Hamburg. Im Hansa-Theater feierte „Cabaret“ mit einem funkelnden Ensemble Premiere und nahm das Publikum mit in die „Goldenen Zwanziger“.
Draußen auf dem Steindamm hält eine ältere Frau den aufgekratzten Theaterbesuchern stumm eine Pappe entgegen, „hungry“ steht darauf. Das echte Leben, wenn auch nicht für jeden. Drinnen perlt der Sekt, die Fotografen blitzen prominentes Premierenvolk. „Politik? Was hat das mit uns zu tun?“ faucht die Nachtclub-Katze Sally Bowles nur wenig später auf der Bühne.
Wer an diesem Abend das Hansa-Theater betritt, lässt den Winter und die Realität vor der Tür, hier ist es heiß, hier soll es schillern, hier ist St. Georg weit weg, sowieso: hier ist Berlin! Denn im Hansa-Theater hat der KitKat Club eröffnet und im KitKat wird freizügig die Dekadenz gefeiert, die „Goldenen Zwanziger“, mit Straps-Mädchen (die sich unterm Rock bisweilen als Kerl entpuppen) und geschmeidigen Muskel-Boys, mit einer Kapelle, die mit Verve noch gegen jede mögliche Missstimmung anspielt, hoch die Beine, hoch die Tassen.
Im Hansa Theater scheint die Zeit stehen geblieben zu sein
Auf den Theatertoiletten im Hansa kostet die „Benutzung 20 Pfennig“, so jedenfalls steht es dort noch immer auf den Schildchen. In keinem Etablissement ist die Zeit deutlicher stehen geblieben, kein Theater dürfte sich – zumindest in Hamburg – besser eignen für „Cabaret“, die musikalische Fassung des Episodenromans „Berlin Stories“ von Christopher Isherwood. Ende der 1920er, Anfang der 1930er-Jahre lebte der britische Schriftsteller in Berlin und verdichtete seine Erlebnisse zu Literatur.
Auch in „Cabaret“ ist es ein junger Autor, Cliff Bradshaw (Sven Mattke), der mit seinem Schreibmaschinenkoffer in der deutschen Hauptstadt ankommt, Silvester 1928, als Prolog lassen Regisseur Ulrich Waller und seine Co-Regisseurin Dania Hohmann einen Stummfilm über die Leinwand flackern. Zum Schwarz-weiß gesellt sich rasch ein teuflisches Rot, wenn Tim Fischer als KitKat-Conférencier mit aufgemaltem Kopfputz (Kostüm: Ilse Welter, Maske: Carmen Botermann) seinem Publikum die extrarote Zunge herausstreckt. Auftrittsapplaus. Bühnengeschehen und Parkett-Glamour verschwimmen geschickt.
Schon nach zehn Minuten wird gejubelt
„Willkommen, Bienvenue, Welcome“, gurrt Fischer, der begnadete Chansonnier, das so eingängige Begrüßungslied, und es sind noch keine zehn Minuten gespielt, als schon gejubelt wird, als befinde man sich bereits mitten im Finale. Was übrigens im Folgenden trotzdem locker überboten wird, frei nach Samuel Goldwyn: „Mit einem Erdbeben beginnen und dann langsam steigern.“
Wobei es in „Cabaret“ wohl eher der oft zitierte Vulkan ist, der unter der ausgelassenen Feierei brodelt, es ist natürlich auch das Wissen der Nachgeborenen, wohin das alles führt. Mehr als nur entsprechende Andeutungen auf den verkommenen politischen Zeitgeist finden sich im Stück, das über eine glitzernde Nummernrevue weit hinausreicht. Die es dennoch bietet, und wie!
Vor allem in der Person von Anneke Schwabe, die regelmäßig zum Ensemble des St. Pauli Theaters gehört und die auch die Nachtclubsängerin Sally Bowles dort vor knapp 15 Jahren schon einmal gespielt hat, damals mit Gustav Peter Wöhler als Conférencier. Ihr Zugriff auf die Rolle ist gereift, sie seufzt und wispert und donnert und röhrt, zuckersüß und kehlig und stimmgewaltig und bei Bedarf auch ein kleines bisschen dreckig.
Schwabe ist eine fantastische, eine funkelnde Sally
Anneke Schwabe, die sich den Part künftig mit Josephin Busch teilen wird, ist eine fantastische, eine funkelnde Sally, sie kann die große Show genauso wie die Zwischentöne. Denn solide werden, das liegt dieser Sally nicht, dem gefallenen Mädchen. Als sie endlich die Rettung findet, den grundanständigen Cliff mit seiner Schreibmaschine („Maybe This Time“, vielleicht ja diesmal), stürzt sie sich doch lieber wieder lebenshungrig und applaussüchtig in die räudige Nacht.
Die zweite Liebesgeschichte aber ist es, die diesen Abend emotional trägt: zwischen der einfachen Pensionswirtin Fräulein Schneider und ihrem Untermieter, dem Obsthändler Schultz, der ihr eine Ananas schenkt, so dass sie von Hawaii die Winde weh’n hört... Wie Angela Winkler, 76, und Peter Franke, 79, diese späte Liebe spielen, so zart und scheu und sorgsam, ist schlicht beglückend. Wenn sie ihr Verlobungsduett singen – „Oh, wie wunderbar,/nichts ist so wie’s war,/durch ein winziges Wort: Heirat“ –, ist das nicht nur enorm reizend, sondern wirklich ergreifend. Und bereitet die Fallhöhe, von der aus die beiden (und mit ihnen die Zuschauer) abstürzen, als Fräulein Schneider von einem nationalsozialistischen „Freund“ gewarnt wird vor der Verbindung zu dem jüdischen Herrn.
Ein gelungener Auftakt
Wie der Nazi (Holger Dexne) mit Chor frontal sein „Wach auf, wach auf, der morgige Tag ist mein“ schmettert, lässt frösteln, erst recht, als Herr Schultz, der schon bald den gelben Stern tragen wird, noch immer freundlich abwinkt: „Ich kenn’ doch die Deutschen, bin doch selber einer!“ Zynisch im Inhalt, aber pur und ganz bei sich, kommentiert Zeremonienmeister Fischer, der genau zwischen Verletzlichkeit und Groteske zu balancieren weiß, das Geschehen: „Nichts berührt mich, nichts tut mir weh, das Herz friert mir ein.“
Das Publikum allerdings ist unbedingt berührt, wofür auch die starke Combo von Matthias Stötzel sorgt und die sehr komischen Szenen von Anne Weber als Matrosendirne, das exzentrische Tingel-Tangel-Ensemble, die so schmissige wie vielschichtige Vorlage von Joe Masteroff, John Kander und Fred Ebb natürlich – und nicht zuletzt der kongeniale Spielort. „Cabaret“ ist die erste Theatereigenproduktion am Hansa-Theater. Einen gelungeneren Auftakt hätte man sich kaum wünschen können. „Willkommen, Bienvenue, Welcome – im Cabaret, au Cabaret, to Cabaret!“
„Cabaret“, Vorstellungen bis 26. April im Hansa-Theater (Steindamm 17), Karten unter T. 30 30 98 98, in der Abendblatt- Geschäftsstelle (Gr. Burstah 18-32) oder unter www.cabaret-hamburg.de