Hamburg. Die Hamburger Band um Sänger Schorsch Kamerun lud zum Karriererückblick nach Kampnagel. Ein langer Abend zwischen Funpunk und Avantgarde.
Als Musiker in Würde zu altern: schwierig. Eigentlich gibt es da nur zwei erfolgsversprechende Wege: Entweder, man macht einfach immer dasselbe und erspielt sich so den Ruf des so konservativen wie konsequenten Kauzes (Modell Element of Crime). Oder man wechselt ständig chamäleongleich die musikalische Signatur, um sich so an die Spitze des künstlerischen Fortschritts zu stellen (Modell David Bowie).
Die Goldenen Zitronen, vor 40 Jahren als Funpunk-Band gestartet, machen beides. Was natürlich ein Widerspruch ist, der sich kaum auflösen lässt, aber in einem Song heißt es nicht ohne Grund „Immer diese Widersprüche“, so dass man feststellen kann: Widersprüchlichkeit ist das, was diese Band bis heute relevant hält.
Goldene Zitronen feiern 40. Geburtstag: Immer diese Widersprüche
„Widersprüche“ ist jetzt auch schon 24 Jahre alt, erschienen 2001 auf der CD „Schafott zum Fahrstuhl“, als die Musiker schon verstandenen hatten, dass die Grenzen des Punk ihnen zu eng waren, sie aber noch nicht so radikal in Elektronik, Jazz und Krautrock mäanderten wie auf späteren Veröffentlichungen. Der Song erklingt auf Kampnagel, beim Galakonzert anlässlich des 40. Bandjubiläums, das die gesamte Karriere der Goldenen Zitronen abbildet.
Also auch die ganz alten Punkrock-Stücke, die heute ein bisschen peinlich sind, „Porsche, Genscher, Hallo HSV“ von 1987 etwa (toller Titel allerdings). „Wir haben uns nicht verschlossen vor unserem Frühwerk“, murmelt Gitarrist Ted Gaier ins Mikro, und, nein, man muss sich da nicht für schämen. Aber ein bisschen von gestern ist das schon, gerade, wenn man sich als Vergleich anhört, wie heutig diese Band im Jahr 2024 klingt.
Goldene Zitronen: Der Abend ist ein Heimspiel, viele Freunde sind gekommen
Was natürlich hilft: Der Auftritt auf Kampnagel ist ein Heimspiel, da kann man Freunde einladen, an die sich die ganz seltsamen Geschmacksverirrungen auslagern lassen. Aldo Moro, Bandgründer und bis 1994 als Gitarrist und Bassist dabei, kommt zu „Die chinesische Schubkarre“ auf die Bühne. Nikolaus Hof, als „Psycho 1“ (über den Coolnessfaktor solcher Pseudonyme sollte man auch mal reden) ab 1989 sechs Jahre Zitronen-Gitarrist, sorgt für eine seltsam aus der Zeit gefallene Rockabilly-Note und singt den eigenen Song „Heinrich Brinkmann“.
„Nixe“ aka Rebecca Walsh war zwar nie Bandmitglied, allerdings schon beim ersten Konzert 1984 in Heidelberg mit dabei, weswegen sie auch diesmal mehrfach für den Background-Gesang sorgt. Und für die Schlagerpunk-Skurrilität „Am Tag, als Thomas Anders starb“ darf Ärzte-Schlagzeuger Bela B. ans Mikro. Kann man machen. Muss man aber nicht unbedingt.
Weil wirklich interessant an dieser Band doch eher ist, dass sie sich erstens ihr Punk-Ethos über 40 Jahre bewahrt hat, also: Do-it-Yourself-Ästhetik bei gleichzeitiger Neugierde auf neue Erfahrungen. Und dass sie zweitens dieses Ethos nutzt, um musikalisch etwas ganz anderes zu machen. Das führt dann zum Coldwave-Brecher „Wenn ich ein Turnschuh wär“ (in einer beinahe zu perfekten Inszenierung) oder dem dunklen „Bleib bei mir“ (bei dem Sophia Kennedy die zweite Stimme übernimmt).
Mit Punkrock hat das insofern zu tun, dass der Gedanke, der hinter dieser Musik steht, immer noch Punk ist: „Die Verhältnisse sind übel, aber alles ist möglich“. Doch musikalisch ist das überhaupt kein Punk mehr, und, um ehrlich zu sein, steht es der Band nicht wirklich, wenn sie versucht, noch einmal auf die Formsprache des Punk zurückzugreifen. Auf der anderen Seite ist es natürlich sehr Punk, dass sie das trotzdem macht. Immer diese Widersprüche.
Die Musiker wollten schon vor Jahrzehnten nicht in eingefahrenen Punkbahnen bleiben
Zumal die Musiker schon vor Jahrzehnten wussten, dass sie ein zu enges Punkverständnis nicht wirklich weiterbringen würde. „Willst du wirklich für immer konservativ bleiben?“ heißt es im frühen „Für immer Punk“, und es kommt nicht von ungefähr, dass gerade diese Nummer auf Kampnagel in einer kaum noch erkennbaren Harfen-Version erklingt, intoniert von Camille O, ehemals Hans Unstern. Und vielleicht bringt diese Frage das Konzert ganz gut auf den Punkt, als Resümee einer beeindruckend diversen Künstlerkarriere.
Wobei die Widersprüche natürlich bleiben. Die ständigen Stilwechsel sind ganz schön anstrengend, vom knalligen „Menschen haben keine Ahnung“ über das einschmeichelnde „Beautiful People“ bis zum sägenden „Börsen crashen“ (das auf Kampnagel vom Buttchor aus St. Pauli performt wird). Ein Song heißt „Es nervt“, und das stimmt ja auch: Die Verhältnisse sind zum Aus-der-Haut-fahren. Man muss das aber erstmal durchhalten, über mehrere Stunden, bei ohrenbetäubender Lautstärke.
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Aber wenn man es durchgehalten hat, dann ist man bereichert. Das Jubiläumskonzert der Goldenen Zitronen ist klug aufgebaut, wenn sich Rocksongs und Avantgardeklänge abwechseln, Pogo-Spaß und elektronische Introspektion, Unterhaltung und Anstrengung. Das ist dramaturgisch durchdacht, und das hat wohl auch damit zu tun, dass Sänger Schorsch Kamerun längst im Hauptberuf als Theaterregisseur erfolgreich ist und weniger als Musiker (wie im Grunde die gesamte Band eine Nähe zur Theater- und Kunstwelt hat). Diese Musiker wissen, wie man die Extreme miteinander verbindet, um am Ende einen Erkenntnisgewinn beim Publikum herauszukitzeln. Einen Erkenntnisgewinn, der ästhetisch ist, politisch, kratzbürstig. Widersprüchlich eben.
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