Hamburg. Im verglasten Lkw geht es an Brachen und Leerstand vorbei. Die Gruppe Ligna hat mit „Das Wunder von Hamburg“ ein Ziel: den Elbtower.
Die Stadt ist eine Bühne. Hinter erleuchteten Fenstern sieht man: Ein Mann telefoniert in der Küche. Ein Paar sitzt beim Abendessen. Jemand schaut fern. Es geht von Kampnagel aus Richtung Außenalster, zunächst entlang an rot geklinkerten Mietskasernen, dann Einzelhäusern, schließlich zwischen Villen hindurch, die immer eindrucksvoller, immer herrschaftlicher werden, je näher man dem Wasser kommt.
Und dann plötzlich, unerwartet: eine Baulücke. Eine Brache, ungenutzter Raum, in einer Gegend, in der die Quadratmeterpreise exorbitante Höhen erreicht haben.
Elbtower und Co.: Hamburger Theater bietet Rundfahrt zu René Benkos Ruinen an
Das Hamburger Regiekollektiv Ligna, bestehend aus Ole Frahm, Michael Hueners und Torsten Michaelsen, hat sich einen Namen erspielt mit immersiven Audiowalks, Stücken, bei denen das Publikum per Kopfhörer durch den urbanen Raum gelotst wird und dabei seine Wahrnehmung für die Brüche und Verwerfungen der Stadtgesellschaft schärft. Kopfhörer trägt man auch bei der jüngsten Ligna-Arbeit „Das Wunder von Hamburg“, das den Immobilienmarkt der Hansestadt in den Blick nimmt, allerdings läuft man die meiste Zeit nicht, sondern man fährt. Im Auflieger eines Lastwagens nämlich, dessen Seitenwand aus verspiegeltem Glas besteht und so den Blick auf die Bühne Großstadt ermöglicht.
Man kennt dieses Gefährt, das von Rudolf Bühne sicher auch durch engste Gassen navigiert wird: Die Theatergruppe Rimini Protokoll hat es vor 18 Jahren entwickelt, als „mobilen Zuschauerraum“, der schon bei den Kampnagel-Koproduktionen „Cargo Sofia-Hamburg“ (von Stefan Kaegi) und „Do’s und Don’ts“ (von Helgard Haug und Jörg Karrenbauer) durch die Stadt zuckelte. Die Rimini-Protokoll-Stücke wurden allerdings an verschiedenen Orten aufgeführt, Lignas „Das Wunder von Hamburg“ ist passgenau für Alster und Elbe entwickelt: Es geht um die Stadt als Investorenobjekt, und das ist so genau auf den Ort hin recherchiert, in Berlin oder in München würde es nicht funktionieren (auch wenn dort natürlich ebenfalls mit Grund und Immobilien spekuliert wird).
Theater Hamburg: Bühne fährt erst durch Villenvororte, dann durchs Schulterblatt
Also fährt eine Bühne erst durch die stillen Villenvororte und dann durchs Schulterblatt. Auf der Piazza wird die Rote Flora erst als Widerstandsmodell gegen die Aufwertung des Schanzenviertels beschrieben und dann als Teil dieser Aufwertung: Schon vor Jahren pries die Immobilienwirtschaft überteuerte Eigentumswohnungen im Umkreis mit „Blick auf die Rote Flora“ an. Am Spielbudenplatz geht der Blick auf die Brache der Esso-Häuser, am Gänsemarkt auf die Baulücke, die die abgerissene Gänsemarkt-Passage hinterlassen hat. Und nach und nach verfestigt sich der Eindruck, dass die Investorenstadt vor allem Unfertiges hinterlässt, Lücken, Zerstörtes.
Am Jungfernstieg wird der Bus kurz verlassen. Das Publikum geht durch die Europa-Passage, durch die Kopfhörerstimmen von Mareike Hein und Samuel Weiß zu minimalistischen Choreografien angeregt, zu Hüpfern und kurzen Drehungen, skeptisch beäugt vom Security-Personal. Und hinter der Passage: Tristesse, halb leere Kaufhäuser, die Übergänge notdürftig mit Sperrholz vernagelt. Auch hier bleiben Leerstand, Lücken, Halbfertiges.
„Das Wunder von Hamburg“: alternative Stadtrundfahrt mit Fokus auf Gentrifizierungsprozesse
Ein Name, der dabei immer wieder auftaucht: René Benko. Der österreichische Bauunternehmer ist in der Stadt präsent, wer einmal beginnt, darauf zu achten, stößt immer wieder auf das Logo seiner mittlerweile zahlungsunfähigen Firmengruppe Signa. Nach und nach wird „Das Wunder von Hamburg“ so zur Benko-Rundfahrt. Dort von: das Luxushotel, in dem Benko einst vom potenziellen Investor Klaus-Michael Kühne gedemütigt wurde. Ein paar Straßen weiter: die nächste Signa-Baulücke. Und im Kopfhörer: O-Töne Benkos, in denen dieser wie ein Sektenführer Durchhalteparolen schnarrt.
Das Ziel der Reise ist dann Benkos berüchtigtste Investitionsruine: die Baustelle des Elbtowers, eines mit 245 Metern geplanten Wolkenkratzers an den Elbbrücken, dessen Bau im April nach dem Signa-Konkurs abgebrochen wurde. Heute ragt hier ein halbfertiger Rohbau in die Nacht, düster und unübersehbar.
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Noch einmal wird der Lastwagen verlassen, es geht über sandigen Boden in Richtung Baustelle, dann bildet das Publikum den Grundriss des Hochhauses mit den eigenen Körpern nach, um schließlich im Rhythmus brasilianischen Elektropos zu zerstäuben. Die Stadt als Investorenobjekt löst sich auf, stattdessen gibt es Beats, Tanz, Ekstase – das ist das „Wunder von Hamburg“, wie es sich Ligna vorstellen, eine Utopie, in der sich die Menschen die Stadt zurückholen. Mag sein, dass da ein bisschen viel antikapitalistisches Widerstandspathos drin steckt, aber: Aus Theaterperspektive funktioniert dieser Schluss als Tanz vor Investitionsruine. Und all diejenigen, die mit Pathos weniger anfangen können, die können die aufwendig recherchierte Tour auch als alternative Stadtrundfahrt mit Fokus auf Gentrifizierungsprozesse genießen.
„Das Wunder von Hamburg“ bis zum 20.10. und vom 24. bis 27.10., Donnerstag bis Sonnabend 19.30 Uhr, Sonntags 15 Uhr und 18.30 Uhr, Start auf Kampnagel, Jarrestraße 20, Tickets unter T. 27094949, www.kampnagel.de
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