Hamburg. Comeback in der Elbphilharmonie: Sir John Eliot Gardiner dirigierte Charpentier und Bach. Nun wird das Programm wiederholt – aber nicht von ihm.

  • Sir John Eliot Gardiner kam mit seinen neu gegründeten Ensembles in die Hamburger Elbphilharmonie
  • Der 81 Jahre alte Dirigent hatte im August 2023 einen Sänger geschlagen und sich dann vom Konzertbetrieb zurückgezogen
  • Dieses Konzert steht in direkter programmatischer Konkurrenz zum Auftritt von Christophe Rousset

„Wir müssen durch viel Trübsal in das Reich Gottes einziehen“? Typisch für den mitunter gefürchtet scharfen Intellekt dieses Dirigenten, dass Sir John Eliot Gardiner in seiner kurzen Ansprache, als alles vorbei war, ausgerechnet diese Titelzeile einer Bach-Kantate zitierte, um zu kommentieren, was bisher geschah. Hin und wieder haben Konzerte harmlosere außermusikalische Vorgeschichten, dieses jedoch – die Konzert-Premiere mit zwei frisch zusammengestellten Ensembles unter dem Namen „Constellation“ – hat eine ganz besondere.

Der Schnelldurchlauf: 2023 einen Sänger geschlagen; Reue verkündet und Auszeit genommen; Trennung im Unguten von den bisherigen Ensembles; erstes Dirigier-Comeback nach etlichen Monaten; Neuaufstellung mit anderen Etiketten; blasse Vorab-Statements, bis ein Interview mit dem 81-Jährigen erschien: „Ich habe mein ganzes Leben versucht, Wut zu verstehen und in den Griff zu bekommen – und ich war total geschockt von dem, was ich getan hatte.“

Und nun, eine Woche, bevor seine Ex-Ensembles mit Gardiners Nachfolger und dem ursprünglich von ihm, für sich geplanten Programm in der Elbphilharmonie auftreten sollten und es auch ohne ihn tun werden, das Konkurrenz-Konzert, auf Einladung von Intendant Christoph Lieben-Seutter.

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„Ich akzeptierte sofort. Damit wollte ich keine Rivalität aufbauen“, so hatte Gardiner sich in der „SZ“ erklärt, „es kann interessant fürs Publikum sein, dasselbe Programm in zwei verschiedenen Interpretationen zu hören.“ Als Kurzgeschichten-Autor sollte man schon sehr gut sein, um mit einem derart verschlungenen Plot und diesem Figuren-Personal an seinem strengen Lektor vorbeizukommen. „Die Gelegenheit, nach 16 schwierigen Monaten unsere enge Verbindung zueinander wieder neu zu formen und unsere intensive Zusammenarbeit neu zu beleben, ist echt herzerwärmend“, sagte Gardiner live auch, bevor er, wir sind in der Adventszeit, seinen exzellenten Chor herzerwärmend sanft „Es ist ein Ros‘ entsprungen“ singen ließ.

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„Für Gardiner und seine neu gegründeten Ensembles ist es der erste Auftritt überhaupt“, war im Programmheft der ersten Runde dieses Duells mit Noten zu lesen, die mit Standing Ovations endete. Nun ja, fast. Ein sehr großer Teil der Besetzung ist nicht „neu“ - er besteht aus bewährten Mitgliedern der Ex-Ensembles, die Gardiner die Treue hielten, egal, was wann wie warum vorgefallen war. Abzuwarten bleibt, wie die Besetzungsliste aussieht, wenn Christophe Rousset in wenigen Tagen mit dem Monterverdi Choir and Orchestra die gleichen Stücke aufführt, nur: anders. Und wer damit, bei allem wohlwollenden Glauben an Gardiners Willen zur Besserung, wie sehr rehabilitiert ist.

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Rein musikalisch verlief dieser erste Spezial-Abend (mit 45 Minuten Verspätung, weil ein Sturm die Abflugpläne aus London durcheinander gewirbelt hatte) jedenfalls fast genau so, wie es vom Bach- und Überhaupt-Perfektionisten Gardiner zu erwarten gewesen war: minuziös durchgetaktet, mit einem enorm ausbalancierten Feingefühl für die Strukturen. Dass keine Zeit für eine ausführliche Einspielprobe im Saal gewesen war – Künstlerpech, aber kein KO-Risiko für solche Profis. Einerseits. Andererseits aber: Etwas mürbeteigig und überwältigungsreduziert klang es schon auch in dieser eher unsakralen Akustik, bei aller stilsicheren Hingabe dieses Orchesterchens an die vertonten Gottesgaben des Thomaskantors.

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Kleine, feinst geführte Stimmen sangen die Solo-Partien, die mühelos aus dem Chor heraus besetzt wurden. Überhaupt, dieser Chor! Um mit eigenen Ohren staunend zu hören, wie aus einer Viel- eine klanglich wunderbar ausgewogene Vierstimmigkeit werden kann, ist dieses Ensemble bei diesem Repertoire wohl uneinholbar geeignet. Kann man den Choral „Nun komm, der Heiden Heiland“ anmutiger und seliger singen, als es Marie Luise Werneburg und Eline Welle hier vollbrachten? Raumfüllender sicher, aber anrührender? Vielleicht nicht. Anders wunderbar war, wie Konzertmeisterin Kati Debretzeni in der Sopran-Arie „Auch mit gedämpften, schwachen Stimmen…“ dieser Vorgabe gehorchte und die Vokallinie hauchsanft umspielte.

Kalendergenau richtig hatte Gardiner zwei Bach-Kantaten ausgesucht, die zum Kirchenkalender passen: „Schwingt freudig euch empor“ (1. Advent), und „Unser Mund sei voll Lachens“ (1. Weihnachtstag). Zunächst allerdings hatte das Orchester kleinere Startschwierigkeiten. Die Solo-Oboe suchte anfangs ihren Ruhepuls, das Continuo blieb kontinuierlich leicht unter seinen dynamischen Notwendigkeiten. Dieser Knoten löste sich im Mittelteil, bei Charpentiers Heilige-Nacht-Jubel, der „Messe de minuit pour Noël“. Feierlicher, klangsatter, prächtiger, mit Pauke und (fantastischen) Trompeten, wenn auch in seiner Bauweise schlichter als die Kantaten Bachs, der ein halbes Jahrhundert nach Charpentier eine diffizilere kompositorische Handschrift hatte. Ein weiterer kleiner, großer Triumph also für diesen Dirigenten, der nun wieder da sein will. Zurück, im Rampenlicht. Fortsetzung folgt.

Dieses Programm wird am 14.12. von Christophe Rousset wiederholt. Elbphilharmonie, Gr. Saal. Evtl. Restkarten an der Abendkasse.

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