Hamburg. „Illusion“: Große Ausstellung über Traum, Identität und Wirklichkeit, erstmals hängt Graffiti neben Foto-Schnappschüssen und Alten Meistern.

Das Erste, was Besucherinnen und Besucher am Eingang des Hubertus-Wald-Forums sehen, ist schon die perfekte Täuschung: Auf einer wandfüllenden Fototapete in Schwarz-Weiß ist eine Straße abgebildet. In deren Mitte hat sich eine zweite Welt geschoben: Die Vorstellung, wie diese Straße künftig aussehen soll, zeigt ein Plakat vor einem Bauzaun. Mit Bäumen, Spaziergängern, Radfahrern und nur wenigen, ordentlich parkenden Kleinwagen.

Die Visualisierung einer anderen Realität. „Can you always believe your eyes?“, fragte schon der Künstler Sigmar Polke im Jahr 1976. Seine Provokation ist sozusagen die Ausgangsthese einer umfassenden Ausstellung in der Hamburger Kunsthalle, der Titel: „Illusion. Traum – Identität – Wirklichkeit“.

Was macht denn Lars Eidinger schon wieder in der Hamburger Kunsthalle?

Das Motiv auf der Fototapete stammt von Lars Eidinger. Im Hauptberuf Theaterschauspieler, macht er gerne Ausflüge in benachbarte Sparten (etwa als DJ nach der Vernissage im Café Liebermann). Schon zur Ausstellung „Klasse Gesellschaft“ in der Kunsthalle 2021/2022, die Alte Meister mit Zeitgenössischem kombinierte, hatte er Fotografien beigesteuert. Das Konzept der Gegenüberstellung haben die Kuratorinnen Sandra Pisot und Johanna Hornauer nun auch bei dieser in zehn Kapitel unterteilten Schau angewandt und wiederum einige Arbeiten Eidingers untergebracht.

Illusion Kunsthalle Hamburg
Spiel mit Maske: Lorenzo Lippi (1606–1665) ist mit dem Ölgemälde „Allegorie der Täuschung“ von 1640 in der Ausstellung „Illusion“ in der Hamburger Kunsthalle vertreten. © © Musées d'Angers, RMN-Grand Palais / Benoît Touchard | © Musées d'Angers, RMN-Grand Palais / Benoît Touchard

Darauf zu sehen sind scheinbar alltägliche Situationen, die aber immer einen Twist ins Absurde, Triste oder Komische haben: ein leeres Regencape auf einem Kinderfahrradsitz, eine Cowboy-Figur auf einem Fabrikdach, aus dem Rauch emporsteigt, in einen Glaskasten gesperrte Blumensträuße. Eidinger selbst bezeichnet seine Schnappschüsse, die er auf Reisen macht, als Objets trouvés und Fotografie als Brücke zwischen dem Bewussten und Unbewussten. Mit Sandra Pisot, die einen „unglaublichen Schatz an Bildern im Kopf“ habe, sei es eine gegenseitige Befruchtung gewesen und am Ende die Erkenntnis, dass Sinnestäuschungen à la Chagall, Magritte oder Mondrian uns auch in unserem Alltag immer wieder begegnen.

„Ich verfolge das Werk von Lars Eidinger seit Langem und finde seinen Blick auf das Thema sehr spannend“, sagt Sandra Pisot, Leiterin der Sammlung Alte Meister. Seit der Antike ist das Trompe-l’œil (illusionistische Malerei) weit verbreitet, erlebte vor allem in der Renaissance und im Barock eine Blütezeit und fasziniert offenbar Künstlerinnen und Künstler bis heute. „Die Ausstellung zeigt, dass Illusion jedoch weit mehr bedeutet als bloße Augentäuscherei. Sie offenbart sich in der (illusionistischen) Selbstliebe des Narziss genauso wie in architektonischen Raumillusionen, im Spiel des Verbergens und Enthüllens, in Spiegelungen, in der Bedeutung des Fensters zur Welt sowie in Darstellungen von Visionen und Träumen.“

Illusion Kunsthalle
Spiegelung als Stilmittel: Piet Mondrians „Boerderij bij Duivendrecht“ (um 1916) ist in der Hamburger Kunsthalle bis zum 6. April 2025 zu sehen. © © Kunstmuseum Den Haag – Nachlass Salomon B. Slijper | Alice de Groot/© Kunstmuseum Den Haag – Nachlass Salomon B. Slijper

Zum ersten Mal stellt das Museum neben namhaften Werken Streetart aus

Anhand von rund 150 Gemälden, Zeichnungen, Druckgrafiken, Fotografien, Skulpturen, Installationen und Videoarbeiten spürt „Illusion“ den vielfältigen Erscheinungsformen von Hyperrealismus, Realität, Fiktion, Traum, Verwandlung und Täuschung nach und zeigt, wie diese sich im Laufe der Jahrhunderte entwickelt haben – bis zu den aktuellen Themen Fake News und künstliche Intelligenz.

Letzteres hat sich der Künstler Andreas Greiner vorgeknöpft: In einem isolierten Raum können sich Besucher mit einer KI-generierten Stimme unterhalten. Andere Werke kommen mal spielerisch daher wie Anish Kapoors „Concave Convex“-Spiegel, der die Menschen auf den Kopf stellt, oder Cindy Shermans Verkleidungs-Fotoserie „Bus Riders“, mal leise wie Gerhard Richters „Umgeschlagenes Blatt“ oder Helene Appels Briefumschläge, die mit Acryl auf Baumwolle gemalt sind, mal plakativ wie die Serie „Hommage à l‘hexagone“ von Victor Vasarely oder „Escape“ des Hamburger Künstlers NEAL. Mit diesem Siebdruck stellt das Museum erstmals Streetart aus; das Motiv zierte während Corona die Fassade der Kunsthalle.

Premiere in der Hamburger Kunsthalle: Der Hamburger Graffiti-Künstler NEAL ist mit seinem Siebdruck „Escape“ in der Ausstellung „Illusion“ vertreten.
Premiere in der Hamburger Kunsthalle: Der Hamburger Graffiti-Künstler NEAL ist mit seinem Siebdruck „Escape“ in der Ausstellung „Illusion“ vertreten. © Neal courtesy Urbanshit Gallery Foto: Christoph Irrgang | Neal courtesy Urbanshit Gallery Foto: Christoph Irrgang

Mehr Ausstellungen

Ziel der Ausstellung sei es, sagt Sandra Pisot, dass das Publikum zum Nachdenken über die eigene Wahrnehmung, aber auch die eigene Verführbarkeit durch Bilder angeregt wird. Das ist den Kuratorinnen geglückt. „Illusion“ ist ein vergnüglicher Ritt durch die Epochen und überrascht mit immer neuen Perspektiven auf das Thema, sei es durch einen über Kopf hängenden riesengroßen Kunststoffgockel, einen goldenen Vorhang, zusammengebundenen Spargel oder eine Hand, die aus der Wand ragt. Was das alles zu bedeuten hat? Sehen Sie selbst!

„Illusion. Traum – Identität – Wirklichkeit“ 6.12.–6.4.2025, Hamburger Kunsthalle (U/S Hauptbahnhof), Glockengießerwall 5, Di–So 10.00–18.00, Do 10.00–21.00, Eintritt 16,-/8,- (erm.), www.hamburger-kunsthalle.de

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