Hamburg. Der Hamburger Schriftsteller checkte selbst im Sanatorium ein. Danach schrieb er einen dunklen Roman. Besser als Thomas Manns „Original“?
Am Horner Kreisel hat die Lebenskrise nicht begonnen, natürlich nicht. Der Antiheld dieses Romans ist schon seit seiner Jugend die trübste Tasse im Regal. Jetzt ist er unterwegs nach Mecklenburg-Vorpommern, in die Heilanstalt: „Sein Gesicht im Rückspiegel: kein schöner Anblick. Ein Pseudointellektueller, Kindergreis, Woody Allen junior, fahl, käsig, kränklich, die Augen rot und verschwommen, als hätte jemand Salz hineingestreut.“
Unter allen Autoren der Welt erkennt man sofort, wer diese Sätze geschrieben hat. Depressionsliteratur mit hohem Selbsthassfaktor, das ist das Label von Heinz Strunk. In seinem neuen, wie stets erzählerisch souverän gefügten Roman „Zauberberg 2“ begleitet Strunk seinen Protagonisten Jonas Heidbrink auf seinem Weg ins Abseits. In die Einöde, an den Allerwertesten der Welt, ins Sanatorium. Bei Thomas Mann war es das herrliche Bergpanorama in Davos, vor dem sein Hans Castorp Langeweile und Hypochondrie kultivierte.
Heinz Strunk hat mit „Zauberberg 2“ den härtesten Roman seines Lebens geschrieben
Der depressive Heidbrink – wobei: „Die Verzweiflung ist im Verlauf der Zeit Melancholie gewichen, grelle Depression dumpfer Traurigkeit“ – darf, na klar, nicht die Schönheit der Natur erleben. Die Landschaft muss sein Seelenleben spiegeln. Trister als Mecklenburg geht nicht, und dann auch noch das ganze zähe, wirklich so gut wie immer freudlose Prozedere des Sanatoriumalltags. „Zauberberg 2“, das am 28. November exakt 100 Jahre nach Zauberberg 1 erscheint: Dies ist der vorläufige Endpunkt der Strunkschen Grau-Prosa. „Zauberberg 2“ ist gewissermaßen, speziell mit Blick auf das Ende (das wir nicht verraten), das bislang härteste Buch des Schriftstellers Heinz Strunk.
Selbstredend darf in einem Buch, in dem ein mental dauerangeschlagener Mann im Sanatorium eincheckt, nicht viel Action sein. Heidbrinks („Für die meisten Menschen besteht das Leben aus einer Serie von Niederlagen und Erschütterungen, die sie mal mehr, mal weniger gut wegstecken. Ein Lichtbogen, der in Finsternis beginnt und in Finsternis endet. Und das meine ich ganz neutral, ganz sachlich“) Leben ist eigentlich auf Genuss ausgelegt. Zumindest hätte jeder Nicht-Gemütskranke viel Schönes aus dem gezogen, was Heidbrink widerfuhr. Er ist, nachdem er noch vor dem 30. Geburtstag sein Start-up verkauft hatte, ein reicher Mann.
Heinz Strunk und Thomas Mann: Durchaus eine Hommage
Aber glücklich zu sein, ist ihm nicht gegeben. Die 823 Euro am Tag fürs Sanatorium kann er immerhin locker zahlen, das ist doch was. In diesem Sanatorium will er sich gleichsam von diesem ganzen anstrengenden, schlecht gelaunten Leben wegsedieren lassen. Krankheit als Weg aus der Gesellschaft.
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Heidbrink bekommt, was die Physis angeht, ein paar negative Diagnosen: ein Nierentumor? Hautkrebs? Das muss alles untersucht werden, Strunk delektiert sich am Sprechzimmer-Sprech der Mediziner. Überhaupt merkt man, dass er zehn Tage in einem Sanatorium recherchiert hat. Der Alltag bei den Heilbedürftigen wird nuanciert geschildert, samt Referieren der Vitalfunktionen. Bei Hans Castorp wurde noch mehrmals am Tag Fieber gemessen. Auf die seitenlangen Settembrini-Naphta-Debatten des Originals verzichtet Strunk übrigens, wie überhaupt keine exakten personellen Analogien zu Thomas Manns Werk bestehen. Am Schluss macht Strunk aus seinem Roman aber doch eine reine Hommage an den Literaturnobelpreisträger: Ein ganzes Kapitel ist durchsetzt von den Formulierungen Thomas Manns. „Der Wald strotzt von einer Sorte moosiger Flechten, ist damit behangen, beladen, ganz und gar darin eingewickelt, in langen, missfarbenen Bärten, ein verzauberter und krankhafter Anblick“ – stimmt, so lang sind sie, die Mann-Sätze.
Es gibt keine Liebesgeschichte und keine Claudia Chauchat, kein Duell. Aber ein paar glänzend gezeichnete Charaktere. Wie Klaus, die Ruine von 80-jährigem Mensch, der Kette raucht und säuft („Trink lieber noch’n Schluck. Eine gute Flasche Wodka enthält eine Botschaft, die sich einem erst beim Trinken erschließt“), aber eine ganz traurige Backstory hat. Selbstverständlich ist „Zauberberg 2“ ein vor allem ernstes Buch, in dessen dunklen Wäldern man das Licht der Komik etwas länger suchen muss als sonst bei Strunk.
Neues Buch „Zauberberg 2“: „Sie strahlte eine seifige Frische aus“
Apropos Wälder. Zwei junge Spätzugänge – aus Heidbrinks Perspektive, der aus lauter Lebensüberdruss zum Faktotum der Anstalt wird – verschwinden so plötzlich, wie sie gekommen waren. Es wirkt so, als wäre Heidbrink am liebsten anstatt ihrer von der Bildfläche gegangen, also so ganz. Von den Leuten hält er sich insgesamt, so gut es geht, fern, aber Interaktion geschieht halt doch, sonst wär‘s keine Welt, die einer wie Strunk beschreiben will. Mit Zeissner gibt es einen klugen, reflektierten Kopf, eine Art Gegenspieler Heidbrinks. Es gibt das eilfertige, zupackende Personal, Schwester Irene etwa („Sie strahlt eine seifige Frische aus“).
Und dann auch Personen, die der auf seine Weise oft gnadenvolle Dunkelseelenerkunder Strunk ziemlich boshaft beschreibt: „Der einzige Oktober-Neuzugang, Margot Heitmann, wird an seinem Tisch platziert. Ihrer äußeren Erscheinung nach ist das eine dieser Society-Ladys, die es sich zur Lebensaufgabe erkoren haben, Charity zu machen. Ein Gespenst mit Lippenstift und clownsbunten Klamotten; dieser eigentümliche Look, den man in Reinkultur eigentlich eher in Kampen auf Sylt erwartet und nicht hier am Rand von Pommerland. Gepflasterte Wangen, entfalteter Hals, Unterspritzungen bis zum Horizont, die gelifteten Augen starren aus ihrem Greisengesicht wie die einer Konfirmandin. Schätzungsweise neunundzwanzig Face- und Körperlifts dürfte sie hinter sich gebracht haben. Die Brüste, die wie in Säcke gefüllte Pflaumen herumbaumeln, sind allerdings schon länger nicht gemacht worden.“
Heinz Strunk mit dem „Zauberberg 2“: Ein Hit wie „Der goldene Handschuh“?
Irgendwann muss Heidbrink das Sanatorium verlassen, in dessen rettenden Lebensrhythmus er sich letztlich so kommod eingegroovt hat. Besser ist ja eh nix geworden, warum er so wenig Lebensfreude empfindet, muss offen bleiben. „Seine Persönlichkeit, so viel ist mittlerweile klar, ist ein zugefrorenes Gewässer, da gibt es wenig zu ergründen und noch weniger mit Psychokauderwelsch und Gesprächsgruppengeschwätz zu erforschen“, resümiert Heidbrink.
Wird „Zauberberg 2“ solch ein großer Hit wie „Der goldene Handschuh“ werden? In diesem Herbst der Wahl-Desaster, der generellen Heilbedürftigkeit und der ewig grauen Suppe? Warum denn nicht. Ist der Roman besser als der Original-„Zauberberg“? Ja, logisch. Ist halt viel kürzer.
Heinz Strunk stellt „Zauberberg 2“ am 14. Dezember im Schauspielhaus vor.