Hamburg. Der Comedian aus Bergedorf präsentiert vor 10.000 Menschen sein fünftes Soloprogramm. Und feuert dabei gegen die „böse“ Cancel Culture.
10.000 Menschen in der ausverkauften Barclays Arena, ein Heimspiel für Chris Tall, den erfolgreichen Comedian aus Bergedorf. Der Hamburger ist bekannt für provokante, gerne auch politisch inkorrekte Sprüche und seine diversen TV-Sendungen („Darf er das?“), im nächsten Jahr möchte er das Volksparkstadion füllen. Bei seinem Publikum kommt dieses Spiel mit dem Sagbaren auch am Sonnabend gut an. „Ich darf alles“, steht auf dem Fanartikel-Shirt, das von einigen Zuschauern stolz zur Schau getragen wird.
Chris Talls fünftes Soloprogramm, „Laugh Stories“, handelt von dem Junggesellenabschied und der Hochzeit seines Adoptivbruders (die beste Beleidigung unter Geschwistern: „Du bist adoptiert“). Vorweg geschickt wird eine Ansage, die aus diversen Medienberichten bekannt ist: Er will Witze mit allen machen. Also auch: über alle? „Das hier ist eine Comedy-Show, also zieht den Arsch aus dem Stock [sic!]“. Immer wieder betont Chris Tall, dass er „ohne Filter“ witzelt und erntet dafür Applaus: „Cancelt mich doch, ist mir egal.“
Chris Tall in Hamburg: Derber Humor und ein Spiel mit der „Cancel Culture“
In der ersten Hälfte des Abends wird von der vorhochzeitlichen Fahrt nach Ibiza samt Bräutigam und Teenage-Kumpels berichtet: Tall erklärt, wie er am Hamburger Flughafen ein überdimensional großes, vibrierendes Sexspielzeug im Koffer seines Bruders platzierte (Das Flughafen-Personal: „Den dürfen Sie nicht einführen“). Der Humor ist derb, nicht frei von sexuellen Anspielungen, Beleidigungen oder Fäkalsprache. Aber Chris Tall, das merkt man, beherrscht sein Handwerk: Die Pointen werden sauber herausgearbeitet, er lässt sich Zeit, spielt viel mit dem Publikum.
Auf die Frage, wo heute die dicken Zuschauerinnen und Zuschauer seien, hebt eine Frau den Arm ihres (eigentlich normalgewichtigen) Begleiters – aua. „Dicke sind die besten Publikumse“, sagt Tall und macht in dieser Hinsicht auch gern Witze über sich selbst. Die zünden gut, Selbstironie ist ja bekanntlich sympathisch. Unangenehm wird es dann, wenn es vom narrativen Programm weg, hin zu Exkurs-artigen Ausschweifungen ohne einheitliches Thema geht. Er wettert 20 Minuten gegen Harry Potter: „Was ist eigentlich Hufflepuff? Mein Kumpel war letztens im Puff – danach war er einen Fuffi los. Hat sich Hermine gegönnt.“ Würg.
„Cancelt mich doch“: Witze gegen die Grünen, Häme gegen das Gendern
Grünen-Bashing ist in Mode, da muss man sich nur die Kommentare einschlägiger Internet-Trolle anschauen. So macht Tall sich über das Übergewicht von Ricarda Lang lustig – irgendwelche „Links-Grün-versifften“ Gäste im Publikum würden sich daran schon echauffieren. „Du Otto – ah, man muss ja jetzt gendern – Du Anna!“: Mario Barth lässt grüßen. Gähn. Der gute Geschmack darf in Comedy-Programmen bekanntlich gerne mal über- beziehungsweise unterschritten werden.
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Soll man ihn nun also canceln? Am Ende des dreistündigen Abends ist klar: Chris Tall kann man gar nicht canceln. Denn er ist gar nicht so „frech“, wie er sich gibt.
Klar, der Humor ist derb, stellenweise sexistisch und manchmal auch tiefschwarz (Nekrophilie-Witze verstünden, sagt Tall, eher die Leute aus Ohlsdorf), sein Hauptprogramm letztlich aber eher zahm oder forciert politisch inkorrekt. Auch, dass zum Ende des Abends „Layla“ aus den Boxen dröhnt, ist eher eine Pseudo-Grenzüberschreitung als wirklich kontrovers. Es zeigt vielmehr das Selbstverständnis eines Künstlers, der frühere mediale Shitstorms – 2018 erntete er Kritik für den Ausspruch der „Chris-Tall-Nacht“, eine Anspielung auf die Novemberpogrome von 1938 – zwar nicht wörtlich in sein Programm integriert hat, aber davon noch immer geprägt scheint. Stichwort Cancel Culture. Darf er das? Natürlich, ist nur ziemlich langweilig.
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