werden können.

Kündigung per Tonträger

Die Staatssicherheit (Stasi) legte das Tonband zu den Akten von Peter Döbler. Er hatte es im Schreibtisch des Stationsarztes versteckt.
Die Staatssicherheit (Stasi) legte das Tonband zu den Akten von Peter Döbler. Er hatte es im Schreibtisch des Stationsarztes versteckt. © Rob Lampe / hansanord Verlag

War Döbler nicht am Strand oder im Krankenhaus, trainierte er seinen Geist, sagt er. So wie Hannes Lindemann, der im Jahr 1955 den Atlantik überquerte. Dessen Geschichte kannte Döbler aus dem Buch „Allein über den Ozean“ und erfuhr mehr über die Theorie des Selbstprogrammierens, heute bekannt als autogenes Training.

„Als Arzt leuchtete mir das aber ein, mein Unterbewusstsein und Bewusstsein mit positiven Gedanken zu steuern. Meine waren: Ich schaffe das! Nicht aufgeben! Kurs Nordwest! Es gibt kein Zurück!“ Das habe ihm zuversichtlich gestimmt. Man könnte meinen, er sei überschwänglich bis unvorsichtig geworden, denn er hinterließ einen Tonträger im Krankenhaus. „Ich habe die Frechheit besessen aufzunehmen, dass ich kündige und morgen in der Freiheit sein werde.“

Döblers Flucht von Kühlungsborn nach Fehmarn

Peter Döbler flüchtet über die Nordsee aus der DDR. Der Autor Rob Lampe erzählt seine Geschichte im Roman
Peter Döbler flüchtet über die Nordsee aus der DDR. Der Autor Rob Lampe erzählt seine Geschichte im Roman "Kurs NordWest". © Rob Lampe / hansanord Verlag | Rob Lampe / hansanord Verlag

24. Juli 1971, Kühlungsborn. Es war so weit. Döbler schwamm in Kühlungsborn los, dem westlichsten Küstenort, an dem damals noch kein Grenzturm stand. Erst ein Jahr später wurde dort einer gebaut. Im Roman hat Döbler zur Tarnung seinen Seesack dabei. Darin lag seine Anglerausrüstung: zwei Brandungsruten, zwei Angelrollen und ein Behälter für Rot- und Tauwürmer.

Zusammen mit seinen Kleidern ließ er die Geräte und Köder am Strand zurück und stieg im Neoprenanzug in die Ostsee. Er trug Flossen an den Füßen, eine Haube auf dem Kopf und einen Schnorchel im Mund. Ein Kompass baumelte an seinem Handgelenk. Einen aufblasbaren Schwimmring hatte er auch bei sich, um zwischendurch zu entspannen. In einem Plastikbeutel lagerte der Proviant: Bitterschokolade und Obesin-Dragees. Die Tabletten enthielten ein Amphetamin, das euphorisierend wirkte und Lampe zufolge in jeder Apotheke als Appetitzügler zu bekommen war. Der Autor beschreibt im Roman, wie Döbler sich ein letztes Mal zum Ufer umdreht:

Peter schaute zum Strand bis hin zur Promenade. Dort ging alles seinen gewohnten Gang. Niemand schien Notiz von ihm genommen zu haben. Er konnte es kaum glauben. Es ging los! Adieu, Deutsche Diktatorische Republik, jubelte er in Gedanken und begann von der Sandbank aus loszuschwimmen.

Verfolgungsjagd mit Suchscheinwerfern und Schnellbooten

Westzeitungen berichteten über Döblers Flucht, darunter auch Die Welt.
Westzeitungen berichteten über Döblers Flucht, darunter auch Die Welt. © Rob Lampe / hansanord Verlag | Rob Lampe / hansanord Verlag

Er schwamm erst nach Norden, um außer Sichtweite der Grenzer zu kommen. Nach 15 Kilometern änderte Döbler seinen Kurs auf Nordwest und in Richtung Fehmarn. Ein Suchtrupp war längst ausgerückt, das habe der Flüchtige damals gespürt. Er sah die Suchscheinwerfer an Land, hörte Schnellboote, spürte die Jäger, die auf ihn angesetzt waren.

Hätte sie ihn gefasst, hätten sie schießen dürfen. Als Döbler seine Verfolger abgeschüttelt glaubte, sei ein Gewitter aufgezogen. Döbler drohte zurück an Land gespült zu werden. Doch er schaffte es, den Kurs zu halten. Der Flüchtige fand nach 25 Stunden im Wasser den Weg auf eine Segeljacht vor der Küste Fehmarns, wie auch Tageszeitungen berichteten. Der Autor schreibt weiter:

Mit letzter Kraft entledigte sich Peter seiner kellenartigen Handflosse und streckte dem Mann seine bläulich-weiße schrumpelige Hand entgegen. Eine wunschlose Seligkeit durchdrang ihn, als er die Leiter emporkletterte und an Bord ging. Er schloss die Augen, spürte seinen vor Schmerz schreienden Körper und zugleich eine vollkommene Stille, als er nach 25 Stunden wieder Boden unter den Füßen hatte. „Ich bin Peter Döbler. Ich bin aus der DDR geflohen und habe entsetzlichen Durst. Haben Sie etwas zu trinken?“

Getrieben: Döbler kommt nicht zur Ruhe

Zurück an Land meldete sich Döbler bei der Polizei und wurde Westbürger. Er promovierte in Kiel und verhalf seinem Bekannten Erhard Schelter zur Flucht, ebenfalls über die Ostsee. Später fand Döbler in Hamburg sein neues Zuhause, lebte zwischenzeitlich auf den Kapverdischen Inseln. Dort lernte er seine zweite Frau kennen und bekam einen zweiten Sohn.

Heute wohnt die Familie im Hamburger Stadtteil Poppenbüttel. Zur Ruhe gekommen ist der 81 Jahre alte Mann aber nicht: Er macht zurzeit Urlaub auf Rügen, gibt demnächst Autogrammstunden und könnte bald an einem Filmprojekt mitwirken. Er und Rob Lampe wurden bereits angefragt, ob der Roman „Kurs Nordwest“ verfilmt werden könne. Die Filmanfrage käme von einem bekannten deutschen Regisseur. Der Name soll vorerst geheim bleiben, weil noch nichts abgemacht wurde.

Rob Lampe: „Kurs Nordwest“, 283 Seiten, Verlag Hansanord, 20 Euro

Rob Lampe hat die Fluchtgeschichte Peter Döblers aufgeschrieben. Sein Roman ist ab September erhältlich.
Rob Lampe hat die Fluchtgeschichte Peter Döblers aufgeschrieben. Sein Roman ist ab September erhältlich. © Roland Magunia | Roland Magunia