Hamburg. Lesen lohnt sich: Juli Zeh und Simon Urban liefern uns das Röntgenbild einer verstörten Gesellschaft.
Es gibt nicht viele deutsche Literaten, deren Neuveröffentlichungen ich fast sehnsüchtig erwarte. Daniel Kehlmann, Christoph Ransmayr, Benedikt Wells gehören dazu, Dörte Hansen und zweifellos Juli Zeh. Die brandenburgische Autorin hatte schon 2009 mit „Corpus Delicti“ einen fast hellseherischen Blick auf eine zukünftige Gesellschaft geworfen, die den Wert Gesundheit absolut setzt und dafür alle anderen Freiheitswerte über Bord wirft.
Ihre Romane „Unter Leuten“ und „Über Menschen“ erklären Regionen, die für die Bewohner der großstädtischen Blasen weiter entfernt liegen als die Rückseite des Mondes. Juli Zeh erzählt darin aus dem tiefsten Dunkeldeutschland, wo sich nicht nur Fuchs und Hase Gute Nacht sagen, sondern auch aufgeklärte Bürger und Rechtsradikale. In „Über Menschen“ ist der Nazi Nachbar – und irgendwie auch Mensch. Vermutlich kennen mehr Bildungsbürger AfD-Wähler aus Juli Zehs Romanen als aus eigener Erfahrung.
Juli Zeh traut sich was
Die 48-Jährige traut sich was. Sie war es, die schon im April 2020 – wenige Wochen nach dem Corona-Schock – mit anderen Abweichlern wie Boris Palmer, Julian Nida-Rümelin und dem Hamburger Ökonom Thomas Straubhaar eine andere Strategie als die Dauerschleife des Lockdowns einforderte. Sie drangen nicht durch. So ging es Zeh auch, als sie im Sommer mit anderen Prominenten in einem offenen Brief der Zeitschrift „Emma“ Verhandlungen verlangte, um den Krieg in der Ukraine zu beenden.
Zeh legt sich an mit einem Zeitgeist, der inzwischen vorzugsweise mit der Schmalspurbahn unterwegs ist. Oftmals vertritt sie Positionen, für die man auf dem Kurznachrichtendienst Twitter mindestens geteert und gefedert würde. Sie macht es aber klug, besonnen, überlegt. Vor allem frei von Rechthaberei. Ihre Bücher haben inzwischen eine Millionenauflage. Allein der letzte Titel „Über Menschen“ ist siebenstellig.
Vergleichen wir das noch einmal mit Twitter, das für manche Politiker, Medienschaffende und PR-Strategen ja der Nabel ihrer Welt ist: Der Nachrichtendienst hat hierzulande acht Millionen Nutzer – man muss aber wissen, dass zehn Prozent für 90 Prozent der Inhalte verantwortliche sind. Wollte man es also umrechnen: Es gibt in Deutschland mehr Juli-Zeh-Leser als Twitter-Verrückte. Warum merken wir davon nur so wenig?
Julie Zehs neues Buch spielt im Jahr 2022 und bildet seine Debatte ab
Eine Antwort könnte ihr neues Buch geben: In dem altmodisch anmutenden Briefroman analysieren Zeh und der Hamburger Simon Urban den verformten Diskurs in Deutschland – und in ihrer Diagnose liefern sie gleich eine Ursache mit: die sozialen Medien. Ihre beiden überzeichneten Figuren, hier die Bio-Bäuerin aus Brandenburg, dort der gendernde Medien-Hipster aus Hamburg, unterhalten sich nicht wie früher am WG-Tisch in Münster, sondern missverstehen, beschimpfen, verletzen sich vorzugsweise per WhatsApp.
Wie im echten Leben sind diese Dialoge Brandbeschleuniger des Streits – schneller als das Hirn hetzen die Finger über die Tastatur: was man sich nie zu sagen wagen würde, schreibt man in gnadenloser Härte. Das entzweit nicht nur Stefan und Theresa, das entzweit längst das ganze Land. Je nichtiger die Debatte, desto erbitterter der Krieg. Die Gräben zwischen Stadt und Land, zwischen Privilegierten und Unterprivilegierten, zwischen Woken und Liberalen, Linken und Rechten, sie sind längst zu Schützengräben vertieft.
Jeder buddelt sich immer weiter ein und schießt auf alles, was sich auf der Gegenseite bewegt. All die Konflikte ums Gendern, Corona, den Ukraine-Krieg oder Antirassismus finden sich auf den rund 440 Seiten wieder – das Buch spielt im Jahr 2022 und bildet seine Debatte ab. Trotzdem ist es hochaktuell.
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Vielleicht sollte die SPD mehr Juli Zeh wagen
Wie ein Röntgenbild zeigt es eine verstörte und verstörende Gesellschaft, die das Streiten verlernt hat, und Medien, die keine „Aufklärer und Faktenlieferanten“ sind, sondern als „Vorsänger im Meinungskonzert“ und „Volkspädagogen“ in der „Besserungsanstalt Bundesrepublik“ lieber selbst zur Partei werden. Man möchte das alles ins Reich der Fabel verweisen, als Erfindung der Literatur verlachen, wüsste man es nicht besser.
Fast wünscht man sich, dass eine Autorin wie Juli Zeh mit ihrem offenen Visier und weitem Herzen in die Politik ginge. Aber da ist sie schon: 2017 ist sie in die SPD eingetreten. Vielleicht sollte die SPD, um wieder zum Bestseller zu werden, mehr Juli Zeh wagen.