Hamburg. Die Bestsellerautorin und Regisseur Antú Romero Nunes verpflanzen ihren „Apfelgarten“ nach Norddeutschland. Warum sich der Abend lohnt.
- Bestsellerautorin Dörte Hansen und Thalia-Regisseur Antú Romero Nunes haben den „Kirschgarten“ umgedichtet
- „Der Apfelgarten“ läuft an verschiedenen Tagen im Oktober, November und Dezember
- Die Figuren sind Verwalter ihrer Lebenslügen, jeder auf seine Art
Die Idylle, wenn es sie je gab, hat schon zu Beginn keine Chance mehr. Der guten Stube nutzt das strahlende Hoffnungsblau nicht, in dem die getäfelten Wände, die schöne Anrichte und der heimelige Kachelofen getüncht sind (Bühne: Matthias Koch). Der Fernzug, mit dem ein Teil der Familie aus Berlin aufs Land zurückkehrt, rattert so lautstark am Hof vorbei, dass die Gläser unheilvoll klirren und die alte Beke sich an ihrer Bank festhalten muss.
Bei Tschechow war es ein Kirschgarten, der vor den Fenstern eines herabgewirtschafteten russischen Landguts symbolhaft verblühte. Für das Thalia Theater hat nun der Regisseur Antú Romero Nunes gemeinsam mit der Bestsellerautorin Dörte Hansen eine explizit norddeutsche Version erfunden: „Der Apfelgarten“ umgibt hier den hoch verschuldeten Hof, der seit Generationen in Familienbesitz ist, aber kurz vor der Versteigerung steht. Eine, wie es im Untertitel heißt, „kattendüstere Komödie“, die verblüffend nah am Original bleibt, aber trotzdem vom typischen Hansen-Sound profitiert.
„Der Apfelgarten“: Kattendüster! Dörte Hansen schreibt Tschechow für das Thalia um
Schon in ihrem Debüt „Altes Land“ bewegte Dörte Hansen sich im Spannungsfeld zwischen „Provinz“ und Großstadt, mit Tschechow teilt sie das literarische Einfangen von bröckelnder Heimat, Sehnsüchten und Strukturwandel (ihr Roman „Mittagsstunde“ erfuhr am Thalia Theater zuletzt eine tolle Bühnenumsetzung). Mit zugleich liebevoller wie entlarvender und oft genau deshalb hochkomischer Präzision beschrieb sie immer wieder die Dynamiken zwischen Einheimischen, Rückkehrern und Zugezogenen. Und stellt die Frage danach, wer eigentlich welches Leben verdient.
Nach Jahren im Hauptstadtrummel kehrt hier nun Hofbesitzerin Astrid (Maja Schöne) unfreiwillig an den Ort ihrer Kindheit zurück, wo sie im schwarzen Vernissagen-Outfit wie ein Fremdkörper wirkt. Sie tritt mit der Anmaßung einer Erbin auf, obschon ihr längst das Geld ausgegangen ist, in hysterischer Nostalgie behauptet sie ihr Herkunftsrecht. Die alte Mutter („Schön, dass du noch lebst“) scheint sie weniger vermisst zu haben als manch ein Möbelstück. Der zu Geld gekommene Hilfsarbeitersohn Torben (Thomas Niehaus), der sich zwischen Unterwürfigkeit und Angeberei verheddert und den Vorschlag macht, auf dem Grundstück in lukrative Tiny Houses zu investieren, bleibt von ihr standesgemäß belächelt. Bruder Gunnar (André Szymanski), ebenso pleite und realitätsverweigernd, schwingt nutzlos zusammengeklaubte Reden („I have a dream, wir schaffen das!“), und auch Tochter Anja (Lisa Hagmeister) lebt längst in Berlin.
Dörte Hansen und Tschechow: „Du kannst keinen Schritt tun, ohne über Wurzeln zu stolpern“
Auf der heimischen Scholle verblieben ist neben der ollen Beke, die Gabriela Maria Schmeide sehr berührend in die Demenz abgleiten lässt, auch deren Stieftochter Wiebke. Wie eine Flechte ist sie mit dem Haus verbunden: „Nich‘ wachsen, nich‘ blühen, nur bleiben.“ Bei Cathérine Seifert kommt diese Figur so handfest und bodenständig daher, dass sie die Einzige ist, die in den viel zu großen Räumen und angesichts der Herausforderungen nicht überfordert wirkt. Einerseits.
Denn Seifert spielt auch die Zartheit, die Verletzlichkeit hinter dem zupackenden Äußeren. Besonders deutlich wird das, wenn sie auf Gunnar trifft: Ein so gelungen misslungenes Zueinanderfinden aus verkorksten Umarmungen ist das, aus linkischer Verlorenheit und Vergeblichkeit, dass es beispielhaft ist für den Tonfall und auch für die schauspielerische Genauigkeit des gesamten Abends. Die kattendüstere Komödie ist tieftraurig und sehr, sehr lustig.
Und es sind schöne Details zu beobachten wie eine aus der Situation heraus entstehende Kaffeesinfonie aus Schlürfen, Rühren und Schlucken oder die sorgfältig zusammengestellten Kostüme von Lena Schön und Helen Stein, die schon mit der Schuhauswahl (rosa Plüschpuschen, Crocs, Loafer für den Aufsteiger) manches über die Figuren erzählen.
„Der Apfelgarten“ am Thalia Theater: Alle sind sie Verwalter ihrer Lebenslügen, jeder auf seine Art
„Du kannst keinen Schritt tun, ohne über Wurzeln zu stolpern“, beschreibt es Klangschalen-Dennis (Nils Kahnwald) treffend. Als Student hatte er einst auf Astrids ertrunkenen Sohn aufgepasst, als Faktotum mit fragwürdiger Frisur haust er noch immer sinnsuchend auf dem Gelände. Alle sind sie Verwalter ihrer Lebenslügen, jeder auf seine Art. Selbst der polterige Nachbar, bei Björn Meyer ein Ausbund an zugezogener Landlust und Unbekümmertheit („Auf Fliedersehen!“), der mit dem Buffetschrank kopuliert, Apfelgelee auch an Leute mit eigenen Apfelplantagen verschenkt und keine Slapstick-Gelegenheit auslässt.
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Denn das lässt Regisseur Nunes zu: die Übertreibung, die überschwängliche Narretei, die Ironie. Im Einzelfall kann das etwas albern sein, selbst in Buxtehude dürfte man McDonald‘s-Milchshakes kennen, die Gunnar seiner Mutter aus der großen weiten Welt aufdrängt („Du flippst aus!“). Ein Lacher ist es trotzdem.
Zusammengeführt wird das immer wieder in den musikalischen Choreografien, mal ganz fragil als Kinderweise auf einer Holzbank („In einem kleinen Apfel ...“), mal als Ensemble-Tango, mal volle Kanne Dorfdisco. Zwischentöne, Misstöne, am Ende das Knarzen des alten, nicht ganz verlassenen Hauses. So entsteht das, was auch die Romane von Dörte Hansen auszeichnet: eine Leichtigkeit, unter der die Tiefe nicht verloren geht.
„Der Apfelgarten“, Thalia Theater, wieder am 19./20.10., jew. 15 Uhr, und im November und Dezember an verschiedenen Tagen, alle Termine und Karten unter www.thalia-theater.de
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