Hamburg. Das Werk des Hamburger Autors lädt weiterhin zu Entdeckungen ein. Ein Interview mit Stiftungschef Günter Berg.
Gerade hat die Jury Ljudmila Ulitzkaja als die neue Preisträgerin des mit 50.000 Euro dotierten Siegfried Lenz Preises bekanntgegeben. Außerdem ist der letzte Lenz-Roman noch einmal neu veröffentlicht worden. Das geschieht Buch für Buch mit all seinen Werken, die in der „Hamburger Ausgabe“ frisch und kommentiert wieder aufgelegt werden. Siegfried Lenz ist also dieser Tage aktuell wie eh und je. Aber wird er das für immer bleiben? Ein Gespräch mit Günter Berg, dem Chef der Siegfried Lenz Stiftung.
Hamburger Abendblatt: Lenz als Klassiker: Was stimmt Sie optimistisch, dass er auch in 50 Jahren noch gelesen wird?
Günter Berg: Verhältnisse im Ganzen ändern sich, die Lebensbedingungen der Menschen ändern sich auch. Was aber immer gleich bleibt, sind die Herausforderungen für den Einzelnen: Wie verhalte ich mich in einer schwierigen Situation? Was mache ich, wenn das Leben oder das Schicksal, nennen Sie es wie Sie mögen, wieder einmal zuschlagen? Das sind die Themen der Bücher von Lenz. Er bietet in seinen Texten keine wohlfeilen Lösungen, sondern er zeigt Verständnis für extreme Lebenssituationen und kommt damit den Menschen sehr nah. Das stellt ihn in eine Reihe mit den ganz großen Autoren.
Was muss man tun, um einen Autor im Gespräch zu halten?
Berg: Im Gespräch bleibt ein Autor nur dann, wenn sein Werk über die Jahre attraktiv bleibt, wenn er „Angebote“ an seine Leser macht. Natürlich gehört auch die „Werkpflege“ dazu: neue Ausgaben seiner Bücher, Verfilmungen und Theaterinszenierungen seiner Texte, auch eine akademische Beachtung des Werks, Jubiläen, Preisverleihungen. All das ist aber eher Handwerk. Wenn der Autor selbst nicht gemeindestiftend ist, dann bleiben alle Mühen fruchtlos.
Fällt Ihnen ein Autor vom Kaliber Lenz ein, der ungerechtfertigterweise und leider nicht mehr gelesen wird?
Berg: Mir fallen sofort eine ganze Reihe von Autoren ein, die ich mag, deren Bücher mich begleitet haben und denen ich viel Resonanz wünsche. Martin Walser, einer der letzten dieser ungemein produktiven Nachkriegsautoren, die noch leben, arbeitet ohne Rast und Ruhe. Er hat noch sein Publikum. Peter Weiss ist leider fast vergessen, für Uwe Johnson tut sein Verlag einiges, er wird bleiben. Mit Hanns Henny Jahn tun sich die Leser eher schwer, und Hans-Erich Nossack ist kaum vor dem Vergessen zu bewahren.
Günter Grass ist fünf Jahre tot. Ich habe den Eindruck, über Grass und sein Werk reden wir derzeit nicht. Der Günter-Grass-Preis hat auch wenig Strahlkraft. Täusche ich mich da?
Berg: Günter Grass, mit Lenz gut befreundet, war unbequem für viele. Der Nobelpreisträger wurde zeitlebens eher geschätzt als geliebt. Die Bedeutung eines großen Autors nach seinem Tod spaltet sich sehr rasch: Was bedeutet er für die „Literaturgeschichte“ und was bedeutet er für ein zeitgenössisches und ein zukünftiges Publikum? Was wird also bleiben von ihm? Günter Grass‘ Werk wird an einigen Orten ganz unterschiedlich gepflegt. Vielleicht sogar an zu vielen, so dass die Initiativen nicht genügend sichtbar werden.
In der neuen „Hamburger Ausgabe“ seiner gesammelten Werke ist gerade eben Siegfried Lenz’ „Fundbüro“ von 2003 erschienen, der letzte Roman, den er schrieb. Warum lohnt es sich, ihn noch einmal zu lesen oder neu zu entdecken?
Berg: Das Buch erschien 2003 und ist dabei ja lange nicht das letzte Buch, das Siegfried Lenz veröffentlicht hat. Denken wir nur an die „Schweigeminute“, die fünf Jahre später erschienen ist und einmal mehr die ganz Könnerschaft dieses Autors zeigte. Aber, ja, „Fundbüro“ ist ein richtiger Hamburg-Roman und gewiss ein versiertes Alterswerk. Lenz war bald 80, als er den Roman abschließen konnte. Das Buch war sofort ein großer Erfolg.
Auf wie viele Bände und Jahre ist diese erste große Lenz-Edition angelegt? Wie sieht die Zusammenarbeit der Beteiligten bei solch einem Großprojekt aus?
Berg: Der Plan einer großen kommentierten „Hamburger Ausgabe“ der Werke von Siegfried Lenz in mindestens 25 Bänden reicht über zehn Jahre zurück: ich hatte erstmals die erste Zusammenstellung sämtlicher Erzählungen bei Hoffmann und Campe herausgebracht und während dieser Arbeit erkannt, wie viel Unbekanntes oder an entlegenen Orten Publiziertes es gibt. Und auch, dass wir über die Entstehung der großen Romane nicht viel wissen. Darüber kam ich ins Gespräch mit dem Autor selbst und mit Heinrich Detering, Germanist und Spezialist für Editionsphilologie an der Uni Göttingen. So entstand der Plan dieser Werkausgabe. Mit Detering und seinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern am Germanistischen Institut und dem Deutschen Literaturarchiv in Marbach haben wir bis zu diesem Sommer bereits 9 Bände ediert. Hoffmann und Campe hat daraus eine wunderschöne Ausgabe gemacht, die einen zum Wieder-Lesen der Romane geradezu verführt.
Wer sind die Käufer dieser bibliophilen Ausgaben? Vor allem Bibliotheken, oder auch Sammler?
Berg: Natürlich gibt es zahlreiche Bibliotheken, die diese erste kommentierte Gesamtausgabe von Lenz anschaffen. Aber das sind im Verhältnis zur Auflage eher wenige. Ich habe Grund zur Annahme, dass es vor allem Leser und Leserinnen sind. Wir bekommen häufig Nachfragen oder auch ganz persönliche „Leseeindrücke“ von Menschen auf der ganzen Welt. Sie berichten von ihren ganz frühen Lektüreerlebnissen mit den Büchern von Siegfried Lenz und was sie jetzt beim Wiederlesen der Texte in der neuen Ausgabe empfinden, woran sie sich erinnern. Ganz ohne Zweifel: Eine so schöne Werkausgabe reizt nicht nur die Sammler von wertvollen und schönen Büchern zum Kaufen, sondern auch zum Lesen.
Zuletzt war im Fernsehen die zweiteilige Verfilmung von „Der Überläufer“ zu sehen. Wie fanden Sie die?
Berg: Die Produktion des NDR war sehr gelungen und erfolgreich. Dabei bedeutet die Umsetzung einer literarischen Vorlage ja immer eine Herausforderung. Ein Film verkürzt einen umfangreichen Roman, entscheidet sich für eindeutige „Bilder“, wo der Leser manchmal ganz verschiedene Eindrücke einer Person, einer Episode gewinnen kann. Bislang waren alle Verfilmungen der Erzählungen und Romane von Lenz so gelungen wie erfolgreich. Die Filmemacher müssen ja nun ohne Jan Fedder auskommen, der in einigen Verfilmungen gespielt hat.
Sind neue Verfilmungen geplant? Ist der NDR wieder im Boot?
Berg: Die Produktionsfirma des „Überläufers“ plant tatsächlich weitere Verfilmungen. Vermutlich geht es los mit „Der sechste Geburtstag“, einer kurzen Erzählung, die es in sich hat. Auch über „So zärtlich war Suleyken“ denken wir gemeinsam nach und, bereits in Hinblick auf den 100. Geburtstag des Autors 2026, an eine große Verfilmung seines wichtigsten Romans „Heimatmuseum“. Natürlich wäre es schön, wenn der NDR sein Interesse in diesen Verfilmungsprojekten zeigen würde. Lenz hat mit dem Sender ja sein ganzes Leben gearbeitet.
Sie schreiben derzeit an einem neuen Kommentar zum „Überläufer“. Was gibt es da noch zu sagen?
Berg: Zum „Überläufer“ gibt es noch eine Menge zu sagen. Wir wissen, dass der Verlag den Roman 1951/52 abgelehnt hat. Die Gründe waren vielfältig: Das Thema – Wehrmachtssoldaten laufen am Ende eines verlorenen Krieges über zum „Feind“ – war für die Verlagslektoren schlicht nicht vorstellbar. Man hat es dem sehr jungen Autor nicht zugetraut, einen derart politischen Roman zu schreiben. Der gesamte zweite Teil übt keine geringe Kritik an den Verhältnissen in der noch sehr jungen DDR. Also drängte der Verlag zunächst auf eine Überarbeitung, die der Autor versuchte, die aber nicht so weit ging wie gewünscht. So kam es schließlich zur Ablehnung des Manuskripts und zur Entscheidung des Autors, seinen Text zurückzuziehen. Diese sehr eigene Entstehungsgeschichte eines Romans, der dann für Jahrzehnte in der Schublade verschwand, muss ja irgendwann einmal im Detail aufgeschrieben werden. Das wird der Kommentar zum „Überläufer“ in der neuen Werkausgabe leisten.
Mit welchen Titeln kann man Ihrer Meinung nach am besten Leserinnen und Leser für Lenz anfixen?
Berg: Für alle jüngeren Leserinnen und Leser ist vermutlich ein Buch besonders geeignet: „Schweigeminute“. Es ist eine großartige Liebesgeschichte, es ist eine Geschichte des Erwachsenwerdens und des damit verbundenen Lernens – und Scheiterns. Die „Deutschstunde“ kann man gar nicht oft genug lesen und die „Erzählungen“ in einem Band sollten ohnehin griffbereit neben der Couch oder am Bett liegen. Danach bestellt man bei seiner Buchhandlung die neue Hamburger Gesamtausgabe der Werke. Es kommen zwei, drei Bände pro Jahr. Die schafft jeder.
Der Siegfried Lenz Preis wird jetzt zum vierten Mal vergeben. Welchen Stellenwert hat er in der an Preisen nicht armen deutschsprachigen Literaturlandschaft?
Berg: Der Siegfried Lenz Preis ist, wie man so sagt, sehr rasch angekommen. Als einer der wichtigsten und bestdotierten internationalen Literaturpreise genießt er einen hohen Stellenwert im Kulturleben Deutschlands – über Hamburg hinaus. Das hat auch damit zu tun, dass Olaf Scholz seinerzeit ohne Zögern die Hand über den Preis gehalten hat und dieses freundliche Interesse vom Ersten Bürgermeister und dem Kultursenator bis heute geteilt wird. Die Jury hat den nächsten Preis erstmals an eine Autorin vergeben hat, an die die russische Erzählerin Ljudmila Ulitzkaja.
Ist Siegfried Lenz in seiner Stadt Hamburg präsent genug?
Berg: Die Siegfried Lenz Stiftung und die Familie des Autors tun eine ganz Menge, um ihn präsent zu halten. Zu den Veranstaltungen, die wir gemeinsam mit Hoffmann und Campe, mit der Toepfer Stiftung, den Museen oder den Theatern der Stadt jedes Jahr auf die Beine stellen, zeigt uns immer wieder, wie groß das Interesse der Menschen an Lenz ist. Er gehört ganz eng zu Hamburg. Dass ein Ehrenbürger, zumal dann, wenn er einer der wichtigsten Botschafter der Hansestadt für Kultur und Literatur ist, gerne noch stärker wahrgenommen werden könnte, versteht sich von selbst. Jedenfalls wenn Sie mich fragen.
Was halten Sie von der Idee eines Siegfried-Lenz-Hauses für Stipendiaten?
Berg: Eine tolle Idee! Allein, wie bei vielen guten Ideen kommt es darauf an, sie mit Leben zu erfüllen – und das nicht nur in einer Planungsphase! Vorbilder gibt es zahlreiche auf der ganzen Welt. Hamburg könnte eine solche Begegnungs- und Austauschstätte für Autoren ohne Zweifel gut brauchen; ob sie nach Siegfried Lenz benannt werden sollte, wäre dabei nicht die erste und wichtigste Entscheidung.
Wie könnte Hamburg insgesamt noch mehr seinen berühmten Bürger in den Mittelpunkt rücken und sein Andenken pflegen? Kann ein Schriftsteller eigentlich ein Faktor im Stadtmarketing sein?
Berg: Siegfried Lenz gibt es allemal her, auch „offiziell“ immer wieder ganz nach vorn gestellt zu werden, das sollte in Hamburg nicht vergessen werden. Bis zum 100. Geburtstag ist ja noch ein bisschen Zeit dafür, Siegfried Lenz in Hamburg in eine Reihe zu stellen etwa mit Mozart in Salzburg, Goethe in Weimar oder Wagner in Bayreuth. Auch diese Orte schmücken sich ja gerne mit einem herausragenden Künstler und profitieren davon… Die Lenz Stiftung jedenfalls domiziliert am Mittelweg; wir helfen und machen gerne mit.