Hamburg. Am St. Pauli Theater fügen Peter Jordan und Leonhard Koppelmann munter Genres zur grellen Revue, manchmal rumpelt es. Ein räudiger Abend!

Große Haie, kleine Fische. Viel Schatten, viel Licht. So geht die Geschichte auf St. Pauli, schon immer ging sie so. Ein Kitt aus Nostalgie, der imstande ist, allerhand auszuhalten und noch mehr zusammenzuführen. Zum Beispiel: große Oper, kleine Bühne. Man muss sich nur trauen.

So wie die Regisseure Peter Jordan, früher Schauspieler am Thalia Theater, und Leonhard Koppelmann, die am St. Pauli Theater nun mit wilder Lust an Halbwelt-Grandezza, Budenzauber und Spott Georges Bizets berühmte „Carmen“ und einen gleichnamigen Stummfilm aus den später 1920er-Jahren zu einer grellen, selbstironischen Vaudeville-Revue fügen: „Die Carmen von St. Pauli“.

St. Pauli Theater: Die Carmen von St. Pauli
Keine Scheu vor Übertreibung: Götz Otto ist als Reeder Rasmussen eine Art Kiez-Trump und ein durchgeknallter Bösewicht. © Kerstin Schomburg | Kerstin Schomburg

Da findet auf der Bühne, ganz wie draußen auf der Straße, so manches für einen ausgelassenen Abend zusammen: bisschen „Dreigroschenoper“ (die dasselbe Regie-Duo hier auch schon begeisternd auf die Bühne brachte), bisschen „Cabaret“ und KitKat Club, ein Mashup aus Genres, Live-Musik und Wimpernklimpern. Bei dem es auch mal gefährlich rumpelt, aber das geht in Ordnung. Hochglanz kann man sich anderswo abholen, hier ist der Glamour hausgemacht.

„Die Carmen von St. Pauli“ im St. Pauli Theater: Hier ist der Glamour hausgemacht

Am Theater kommt es, wie mitunter im Leben, eben ganz auf die Behauptung an. Und die beherrscht die „Carmen von St. Pauli“: Eigentlich heißt sie Jenny Hummel und kommt aus Bramfeld, aber als Kiez-Diva Carmen verdreht sie den Männern den Kopf: „Die ganze Existenz ein süßer Schwindel.“ Nicht der Marktplatz von Sevilla ist ihr Revier, auch wenn die Live-Combo sich (für die Jazz-Besetzung neu arrangiert von Matthias Stötzel und Uwe Granitza) so großzügig wie lässig bei Bizet bedient, sondern Hamburgs Hafengassen. Ihre Arena ist die Gosse, die Hafenratten – „Mädchen, Männer und dazwischen“, die für schmissige Tanztableaus sorgen – sind ihre Schmuggler-Gang.

St. Pauli Theater: Die Carmen von St. Pauli
Können singen, tanzen und schmuggeln: die Hafenratten in „Die Carmen von St. Pauli“ (v. l. n. r.: Fabian Broermann, Anna Winter, Arvid Johansson, Holger Dexne, Glenn Goltz). © Kerstin Schomburg | Kerstin Schomburg

Anneke Schwabe, die am St. Pauli Theater und am Hansa-Theater schon als Polly und als Sally Bowles funkelte, zeigt auch als schnippische Carmen eine rasante Figur voller Lebenshunger. Sie säuselt und gurrt und wickelt um den Finger, es rettet ihr die Existenz, die anderen reißt es in den Abgrund. Allen voran den rechtschaffenen Hafenarbeiter Klaus Brandt (Holger Dexne), der ihr schon in der ersten Szene verfällt, und dessen kreuzbrave Verlobte Marie. Die allerdings enthüllt im Verlauf noch sehr viel deutlichere Talente.

St. Pauli Theater: Victoria Fleer ist als Heilsarmee-Marie der heimliche Star der Show

Tatsächlich ist Victoria Fleer als Heilsarmee-Marie der heimliche Star der Show. Sie hat eine fantastische Stimme, dazu derben Witz, Strahlkraft und ordentlich Pfeffer. An Selbstironie mangelt es ihr nicht, wobei Götz Otto in dieser Disziplin unerreicht ist: Als maliziöser Hanseaten-Trump Fritz Rasmussen spielt der einstige James-Bond-Gegenspieler auch hier den Bösewicht und parodiert ihn zugleich; nicht immer sitzt jeder Ton, das wird mit großer Geste wettgemacht.

Zur zweiten Hälfte steigert sich Götz Otto in eine raumgreifende Abgedrehtheit, bis er seinen Reeder Rasmussen als Sadist im Superheldenkostüm auf eine staunenswerte Stufe der Exzentrik hebt. Die gewohnt stimmstarke Nadja Petri als Rasmussens gebeutelte Frau Elsa ergänzt die insgesamt markanten „gefallenen Mädchen“, Stephan Schad gefällt in der Übertreibung als dickbäuchiger Schankwirt Pastia.

An einem kleinen, plüschigen Kiez-Theater feiert eine räudige Revue Premiere

Erich Waschnecks Schwarz-Weiß-Stummfilm „Die Carmen von St. Pauli“ flimmert derweil ohne Pause über den Hintergrund (Video: Enrico Rode, Martin Maleßa) und sorgt für Lokalkolorit und eine originelle Doppelung der Geschehnisse. Unter dem scheppernden Klamauk und der Vintage-Ästhetik lauert scharfkantig die Düsternis der aufziehenden Nazi-Macht.

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So entsteht aus dem Gesamtbild am Ende auch eine hübsche Spiegelung: An einem kleinen, plüschigen Kiez-Theater feiert eine räudige Revue Premiere, zu der sich die piekfeine hanseatische Gesellschaft ins Rotlichtviertel aufmacht, um auf der Bühne dasselbe Rotlichtviertel zu bestaunen, in dem zwischen billigen Absteigen, Touristensaufnepp und unermüdlichem Kulissengeglitzer beste Unterhaltungskunst entsteht. Romantisierung? Na, unbedingt. Und dabei doch die Wahrheit.

„Die Carmen von St. Pauli“, St. Pauli Theater, bis 1.12., jew. 20 Uhr, und wieder 8. bis 19. Januar 2025, jew. 19.30 Uhr, sonntags um 18 Uhr. Karten in der Geschäftsstelle des Hamburger Abendblatts, Großer Burstah 18–32, und unter www.st-pauli-theater.de. Alle Abendblatt-Abonnentinnen und Abonnenten erhalten 25 Prozent Rabatt für die Vorstellungen vom 19. bis 22. November 2024 unter T. 040/47 11 06 66 mit dem Stichwort „Hamburger Abendblatt – Carmen“ oder online mit dem Aktionscode „ CarmenHA“, mehr dazu hier.

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