Hamburg. Die Bestsellerautorin sprach und las im Bucerius Kunst Forum. Und ahnt, dass sie bald „als Kanzlerkandidatin der SPD aufgestellt“ wird.
Politiker und Journalisten dürfen sich nicht auf Social Media äußern? Dafür würde Juli Zeh sorgen, Schriftstellerin und Verfassungsrichterin des Landes Brandenburg, wenn sie Chef wäre (sie verwendet für sich die männliche Form). Und das sei sie wahrscheinlich bald, „weil ich im März als Kanzlerkandidatin der SPD aufgestellt werde, wie ich die kenne“, sagt sie unter dem Gelächter der Anwesenden. Ist ein Witz, klar. Ein bisschen komische Erleichterung kann nicht schaden in diesen Tagen.
Dass Amtsträger und Journalisten auf Social Media nichts verloren haben, damit ist es Zeh allerdings ernst. Was diese Art von Öffentlichkeit anrichten kann – oder wenigstens mit anrichten kann – , erleben wir gerade live. Donald Trump wird US-Präsident, der Bundeskanzler entlässt seinen Finanzminister, die Ampel liegt in Scherben. Nach dem dramatischen 6. November ist das politische Deutschland noch dabei, sein Gefieder zurechtzuschütteln, da kommt Zeh zu einer Lesung nach Hamburg ins Bucerius Kunst Forum. Im Dezember 2023 hatte sie den Hannelore-Greve-Literaturpreis erhalten, ihr jetziger Auftritt ist der mit der Auszeichnung verbundene Pflichttermin, wie die Jury-Vorsitzende und Nachfolgerin der Stifterin Eva-Maria Greve zur Begrüßung anmerkt und sich über das Kichern im Publikum wundert.
Juli Zeh in Hamburg: Warum diese Autorin nicht Bundespräsidentin werden will
Pflicht oder Kür, das Timing ist jedenfalls fast zu gut, um Zufall zu sein. Nimmt doch Zeh in ihren Büchern mit geradezu prophetischem Gespür politisch-gesellschaftliche Entwicklungen vorweg. In „Corpus delicti“ von 2009 behandelt sie eine Gesundheitsdiktatur, als die Teile der Bevölkerung später den staatlichen Umgang mit der Pandemie erleben sollten. Und in ihrem jüngsten Roman „Zwischen Welten“ legen Zeh und ihr Co-Autor Simon Urban den Finger in die Risse, die sich zwischen großstädtischen (hier westdeutschen) akademisch-medialen Blasen und der (hier ostdeutschen und ländlichen) „normalen“ Bevölkerung auftun. Deftige Bauernproteste inklusive, wie sie in der Wirklichkeit erst nach Erscheinen des Buchs stattgefunden haben.
Der Moderator Matthias Iken, stellvertretender Chefredakteur des Hamburger Abendblatts, legt den Schwerpunkt im Gespräch mit der Autorin natürlich auf die politische Aktualität. Die hellseherisch Begabte gewährt gleichsam einen Blick in ihre Werkstatt: Sie bemerke Risse und verlängere sie dann, erklärt sie ihr Verfahren. „Die Dinge sind früh erkennbar, die fallen nicht vom Himmel. Wenn man hinschaut, ist man sehr schnell in einer literarischen Kristallkugel unterwegs.“
Literatur ist für Juli Zeh ein Empathie-Angebot, die Möglichkeit, sich schreibend mit dem anderen zu identifizieren
Wenn man hinschaut – und sich einen so eigenen Reim auf die Dinge macht wie Juli Zeh. Treffsicher setzt sie sich immer wieder zwischen die Stühle, bezieht Positionen abseits der Mehrheitsmeinungen, wendet sich gegen die Aufspaltung der politischen Lager in „wir“ und „die“. Zeh spricht mit AfD-Wählern, bemüht sich, sie zu verstehen, und schildert in ihren Texten deren Perspektive. Was oft genug dazu führt, dass sie als Autorin für diese Ansichten gleich in Mithaftung genommen wird. Dabei sei doch Literatur ein Empathie-Angebot, die Möglichkeit, sich schreibend mit dem anderen zu identifizieren. Die Auszüge aus „Zwischen Welten“, die Zeh und Urban lesen, liefern haarsträubend lebendige Beispiele.
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Wie privilegiert ihre unabhängige Position ist, um Dinge anzusprechen, ist Zeh natürlich bewusst. Sie ist niemandem verpflichtet, keiner Partei und keinem Vorgesetzten. Politikerin will sie nicht werden. „Und wenn das Amt als Bundespräsidentin als Angebot an Sie herangetragen würde?“ Das Angebot würde an sie herangetragen, bestätigt Zeh, aber „als Bundespräsident wäre ich, glaube ich, überqualifiziert“. Und erläutert dem amüsierten Publikum, dass der Job zu 98 Prozent aus wirklich mühsamen Dingen bestehe: Hände schütteln, Bänder durchschneiden, in Kameras lächeln: „Das wäre mir zu wenig Action.“ Man glaubt ihr aufs Wort.
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