Hamburg. Das Ensemble bringt das Publikum in der Elbphilharmonie schier aus der Fassung. Mit Mozart, Hindemith, Mendelssohn – und einer Überraschung.

Der Sitznachbar sagt’s voraus: Als Zugabe erklingt Puccini. Irgendwie liegt es in der Luft, das Streichquartett-Sätzchen „Crisantemi“. Wer es an diesem Abend im Kleinen Saal der Elbphilharmonie vom Leonkoro Quartet hört, wird nie wieder auf den Gedanken kommen, den Schöpfer von „Tosca“ oder „Madame Butterfly“ der Effekthascherei zu zeihen, wie es in den angeblich gebildeten Kreisen lange Zeit zum guten Ton gehörte.

Schockierend gut: Das Leonkoro Quartet in der Elbphilharmonie

Denn die jungen Menschen da vorne, die Brüder Jonathan und Lukas Schwarz an erster Geige und Cello sowie die Geigerin Amelie Wallner und die Bratschistin Mayu Konoe, kleistern Puccinis Musik nicht gefühlig zu. Ihr Tonfall hat eher etwas von Zartbitterschokolade. Sie gehen ins Detail, spannen die düsteren Dissonanzen auf, stauen das Zeitmaß und verleihen den Melodien eine Art von Schmerz, die sich eher nicht auf „Herz“ reimt. Meisterlich gefasste Trauer ist das. Kleine Rutscher dürfen sein bei Puccini. Kurz, sie nehmen ihn genauso ernst wie die anderen Komponisten des Programms.

Als da wären: Mozart, Hindemith, Mendelssohn. Bereits mit den ersten Takten des F-Dur-Quartetts KV 590 überwältigen sie den Saal förmlich. Worüber soll man sich zuerst freuen, über den körperlich-erdigen Instrumentalklang? Über die Tiefe und Beweglichkeit im Zwiegespräch zwischen zweiter Geige und Bratsche? Über die Leichtigkeit noch der virtuosesten Läufe? Ein Luxusproblem. Nach dem Satz bricht Beifall los, dabei hatten die Künstlerinnen und Künstler schriftlich gebeten, damit bis zum Ende des Stücks zu warten. Ging halt nicht.

Leonkoro Quartet: Bei diesem Mozart könnte man die Fassung verlieren

Im Mozart-Andante ist immerzu das Wiegen des Dreiertakt zu spüren, auch wenn darüber die Melodie tastet, innehält, sich erst vorsichtig und dann mutiger ausbreitet. Irgendetwas ist magisch an diesem Puls, als läge in seiner milden Verlässlichkeit genau der Trost, den wir brauchen in diesen Wochen. Die Musik fließt umstandslos in die Nervenbahnen. Wenn die Leonkoros einander die Motive anreichen und das mit einer kaum merklichen Verzögerung auskosten, könnte man die Fassung verlieren, so tief ist man schon hineingezogen in das Existenzielle dieses kleinen Vorgangs.

Eine Rarität ist das Streichquartett op. 10 von Hindemith, geschrieben Ende des Ersten Weltkriegs. Von seiner späteren, gemäßigt modernen Tonsprache ist der junge Komponist noch weit weg. Aber spannend ist es, ihm mit den vieren in die Werkstatt schauen. Das Werk sprüht vor ungewöhnlichen Einfällen und rhythmischen Überraschungen. Kompakt und dramatisch geht es zu und durchaus romantisch – doch dann scheint das Quartett plötzlich ins Wasser gefallen zu sein: Alles klingt fast unhörbar fahl, entfernt. Ein Schock.

Die Huster im Kleinen Saal sind dem Dezemberwetter geschuldet - und der Ergriffenheit

Auch beim e-Moll-Quartett von Mendelssohn nach der Pause lassen die vier Höchstbegabten Textgenauigkeit walten, wagen miteinander Delikatesse und rasante Tempi. Nichts klebt, nichts kitscht oder bleibt an der Oberfläche. Hingabe trifft Spielfreude, spieltechnische Perfektion auf spürbare Demut vor dem Werk.

Längst haben sie das Publikum zu einer Gemeinde zusammengeschweißt, die dem Geschehen wie mit einem einzigen Ohr und einem einzigen Herzen folgt. Die Huster sind dem Dezemberwetter geschuldet und offenkundig auch der Ergriffenheit.

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Der Sitznachbar sagt: „Sie werden das nächste Quatuor Ébène.“ Er meint: Wie das weltweit gefeierte französische Ensemble werden auch diese vier unter den vielen hervorragenden Streichquartetten eine eigene Kategorie bilden.

Alles spricht dafür, dass er recht behält.

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