Hamburg. Der Kinderklinik fehlt Geld für Personal und Geräte – trotz Spendenaktion. „Wir brauchen eine Finanzspritze.“ Drastischer Appell der Ärztekammer.

100 Euro, noch mal 100 Euro, dann 150 Euro – gespendet von: „Anonym“. Namenlose Geldgeber tragen sich jeden Tag mit kleinen und größeren Beträgen ein auf der Liste, die Ärztinnen und Ärzte sowie Pflegekräfte des Katholischen Kinderkrankenhauses Wilhelmstift in Rahlstedt im Internet angelegt haben. Gut 265.000 Euro kamen bislang zusammen, zwei Millionen sollen es werden. In der Kinderklinik des Erzbistums Hamburg ist der Optimismus groß. Das Finanzloch allerdings auch.

Nach dem Abendblatt-Bericht vor zwei Wochen und erschrockenen Leserreaktionen („Unfassbar“, „Bin entsetzt“) wird immer klarer: Dem finanziell angeschlagenen Kinderkrankenhaus läuft die Zeit davon. Die Aktion der Mitarbeiter, die von der Klinikleitung unterstützt wird, ist ein Hilferuf für kranke Kinder in Hamburg. „Wir haben schon häufiger gesagt, dass die Situation in den Krankenhäusern brennt. Aber jetzt ist die Versorgung der Kinder grundsätzlich gefährdet.“ Das sagt Dr. Henning Lenhartz, Oberarzt und Spezialist für Kindergastroenterologie. Seinem Fachgebiet entsprechend könnte man sagen: Der Mann hat Bauchschmerzen.

Hamburg: Kinderkrankenhaus Wilhelmstift bittet um Spenden

Weil Geld für Geräte und Personal fehlt, muss das medizinische Angebot des Hauses reduziert werden. Aus Hamburg, dem Umland und zum Teil aus ganz Deutschland kommen kranke Kinder zu ihm und seinen Kollegen. Ein Haus wie das Wilhelmstift hält genau die Experten vor, die man braucht, wenn es ernst wird: bei Brandverletzungen, komplizierten Leiden, Notfällen.

Zu den Spendensammlerinnen gehört auch Nora Stock. Die Assistenzärztin sagt: „Neue Geräte sind für uns sehr wichtig. Aber der Personalmangel ist die größte Hürde für uns, um die Kinder so zu versorgen, wie wir uns das vorstellen und es für die Kinder angemessen wäre. Viele hier fühlen sich von Politik und Gesellschaft alleingelassen.“ Lenhartz und Stock wissen, dass es einen „Stapel an Bewerbungen“ von Ärztinnen und Ärzten gebe, die im Wilhelmstift arbeiten wollen. Eingestellt werden können nur wenige.

Gesundheitspolitiker Celik: „Ein Armutszeugnis für den Hamburger Senat“

Der Gesundheitspolitiker der Linken in der Bürgerschaft, Deniz Celik, kennt das Wilhelmstift gut. Er sagte dem Abendblatt: „Es darf nicht sein, dass in einer reichen Stadt wie Hamburg, in der die Anzahl der Einkommensmillionäre jedes Jahr steigt, die größte Kinderklinik aufgrund von Geldmangel die Leistungen einschränken muss und Kinder auf die notwendige Therapie länger warten müssen. Wenn das Personal aus Not private Spenden sammelt, während der für die Daseinsvorsorge politisch verantwortliche Senat tatenlos zuschaut, dann ist das ein Armutszeugnis für eben diesen Senat.“

Das Wilhelmstift mit seiner hoch spezialisierten Ambulanz sei in Hamburg und überregional unverzichtbar. Der rot-grüne Senat müsse die Investitionsmittel erhöhen. „Als Linksfraktion werden wir uns entsprechend nach der Sommerpause im Rahmen der Haushaltsberatungen für die bedarfsgerechte Aufstockung der Investitionsmittel einsetzen.“

Ärztekammer: Papier zeigt dramatische Entwicklung in Hamburg

Es klingt unisono so, wenn man Experten nach der Situation in Hamburg fragt. In der Ärztekammer kursiert ein Papier („Zustandsbericht und Forderungen zur Verbesserung der Kindergesundheit in Hamburg“), in dem es heißt: „Den Kindern in Hamburg geht es nicht gut … Der Kinder- und Jugendausschuss der Ärztekammer Hamburg fordert daher die Bürgerschaft der Stadt Hamburg auf, sich verstärkt um die Gesundheit der Kinder in unserer Stadt zu kümmern.“

Zu den wichtigsten Befunden der Ärztekammer zählen:

  • Die Folgen der Corona-Pandemie für die Kinder halten an: mehr psychische Auffälligkeiten, Übergewicht, Entwicklungsstörungen.
  • Kriege und Krisen verunsichern die Kleinsten insbesondere.
  • Durch die hohe Zahl an Geflüchteten sind deutlich mehr Kinder von derselben Zahl an Praxen und medizinischen Einrichtungen zu versorgen.
  • Viele Kinder haben gar keinen Kinderarzt.
  • Nicht versicherte Kinder haben keinen Zugang zu medizinischer Versorgung.
  • Eine wachsende Zahl an Kindern hat überhaupt nicht die nötigen Impfungen.
  • Ein Viertel der Kinderärzte ist über 60 Jahre alt.
  • Auch weil Pflegekräfte fehlen, können auf vielen Stationen gar nicht alle Betten belegt werden, obwohl der Bedarf da ist.

Corona-Pandemie hat die Infektionswellen durcheinandergewirbelt

Die Ärztekammer hat einen Forderungskatalog aufgestellt, in dem es um die Verbesserung der psychotherapeutischen Versorgung geht, die Ernährung, Sportangebote und viel mehr. „Zur Steigerung der Effektivität sollten punktuelle Angebote zentral koordiniert werden.“ Das ist genauso ein Wink in Richtung Sozialbehörde von Melanie Schlotzhauer (SPD) wie der unmissverständliche Appell der Ärzte: „Wir fordern Sie dringend auf, verantwortungsbewusst zu handeln. Kinder sind unsere Zukunft!“

Die Sozialbehörde erklärte, die Situation der Kinderkrankenhäuser werde „sehr ernst genommen“. Deutschlandweit seien für die Jahre 2023/2024 insgesamt 600 Millionen Euro an zusätzlichen Mitteln aufgebracht worden. Die geplante Krankenhausreform stelle weitere Gelder und spezielle Zuschläge „in Aussicht“. In den Verhandlungen über die Reform hätten die Bundesländer vom Bund gefordert, dass Kosten- und Tarifsteigerungen bereits für 2024 berücksichtigt würden. Im Wilhelmstift werde zurzeit „eine Maßnahme zur Verbesserung der technischen OP-Infrastruktur vorbereitet, sodass diese mit Fördermitteln realisiert werden kann“.

Wilhelmstift-Oberarzt Lenhartz sagt: „Zum ersten Mal haben wir im vergangenen Jahr mehr Menschen neu eingestellt, als uns verlassen haben. Allerdings haben wir im Jahr 2023 auch so viele schwerste Erkrankungen gesehen wie in den letzten 20, 30 Jahren nicht. Früher hatten wir im Sommer mal eine Verschnaufpause. Jetzt arbeiten wir das ganze Jahr am Limit.“ Durch Corona sind die beinahe verlässlich vorhersagbaren Infektionswellen durcheinandergeraten.

Notaufnahme im Kinderkrankenhaus: „Soll ich den Eltern einen Grundsatzvortrag halten?“

Hinzu kommt: Das inzwischen geflügelte Wort vom abhandengekommenen Körpergefühl und verunsicherten jungen Eltern ist Alltag bei Kinderärzten. Die Einschätzung, was eine schlimme Erkrankung ist und was ein Husten mit etwas Fieber, muss oft erst in der Notaufnahme eines Krankenhauses getroffen werden. Ärztin Stock sagt: „Viele Kinder, die hier in der Notaufnahme sind, gehören eigentlich in eine Kinderarztpraxis. Die sind jedoch auch überlaufen. Soll ich den Eltern einen Grundsatzvortrag halten oder lieber schnell ins Ohr gucken, ob das sehr schlimm aussieht? Jedes Kind hier hat Schmerzen, ist krank und braucht unsere Hilfe.“ Lange Wartezeiten sind schlimm und Vätern wie Müttern mit schreienden Kindern schwer vermittelbar.

Ein hochrangiger Hamburger Krankenhausmanager sagte dem Abendblatt nüchtern wie hart: „Mit Kindermedizin kann man kein Geld verdienen.“ Die Krankenhäuser erhalten die Investitions- und Ausstattungskosten von den Bundesländern. Die Behandlungen werden von den Krankenkassen bezahlt. So ist die Theorie. Für jeden Fall gibt es eine pauschale Bezahlung. Mit der geplanten Krankenhausreform sollen auch Kosten für immer bereitstehende Spezialisten und besondere Geräte wie im Wilhelmstift bei der Honorierung besser berücksichtigt werden. Oberarzt Lenhartz sagt: „Die Fallpauschalen waren Gift für die Kinderheilkunde. Die mit der geplanten Krankenhausreform verbundene Vorhaltepauschale wäre die eigentliche Basis für die Honorierung. Doch bis sie kommt, brauchen wir eine Finanzspritze.“

Informationen und hilfreiche Hinweise zu Kinderkrankheiten geben die Kinderärztinnen Dr. Claudia Haupt und Dr. Charlotte Schulz vom Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte Hamburg in der Podcast-Reihe „Die KinderDocs“ des Hamburger Abendblatts.