Hamburg. 1968 war das Jahr, in dem der Hamburger Siegfried Lenz zum Bestsellerautor wurde. Und heute? Ist Nolde verpönt, der Roman nicht.
Siegfried Lenz war Mitte der 1960er-Jahre ein bereits beim Publikum durchgesetzter Autor. Aber er war noch weit davon entfernt, zu den großen Autoritäten der deutschsprachigen Literatur zu zählen. Es war längst nicht klar, dass Lenz, der mit „So zärtlich war Suleyken“ (1955) und „Der Mann im Strom“ (1957) Leserinnen und Leser gefunden und auch mit Gustaf Gründgens’ Schauspielhaus-Inszenierung von seinem Stück „Zeit der Schuldlosen“ Erfolg hatte, mal der Doyen der Hamburger Literatur werden würde. Und viel wichtiger noch: zum Paradeschriftsteller der Deutschen.
Es war dann das eine Buch, der eine Roman – nach ihm war Siegfried Lenz, der 1926 in Lyck/Ostpreußen geborene, in Masuren (heute Polen) aufgewachsene und nach dem Krieg nach Hamburg gekommene Schriftsteller, ein gemachter Mann. Selbst denen, die über keine ausgedehnte Hausbibliothek verfügen, ist der große Name Lenz geläufig. Was auch daran liegen mag, dass Lenz bis heute Unterrichtsstoff ist: Und das meistens mit „Deutschstunde“, ebenjenem Roman, der Lenz zu dem Rang verhalf, den der 2014 gestorbene Autor über Jahrzehnte innehatte.
„Deutschstunde“ von Siegfried Lenz: Die Geschichte vom deutschen Verhängnis
Die Geschichte von Siggi Jepsen und seinem Polizistenvater Jens Ole Jepsen, vom von den Nazis aus der Kulturwelt verbannten Maler Max Ludwig Nansen und ganz allgemein von der Nachkriegszeit in Deutschland lag Lenz am Herzen. Aber die Romanentstehung verlief nicht bruchlos. Erste Ideen zu dem Roman hatte Lenz bereits im Jahr 1962. Bis 1965 existierten erste Entwürfe, die teilweise revidiert wurden, erst ab 1966 konzentrierte er sich ganz auf den Stoff, der so eindrucksvoll vom deutschen Verhängnis, von Schuld und Sühne erzählt.
Dass Lenz lange über dem Stoff brütete, lag nicht nur an weiteren beruflichen Plänen, die er verfolgte. Ein Theaterstück am Schauspielhaus („Das Gesicht“) band teilweise seine Kräfte. Dann war da der Umzug von der Alster an die Elbe. Mit seiner Frau Liselotte lebte Lenz zur Miete in der Oberstraße 72, was nicht weit weg war vom NDR (vormals NWDR), für den Lenz nicht nur das Hörspiel „Florian, der Karpfen“ schrieb. Dann kaufte das Ehepaar ein Haus in der Preußerstraße 4 in Othmarschen, wo Siegfried Lenz bis zu seinem Tod lebte.
Aber als er sich der „Deutschstunde“ dann voll widmete, als er zu verschiedenen Gelegenheiten über das Romanprojekt sprach und aus dem entstehenden Text las, war das Interesse der Fachöffentlichkeit gleich groß. Das, was man „die deutsche Vergangenheitsbewältigung“ nennt, war in den 1960er-Jahren in vollem Gange. Die Studentenbewegung, die nach Schuld und Verantwortung der Eltern fragte und diese Eltern anklagte, formierte sich in Berlin, München, Frankfurt und Hamburg. In Frankfurt fanden die Auschwitz-Prozesse statt.
Siegfried Lenz: Seine „Deutschstunde“ stellt die Frage nach Schuld
In dieses so entschieden moralische Setting passte der Roman perfekt. „Deutschstunde“ stellte auf überdeutliche Weise die Frage nach Schuld – und nach der Möglichkeit, gerade in dunklen Zeiten doch das Richtige zu tun. Vater Jepsen, der Polizist, kennt keine Gnade mit seinem Rugbüller Jugendfreund, dem von den Nazis mit Berufsverbot belegten Maler Max Nansen. Er überwacht mit geradezu besessenem Eifer dessen Tun. Sohn Siggi Jepsen will dagegen das Werk des Malers retten, will den Maler selbst retten: Er versteckt Nansens Bilder in einer alten Mühle. Siggi und der alte Jepsen arbeiten gegeneinander, auch nach dem Krieg.
Da ist der Polizist Jepsen wieder im Dienst, nachdem er seine Strafe in der Internierung durch die Alliierten abgesessen hat. Nansens Kunst möchte er immer noch vernichten. Aber er sieht es auch als seine Pflicht an, seinen Sohn zu verpfeifen, als der ein Gemälde Nansens aus einer Ausstellung entwendet. Siggi will Nansens Werk immer noch vor seinem Vater retten, der Bruch der Generationen ist tief, es gibt keine Verständigung.
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Und so gibt Siggi, der in einer Besserungsanstalt auf einer Elbinsel einsitzt, leere Blätter ab, als er einen Aufsatz zum Thema „Die Freuden der Pflicht“ schreiben soll. Die Rahmenhandlung des Romans, in der ein Jugendlicher den von ihm beschrittenen Weg revidieren soll und sich anlässlich dieser Aufgabe an die Geschehnisse in der Hitlerzeit zurückerinnert, gibt diesem Werk seine enorme Wucht.
Und wurde doch gelegentlich auch gegen diesen mit Moral gewissermaßen überfrachteten Stoff in Stellung gebracht. Blickt man aus der Perspektive des Pädagogen auf „Deutschstunde“, könnte man in der Tat sagen, dass hier eine Geschichte erzählt wird, die geradezu idealtypisch zum Unterrichtsstoff taugt. Auf allen Deutungsebenen. Was sagt es über ungute Traditionslinien aus, wenn Ende der 1950er-Jahre, da ist die Erzählgegenwart angesiedelt, immer noch der Pflichtgedanke hochgehalten wird?
Emil Nolde: Seine Gemälde im Kanzleramt wurden abgehängt
Und sei es, um das Gewissen der Tätergeneration zu entlasten. Ganz Strenge hatten übrigens auch schon im Hinblick auf den Nazi-Direktiven ausführenden Mann der Staatsgewalt Jens Ole Jepsen angemerkt, dass die Entscheidungsspielräume, wie sie hier dargestellt werden, auch in der schleswig-holsteinischen Provinz wenig realistisch gewesen wären. So oder so erscheint der junge Siggi auch heute noch als Wunschvorstellung: So wie er hätten wir uns alle gerne verhalten.
Wobei die Pointe, dass Emil Nolde, das Vorbild für die Figur des Malers Nansen, trotz seiner Mitgliedschaft im Club der „entarteten“ Künstlerinnen und Künstler ein überzeugter Antisemit und Nazi war, erst in diesem Jahrhundert richtig in der Bevölkerung ankam. Im Kanzleramt hängte man seine Gemälde vor ein paar Jahren dann mal lieber ab.
Zurück in die vor lauter Vergangenheit und Vorsorge fürs künftige Bessermachen überkochenden 1960er-Jahre. Dort traf „Deutschstunde“ einen Nerv. Bereits vor der Veröffentlichung zum Beispiel bei Suhrkamp-Chef Siegfried Unseld, der versuchte, den Autor Lenz bei Hoffmann und Campe abzuwerben. Die links beheimateten erfolgreichsten deutschsprachigen Autoren Günter Grass, Martin Walser und Uwe Johnson kannte und schätzte Lenz, aber am lauten Diskurs der politisch ausgeheizten Zeit wollte er nicht teilnehmen. Und so blieb er auch verlagstechnisch in Hamburg, ging nicht zum Frankfurter Renommierverlag Suhrkamp, der der wichtigste Belieferer Debattendeutschlands war.
„Deutschstunde“ erschien im Herbst 1968
Nach der Veröffentlichung dann sprachen die Leserinnen und Leser auf „Deutschstunde“ an – in einem Maße, wie es Lenz bis dahin nicht kannte. Der Roman erschien im Herbst 1968. Schnell verkaufte sich eine Viertelmillion Exemplare, von Dezember an stand er auf Platz eins der „Spiegel“-Bestsellerliste. Auch 1969 war er der mit Abstand am besten verkaufte Roman und gilt bis heute als einer der erfolgreichsten Romane in Deutschland überhaupt. Vor allem aber war „Deutschstunde“ ein Buch, das den Zeitgeist repräsentierte und kanalisierte.
Im Literaturbetrieb schlug der Roman des namhaften Autors schon vor Erscheinen Wellen. Was nicht heißt, dass bei aller durchgeplanten PR, die Hoffmann und Campe unternahm (im Kommentar zur „Deutschstunde“ in der von Heinrich Detering und Günter Berg herausgegebenen Siegfried-Lenz-Gesamtausgabe ist sie wie alles andere akkurat beschrieben), alles nach Wunsch verlief. Die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ etwa mochte sich nicht zu einem Vorabdruck durchringen. Der Roman sei „als zu norddeutsch“ empfunden worden, berichtete Verlagsleiter Albrecht Knaus nach seinem Vorfühlen bei der Zeitung in Hamburg.
Marcel Reich-Ranicki führte ein Interview mit Siegfried Lenz
Der spätere Feuilleton-Chef der „FAZ“, Marcel Reich-Ranicki, besprach „Deutschstunde“ nicht. Er kannte und schätzte Lenz, seit der ihn nach Reich-Ranickis Übersiedelung nach Deutschland für den NDR interviewt hatte. Mit Lenz’ Romanen konnte der Kritiker nie so furchtbar viel anfangen. Gänzlich schweigen konnte und mochte Reich-Ranicki aber nicht; es ging um das Buch der Stunde. Also interviewte Reich-Ranicki unter der Überschrift „Vom Erfolg überrascht“ Siegfried Lenz. Reich-Ranickis Frage, ob Lenz sich den außerordentlichen Leserzuspruch vor allem mit den literarisch schwächeren Passagen erkläre, zielte auf Reich-Ranickis Annahme, dass es Schriftsteller gebe, „die eher um ihrer Makel und Schwächen als um ihrer Vorzüge willen von dem breiten Publikum geliebt wurden“.
Das waren bemerkenswerte, vielleicht unverschämte und beinah amüsante Sätze, die man heute in einem Schriftsteller-Interview wohl kaum noch findet. Es konnte allein ein für seine allgemeine Freundlichkeit bekannter Zeitgenosse wie Lenz sein, der sich in diesem Gespräch achtbar und seriös, jedenfalls nachsichtig aus der Affäre zog.
Mancherorts haftete „Deutschstunde“ der Makel der Lesbarkeit an
Später pflegte Siegfried Lenz sinngemäß zu sagen, dass mehr als die Hälfte der professionellen Reaktionen auf „Deutschstunde“ negativ gewesen seien. Was etwas übertrieben war, aber zu Recht verdeutlichte: Wie jeder Roman wurde damals noch mehr als heute jede literarische Veröffentlichung, die auch auf Unterhaltung setzte, mehr oder weniger mit Skepsis betrachtet. Der „Makel der Lesbarkeit“ haftete dem Werk Lenz’ in manchen Kreisen hartnäckig an. Was ja immer schon irgendwie Irrsinn war.
Blieb die Frage, ob dieser Roman, der zeitweilig als erfolgreichster der deutschen Nachkriegsgeschichte galt, durch die Nolde-Dämmerung der vergangenen Jahre an Kraft und Geltung verloren haben könnte.
Warum sollte er? Die Romanfigur Nansen ist eben das: eine Romanfigur. Man kann sie sowieso ohne den Nolde-Kontext lesen. Zukünftige Leserinnen und Leser werden mit Nolde anders als die früheren eben nun einfach nicht mehr sympathisieren; Nolde ist mit Nansen nicht mehr gemeint, seit jeder weiß, wie Nolde zu den Nazis stand.
Siegfried Lenz: Mit „Der Überläufer“ stand er 2016 postum auf Platz eins
International war „Deutschstunde“ ein Erfolg. Verfilmt wurde der Roman zweimal, 1971 und 2019. Er ist der mit Abstand meistgelesene Roman im Werk von Siegfried Lenz, der bis in die 1970er-Jahre ein Bestsellergarant („Das Vorbild“, „Heimatmuseum“) blieb, aber auch nach seiner extremen Prominenzphase weiter viele Fans hatte. Postum wurde sein zweiter Roman „Der Überläufer“ erstmals 2016 publiziert. Das war eine sensationelle Geschichte damals, diese Veröffentlichung aus dem Nachlass, mit der Lenz noch einmal ein Nummer-eins-Hit gelang.
Aber es wird auch künftig die „Deutschstunde“ sein, die der große Hamburger, die der deutsche Schriftsteller Siegfried Lenz seinen Landsleuten einst schenkte, es wird dieses eminente Geschichtsbuch sein, das zeigen wird, wer dieser Mann war und was er wollte.