Hamburg. Partyschlager im Docks, unsere Autorin ist dabei. Für die Musik? Um Gottes willen. Über eine Freundschaftsgeschichte, die zu Herzen geht.
Wenn mir jemand vor fünf Jahren gesagt hätte, dass ich eines Tages auf ein Konzert von Ikke Hüftgold gehe, hätte ich ihn gefragt, ob ich was von seinem Koks haben kann. Im Ernst: Ich wäre nicht auf die Idee gekommen. Schlager habe ich zuletzt Mitte der 90er mitgesungen, weil damals eine sagenhafte Nostalgiewelle über Deutschland schwappte und ich als Erstsemestlerin viel auf Partys unterwegs war. Ein bisschen „Anita“, ein Glas „Griechischer Wein“ – das ging schon irgendwie.
Aber „Dicke Titten, Kartoffelsalat“? Da bin ich raus.
Beziehungsweise: war ich raus, bis vor wenigen Monaten. Bis zu dem Moment, in dem ich Simone kennenlernte und Jonathan und einen Menschen namens Matthias Distel.
Ikke Hüftgold in Hamburg: Warum dieses Konzert mehr ist als nur Partyschlager
Begonnen hat diese Geschichte in Hamburg, im September 2021. Damals begrüßte ich eine Mutter aus dem Westerwald im Abendblatt-Podcast „Von Mensch zu Mensch“: Simone Braunsdorf-Kremer, und ja: Was habe ich diesen Namen vor der Aufzeichnung geübt. Weil ich einfach Respekt hatte vor dem Thema, das auf mich zukam: Wie gehen Eltern um mit der Tatsache, dass ihr Kind lebensverkürzend erkrankt ist?
Mopd1: So nennt sich der sehr, sehr seltene Gendefekt, mit dem Simones Sohn zur Welt gekommen ist. Neun Monate hatten ihm die Ärzte kurz nach seiner Geburt gegeben, als die Diagnose feststand. Was mit Simone in diesem Moment passiert ist, erzählt sie im Podcast in unglaublich berührenden Worten. Wie ihre erste Reaktion auf die Diagnose die komplette Überforderung war und der Gedanke kam, Jonathan zur Adoption freizugeben. Am Ende entschied sie sich anders. „Ich würde nicht tauschen wollen“ – als sie diesen Satz im Podcast sagte, musste ich zum ersten Mal weinen.
Warum? Weil es ein starker Satz ist von einer starken Frau, das ist das eine. Aber es macht eben auch was mit einem, ein behindertes Kind zu haben. Es ändert die Sicht auf das Leben und auf alles, was zählt. Das merken betroffene Eltern recht schnell, das Umfeld deutlich langsamer. Wer es aber in kürzester Zeit verstanden hat, ist Ikke Hüftgold.
Ikke und Jonathan haben sich 2017 kennengelernt – lange vor „Layla“
An diesem Donnerstag startet Ikke Hüftgold im Docks auf der Reeperbahn seine erste Deutschland-Tournee. Simone Braunsdorf-Kremer wird dabei sein: Dafür ist sie mit der ganzen Familie aus dem Westerwald nach Hamburg gereist, mit etlichen Medikamenten im Gepäck. 17 Medikamentengaben braucht Jonathan pro Tag. Die medizinischen Probleme reichen von Bluthochdruck über Elektrolytverlust bis zu Schlafstörungen.
Aber wenn es dann losgeht am Donnerstagabend im Docks, übernimmt ihr Mann. Und auch ich werde dabei sein. Seit unserer Podcast-Aufzeichnung sind Simone und ich in Kontakt geblieben. Auch ich habe einen schwerbehinderten Sohn. Die Themen ergaben sich quasi von selbst.
Ikke und Jonathan haben sich 2017 kennengelernt – lange vor „Layla“ und den großen Diskussionen, die mit dem Ballermann-Hit einhergingen. Es war bei einem schnöden, völlig unspektakulären Fußballbenefizturnier, bei dem sich die beiden zum ersten Mal sahen, sich entdeckten und von da an kaum mehr voneinander zu trennen waren. Für Simone Braunsdorf-Kremer ein unvergesslicher Moment. „Darf ich ihn mal nehmen?“, hatte Distel kurz nach dem ersten Kennenlernen gefragt. „Das war uns bis dahin noch nie passiert“, erzählt Simone Braunsdorf-Kremer rückblickend.
Für Eltern behinderter Kinder sind solche Momente rar gesät. Gerade bei Jonathan. Ein Kind, das in der Öffentlichkeit oft angestarrt wird wie ein seltenes Insekt, trifft wie aus dem Nichts einen Seelenverwandten. Denn das ist Ikke Hüftgold bis heute für Jonathan. Ein Mensch, der ernsthaftes Interesse hat und nicht einfach wieder verschwindet, wenn das Foto gemacht ist. Der meint, was er sagt und seinen Freund regelmäßig besucht. Auch als Jonathan im Herbst 2019 wegen einer schweren Enzephalitis über Tage um sein Leben kämpfte, stand Matthias Distel der Familie zur Seite.
Mutter Simone seufzt: Es ist halt so gar nicht ihre Musik
Wenn Ikke Hüftgold am Donnerstag im Docks zum Soundcheck lädt, wird sein größter Ultra dabei sein. Mit Gehörschutz, das ist schon mal sicher. Aber ansonsten in seinem kompletten Ikke-Outfit. Denn Jonathan liebt nicht nur die gemeinsamen Momente mit seinem Freund. Er liebt alles an ihm – auch seine Musik. Simone Braunsdorf-Kremer sehe ich bei diesem Satz vor meinem inneren Auge lachend den Kopf schütteln: Es ist so gar nicht ihre Musik. Aber das ist in diesem Fall gar nicht wichtig. „Perücke, Liedtext und Assi-Image interessieren Joni nicht, er fühlt den Menschen“, sagt sie. „Und dass seine Gefühle erwidert werden.“
Mich berührt diese Freundschaft zutiefst. Nicht nur, weil sie komplett ohne Worte auskommt (und wann hat man das selbst zuletzt gehabt?). Sondern auch, weil diese zwei Menschen unterschiedlicher nicht sein könnten – hier der Malle-Proll Ikke, dort der winzige Jonathan. Aber warum sollte Freundschaft nicht genau an dieser Stelle beginnen? Warum muss Freundschaft beginnen, wo es noch vorstellbar bleibt?
Hilfe für pflegende Eltern: Hüftgold gründet Hospizdienst für 120 Kinder
Und dann gibt es noch einen zweiten Teil dieser Geschichte. Denn kein anderer Promi ist in den vergangenen Jahren so tief eingetaucht in die Welt pflegender Eltern wie Ikke Hüftgold. Mit seiner Stiftung, der Summerfield Kids Foundation, unterstützt Matthias Distel seit Jahren sozial schwache Familien, bietet Ferienprogramme für betroffene Kinder an und Auszeiten für pflegende Eltern. Hinzugekommen ist in diesem Frühjahr ein ambulanter Kinder- und Jugendhospizdienst für den Westerwald – für die etwa 120 Kinder, die in der Region lebensverkürzend erkrankt sind.
In Zeiten akuten Pflegenotstands, in denen Kinderkrankenhäuser öffentlich um Spenden für die intensivmedizinische Versorgung der Schwächsten bitten, ist das eigentlich gar nicht zu fassen.
Und doch Realität. Genau wie der „Saufbus“ oder „Bumsbar“. Heidewitzka. Wenn mir das jemand vor fünf Jahren jemand gesagt hätte …