Hamburg. „Nackt is geil“, fanden 6000 Fans beim sogenannten Konzert der Mallorca-Bierzeltkönigin. Ganz klar: Es geht noch tiefer als „Layla“.

  • Vor 25 Jahren entstand dank Jürgen Drews und Mickie Krause der moderne Mallorca-Schlager.
  • Sängerin und Erotik-Darstellerin Mia Julia ist mit Abstand die populärste Frau in diesem Genre.
  • In der Sporthalle gab Mia Julia ihr erstes großes Konzert in Hamburg.

Wie hoch kann ein Mann Liter-Pfandbecher stapeln und zum Tresen schleppen? Ein knapper Meter ist schaffbar, wie sich am Freitag beim Konzert von Mallorca-Schlagerstar Mia Julia in der angeblich ausverkauften Sporthalle zeigt. Die in München geborene „Deutsche Partykönigin“ aus Palma ist gerade für ihr erstes großes Hamburger Konzert im Norden, und vor Showbeginn wird noch schnell nachgetankt. Die Treppen hinab zum Innenraum sind glitschig, fast rutscht der Becher-Jongleur aus. Warum liegt hier kein Stroh?

Na, ja. Konzert kann man das kaum nennen. „Bring mich nach Hause“ singen Mia Julia und eine Begleitsängerin auf der wackeligen Tonleiter zum Playback und marschieren eine lange Rampe ab. Nicht mal ein DJ ist auszumachen. Aber die Stimmung in der Halle, ungefähr 6000 sind da (ein Drittel Frauen), ist sofort bombastisch. Schon vor Showbeginn und beim Introfilm schwappen „Mia Julia olé“-Gesänge durch die Reihen. Darauf kommt es an. „Hamburg, du geile Sau, was geeeht?“ Es ist eine perfekte Zustandsbeschreibung 2024 eines ganz bestimmten Geschäftsfeldes der Popmusik. 

Mia Julia in der Sporthalle in Hamburg: Electro-Beats und simpelste, aber eingängige Texte

Seit 25 Jahren gibt es in Deutschland eine Kunstform, die nicht wenige spätestens seit dem „Layla“-Shitstorm 2022 in der untersten Schublade der Pop-Unterhaltung einordnen: 1999 erschufen Jürgen Drews mit „Der König von Mallorca“ und Mickie Krause mit „10 nackte Friseusen“ die Blaupause des modernen Party-Schlagers. Ob am Ballermann, beim Après-Ski in den Alpen, auf Volksfesten oder auf dem Schlagermove: Dort sinken die Füllstände in den Fässern, während die Lautstärke-Pegel steigen mit Eurodance- und Electro-Beats, Synthie-Gepiepse und simpelsten Texten rund um das breite Themengebiet Trinken und Essen: „Was beginnt mit T und endet mit itten?“ - Tiefkühlfritten.

Mittlerweile hat sich eine ganze Kulturindustrie mit eigener Preisverleihung („Ballermann Award“) entwickelt. In jeder Urlaubssaison liefern Produzenten wie Mike Röttgens, Hartmut Wessling, Dominik de Leon und Ikke Hüftgold alias Matthias Distel neuen Stoff für ihre Interpreten, die das Zeug auf Mallorca im „Mega-Park“ und im „Bierkönig“ als Halb-Playback in die nach Partyspaß dürstende Meute verklappen: „Im Suff ist es geiler“ von Kings of Günter, „Die Nacht von Freitag auf Montag“ von Peter Wackel, „Meer aus Bier“ von Balu, „Tiefkühlfritten“ von Timo Turbine. Der Soundtrack für eine Woche „Saufi Saufi” (Tobee) in El Arenal.

„Mitten in Mia“, „Geile Zeit“: Sind das nun Album- oder Pornofilm-Titel?

Lange Zeit war der Malle-Schlager eine Männerdomäne, aber in die sind in den vergangenen zehn Jahren neben Mia Julia Brückner auch Isi Glück („Ballerina“), Ina Colada („Komplett am Arsch“) und Carina Crone („Geile Bälle“) eingebrochen. Dass Mia Julia in dieser Damenkonkurrenz die größte Popularität genießt, liegt wohl auch daran, dass auch ihre Schauspielkarriere in ihrer „gottlos eskalierenden“ Zielgruppe besondere Wertschätzung erfährt. 

Von 2010 bis 2012 und seit 2020 dreht Mia Julia nicht nur Musikvideos, sondern auch Filme, zu denen hauptsächlich Männer beim Anschauen hastig Taschentücher aus Pappschachteln rupfen. Für den Laien ist die Unterscheidung von Musikalben und Filmtiteln so leider etwas unübersichtlich: „Mitten in Mia“, „Sexy Surferinnen“, „Frech, laut, sexy!“, „Mia’s Traumurlaub auf Mallorca“ (nur echt mit Apostroph), „Geile Zeit“, „Schlechte Manieren“, „Mia’s Traumf**k“ (auch nur echt mit Apostroph). Eine Auflösung: „Schlechte Manieren“ landete 2023 auf dem dritten Platz der deutschen Albumcharts.

„Schlechte Manieren“, heißt Mia Julias Tournnee. Bei den Shows darf sich ein Fan auf der Bühne auf ein Bett legen und mit dem Mallorca-Schlagerstar in den angezogenen Nahkampf gehen.
„Schlechte Manieren“, heißt Mia Julias Tournnee. Bei den Shows darf sich ein Fan auf der Bühne auf ein Bett legen und mit dem Mallorca-Schlagerstar in den angezogenen Nahkampf gehen. © FUNKE Foto Services | Gerd Wallhorn

Mia Julia: Nach einer Stunde geht der Sporthallen-Crew der Wodka aus

Während Mia Julia in der Sporthalle „Endlich wieder Malle“, „Malle bereit“, „Blockflötenunterricht“ und „Ruf den Doc (Inselfieber)“ singt, fragt man sich, ob jetzt nicht durch die Hintertür eine gesellschaftskritische, progressiv-feministische Einordnung des ganzen angebracht wäre. Eine Auseinandersetzung mit der mühsamen Enttabuisierung von Themen wie Sexarbeit und mentale Gesundheit (Mia Julia machte Depressionen und Tourette öffentlich). Mit Kapitalismus und Kommerz. Und vor allem mit der feierlichen Verharmlosung der Volksdroge Alkohol. „An alle: Wodka ist alle“, brüllt der Sporthallen-Barchef nach einer Stunde. Aber hier, im kollektiven Mon-Chéri-Atem aus 6000 singenden Kehlen, die „Wir heben ab“ jubeln, gehen analytische Fähigkeiten ehrlich gesagt den Bach runter. 

Denn ein „Schlechte Manieren XXL Arena Konzert“ wurde angekündigt, und das wird auch geliefert, inklusive der von Mia Julia versprochenen „prickelnden Gefühle“ zwischendurch. Ein Himmelbett wird auf die Bühne geschoben. Jemand wirft Kondome auf Mia Julia, später auch einen BH. Ein Fan, Andi, darf im Bett liegen und wird von ihr beim Lied „Ich f***e gern“ eingeritten. Später setzt sich Mia Julia auf einen Dildo oder tanzt komplett textilfrei bei „Nackt is geil“.

Mia Julia in der Sporthalle: So sexy wie ein Fliesentisch

Das vermittelt ungefähr die Erotik einer Blattdekor-Glasschale voller Erdnussflips – für die Atemfrische – auf dem Fliesentisch im Swingerclub. Aber die Fans filmen fleißig mit für später und freuen sich auf den beworbenen „Kalender 2025 mit zwei sexy Sonderseiten“. Ob das jetzt der absolute Tiefpunkt oder Höhepunkt der Hamburger Konzert-Saison 2024 ist, fliegt ins Auge des Betrachters.

Für diesen Betrachter ist es, wie im Introfilm von einer Kollegin auf den Punkt gebracht, „Schrottmusik“ mit dem Tiefgang eines Literbechers und eine Show, die über Dorfdisko-Animation nicht hinaus kommt. Es wäre höchstens interessant zu vergleichen, ob Mia Julias Partys im „Bierkönig“ oder die Show in der Sporthalle mehr aus dem Saal herausholen.

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Eigentlich müsste an einem Novembertag in Winterhude und durch viel zu lange Ansagen („Ich rede zu viel, aber ich bin eben kein Programm“) und Einspielfilme weniger turbulente Sommerstimmung aufkommen als auf den Balearen. Und tatsächlich ist beim Finale spürbar die Luft raus. Aber eins ist klar nach 130 Minuten und dem T-Shirt-Propeller-Hit „Wir sind die Geilsten“: Hier sind alle urlaubsreif, Publikum wie Autor. Wenn auch aus verschiedenen Gründen. Zum Glück ist Malle nur einmal im Jahr. In Hamburg am 6. Dezember 2025 mit Mia Julia in der Sporthalle.

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