Hamburg. Zwischen Gruseln und Schunkeln: Die Inszenierung von Webers Oper nimmt die Gesellschaft aufs Korn und schaut den Figuren in die Seele.
- Andreas Kriegenburg inszeniert im „Freischütz“ an der Staatsoper Hamburg ein Volksfest von der unbehaglichen Sorte.
- Der Teufel trägt Businessanzug.
- Das Konzept des Dirigenten Yoel Gamzou ist interessant, hakt aber gelegentlich in der Umsetzung.
Kein Baum, nirgends. Gehört der Wald zum „Freischütz“ nicht wie die Feder zum Jägerhut? Die Lesart, die am Sonntag Premiere an der Staatsoper hatte, hebt das symbolschwere Setting von Webers Oper mal eben eine Abstraktionsstufe höher: Haushohe Bretterstapel umschließen das Bühnenbild. Wald verarbeitet, sozusagen. Das gibt eine leicht klaustrophobische Note, klingt aber gut.
Die Stilisierung ist Programm. Von seiner gleichsam erhöhten Perspektive aus wirft der Regisseur Andreas Kriegenburg einen zwar nicht revolutionär neuen, aber frischen Blick auf das Stück. Die ersten Lacher im Publikum branden gleich nach der Ouvertüre auf. Da gackert und kreischt der Staatsopernchor aus dem Off so schrill, als hätte jemand einen Papageienkäfig geöffnet. Doch nein, es ist nur das Volk beim Schützenfest. Mit den Kunstlauten fängt Kriegenburg das Überdrehte an dieser Schunkelgeselligkeit ein, macht das Unbehagliche an der Konformität hörbar.
Staatsoper Hamburg: Ein „Freischütz“ zwischen Gruseln und Schunkeln
Das Unbehagliche – und das Grausame. Der glücklose Schütze Max darf seine Agathe nur heiraten, wenn er beim Probeschießen trifft. Was das eine mit dem anderen zu tun hat? Ist halt Tradition. Aber es hängt ein Schicksal daran, ach was, zwei. Das macht Kriegenburgs genaue Personenregie schmerzlich fühlbar. Max wird als Versager ausgegrenzt und verspottet, der Chor äfft in Staccato-Schlägen, und wenn die Bauern den Hilflosen mit ausgebreiteten Armen auf einen Tisch binden, weckt das im Kopf Assoziationen an die sexualisierte Gewalt, die in der Wirklichkeit des Jahres 2024 so präsent ist. Kriegenburg ist aber klug genug, die Geschichte nicht in die Aktualität zu zwingen, sondern dem Kopfkino des Publikums genügend Raum zu lassen.
Während der Ouvertüre, die die wesentlichen Motive der Oper bereits vorwegnimmt, fallen inmitten der vollständigen Schwärze Spotlights auf einzelne Figuren – ein erster Eindruck der virtuosen Lichtregie von Andreas Grüter. Zu dem einleitenden dunklen Unisono der Streicher fällt das Licht auf ein Paar, sie weint, er tröstet sie. Beim Choral der Hörner erscheint ein weißbärtiger Ordensmann mit Kruzifix. Und wenn sich die Streicher ins Moll wenden, krümmt sich der junge Mann, der eben noch seine Liebste hielt, in höchster Not.
Staatsoper Hamburg: Interessantes musikalisches Konzept mit kleinen Unfällen
Der Dirigent Yoel Gamzou am Pult des Philharmonischen Staatsorchesters hat sich zu den persönlichen Dramen, die sich da abspielen, einiges einfallen lassen. Man hört es am Klangspektrum der Streicher mit ihren mal fahlen und mal blühenden Farben. Man hört es an der dynamischen Bandbreite, stets eingesetzt im Sinne des emotionalen Gehalts. Beeindruckend differenziert gelingt Chor und Hörnern der berühmte Jägerchor. Man hört Gamzous Konzept auch an den Beschleunigungen und Stauungen, nur wird es da riskant. Meist wirken sie schlüssig, manchmal verpufft der Effekt aber auch – und viel zu oft sind Bühne und Graben auseinander. Gamzou wird die meisten Buhs des ansonsten ausführlich gefeierten Abends kassieren.
Dass es trotz dieser Abzüge ein gelungener Theaterabend wird, ist der Spielfreude und dem stimmlichen Niveau der Beteiligten zu verdanken. Von Anfang an ist der Chor präzise und lebhaft dabei. Maximilian Schmitt verkörpert den depressiven Max mit warmer Tenorstimme, der notwendigen Kondition und gelegentlich etwas zu weitem Vibrato. Alina Wunderlin kostet die dankbare Rolle des Ännchen voll aus, heitert die verängstigte Agathe auf, beweglich wie ein Gummiball und wohlklingend bis in die Spitzentöne.
„Freischütz“: Wolfsschlucht-Szene wird zur dramatischen Lichtshow samt Tanzeinlage
Die Sopranistin Julia Kleiter lotet die Partie der zu qualvoller Passivität verurteilten Agathe nuanciert und mit weitgespannten melodischen Phrasen aus. Und der Bass-Bariton Johan Reuter liefert in Gestalt des vom Teufel gedungenen Caspar einen Extra-Stunt: Die Freikugeln gießt er auf einer Scheibe, die von acht Assistenten Samiels auf den Schultern gestemmt wird. Wie gut, dass er in dieser wackeligen Lage nur sprechen und nicht auch noch singen muss. Die Bretterwand öffnet sich derweil einen Spaltbreit in Richtung einer immer dramatischeren Lichtshow, Tanzeinlage von Agathe inbegriffen. Mehr Wolfsschlucht braucht es nicht.
Um sie alle herum wippt, charmiert und lockt Clemens Sienknecht als Samiel im smarten Businessanzug. Text? Braucht er kaum. Wortlos führt er im Hintergrund einen seiner Vertragspartner ab, dessen Seele fällig ist, als Ausblick auf das, was Max und seinem Einflüsterer Caspar blüht.
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Am Schluss, als alles verloren ist, erscheint der Eremit und löst das Elend in Wohlgefallen auf. Gegen die Statik der Weber‘schen Jubelgesänge zum forcierten glücklichen Ende kommt Kriegenburg nicht wirklich an. Aber etwas Subversion darf schon sein. Zum heiligen Mann gesellt sich, fein lächelnd, Samiel. Das Spiel ist noch längst nicht aus.
Weitere Vorstellungen: bis 5.12., jeweils 19.30, Staatsoper; Tickets unter T. 35 68 68 oder www.staatsoper-hamburg.de
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