Hamburg. Immens immersiv: Mit einem wilden Genremix zog der britische Arrangeur die ausverkaufte Inselpark Arena in seinen Bann.

Jacob Collier hat Spaß am Komplexen. Er erfreut sich am steigenden Schwierigkeitsgrad, nicht nur in musikalischer, sondern in jederlei Hinsicht, wie es scheint: „Ich heiße Jacob“, ruft der Bubi mit der verblüffend tiefen Stimme seiner Menge zu, „und Deutsch war mein Lieblingsfach in der Schule“.

Schön, dass der Pop-Jazz-Groove-Folk-Soul-Streber sein Sprachtalent am Sonnabend in Hamburg noch mal auspacken kann, übrigens schon zum wiederholten Mal. Seit seinem ersten Konzert in der Hansestadt, 2017 im Mojo Club, kam Jacob Collier immer wieder. Zuletzt 2023 in den Stadtpark und diesmal eben in die ausverkaufte Inselpark Arena, ein Abstecher auf der „Djesse Vol. 4“-Tour durch „UK and Europe“ (meinte er vielleicht „UK and EU“?).

Konzert in Hamburg: Jacob Collier, ein Wandler zwischen den Genres

Jacob „Schaut-wie-viele-Instrumente-ich-spielen-kann“ Collier springt in Wilhelmsburg zwischen Drumset und E-Gitarre umher, Tambourin schlagend oder mit Bass in der Hand. Er sitzt am Flügel und zwischen den Synthesizern oder nutzt „einfach“ seine raumgreifende Stimme (vier Oktaven Tonumfang, schreiben Fans mit Expertise im Netz) – entweder um einen seiner neuesten Hits („Little Blue“, „Mi Corazón“ oder „Witness Me“) zu performen oder anderen Künstlern mit Coverversionen Respekt zu zollen („Somebody To Love“ von Queen gab es da zu hören oder Joni Mitchells „A Case of You“).

Bei Collier, einem Wandler zwischen den Genres, folgt Folk auf Funk und Ballade auf Baller-Pop – jeweils in üppiger instrumentaler Besetzung, mit Background-Gesang in dreifacher Ausführung und einnehmenden Synthie-Sounds, bei knallbunter Guck-mich-an-Lichtshow sowie unter engagiertem stimmlichen, stampfenden, klatschenden Einsatz des Publikums.

Das ist exakt so überfrachtet, wie es sich allein Collier leisten kann: ein pedantisch genau arrangierter Klangrausch, eine glattgebügelte Wohlfühlekstase, eigentlich ein Zuviel an Zuviel, wenn es denn nicht so schrecklich bekömmlich wäre.

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„Audience Choir“: Jacob Collier versetzt Hamburger Publikum in Trance

Und dann, im letzten Drittel der Show, macht der Brite, der einst mit Musikvideos aus seinem Kinderzimmer via YouTube berühmt geworden ist, worauf hier alle gewartet haben. Er nimmt sein Lieblingsinstrument zur Hand, das Publikum selbst.

Erst behutsam, dann immer fordernder dirigiert, ach was, domptiert Collier die Menge. „Audience Choir“, Publikumschor, nennt der Musiker das gospelhafte Ergebnis seiner ominösen Spezialfähigkeit, Abend für Abend Tausende mit einer bloßen Handbewegung in minutenlange Trance zu versetzen. Immens immersiv ist das.

Konzert Hamburg: die Multiinstrumentalisten-Messe des Jacob Collier

Was mögen die Mitarbeiter an der Getränkeausgabe der Arena denken, fragt sich, wer noch nicht vollständig dissoziiert ist. Wähnt sich die Dame an der Popcorn-Maschine als unfreiwillige Beobachterin einer Multiinstrumentalisten-Messe, eines Klang-Kults? Und wo verläuft eigentlich die Grenze zwischen Musik und Magie?

Collier jedenfalls gäbe vermutlich einen passablen Kultführer ab. Sein wie gewohnt kunterbuntes Dress – giftgrünes übergroßes Leinenhemd, rosa Batik-Haremshose, fehlendes Schuhwerk – stützt die Ahnung nur. Ja, es ist gewissermaßen beruhigend, dass der 30-Jährige sich entschieden hat, sein Faible für Menschenfängerei nur im Dienste der Virtuosität zu nutzen.

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