Hamburg. Stehende Ovationen schon vor dem ersten gesungenen Ton: Plácido Domingo wurde bei seinem Event-Konzert in der Elbphilharmonie gefeiert.
Lebensleistung, lebende Legende. Publikumsliebling, Aura, Charisma satt. Tenor der Herzen bis in dieses Jahrtausend hinein, jetzt als rüstig wirkender Mittachtziger im Frack, mit toll sitzenden Silberlocken, tatsächlich noch so singend auf der Bühne … die Liste der Gründe, nach 2019 und 2022 zum womöglich wirklich letzten Abschiedskonzert von the one and only Plácido Domingo in die Elbphilharmonie zu kommen und sich dafür von bis zu 475 Euro pro Platz zu verabschieden, die ist (wenn man es so sehen möchte) lang. Von nur zu verständlicher Nostalgie umweht, vom sanft ins Gemüt stupsenden Gefühl, ach, den gibt es ja immer noch, wie schön, weißt du noch, damals … Nur Musik kann so etwas mit Herz und Verstand machen.
Blättert man sich also innerlich durch die gefühlten Eindrücke dieses Abends, mit denen garantiert viele nach Hause gegangen sind, vom Anblick des wackeren Strebens, bei seinen sehr vielen Auf- und Abgängen noch elastisch wirken zu wollen, bis zu Domingos Blicken ins Rund, die gerührtes Ihr-liebt-mich-tatsächlich-immer-noch-Staunen darstellen, als hätte er damit nicht gerechnet – dann ist dieser Abend garantiert einer für die Poesiealben der unvergesslichen Konzerte. Was seine Berechtigung hat. Denn einen Sänger, wie er es einmal war, wird es so nicht mehr geben. Die ersten stehenden Ovationen erhielt Domingo schon, bevor der erste Ton von ihm gesungen war. Einzig für das Wiederkommen.
Plácido Domingo in der Elbphilharmonie: Für die Poesiealben der unvergesslichen Konzerte
Andererseits, alle wissen es ja, und er weiß es wahrscheinlich am besten: Die Wunder-Tenor-Jahre sind seit sehr vielen Jahren vorbei, er hat es sich eine Etage tiefer im Bariton-Fach geruhsamer eingerichtet. Der Glanz der Stimme und ihre Leichtigkeit haben – alles überhaupt kein Wunder in seinem Alter, erst recht kein Vorwurf – nur noch ihren Erinnerungswert, konserviert auf Platten, verklärt in Erinnerungen. Diesen Wert aber kann niemand niemandem nehmen. Und dann sind da noch die vielen Geschichten und Debatten um seinen eindeutig zweideutigen Umgang mit Sängerinnen, die sein Hochglanz-Bild weiter eintrüben. Die Herzschmerz-Gesten, mit denen Domingo sein Singen begleitet, haben noch nie das Wort Regietheater gehört; das noch schaffbare Opern-Repertoire hat sich auf die eine oder andere halbdramatische Bariton-Arie aus dem Verdi-Sortiment verengt.
Eine Episode aus „Macbeth“, ein Duett aus „Il trovatore“, zum Warmwerden war es ein Stückchen aus Giordanos „Andrea Chénier“. Das alles geht noch, so gerade eben, manchmal, bei nicht allzu hohen Höhen, legt man dort eine konventionelle Qualitätsmesslatte an. Mehr geht nicht mehr. Mehr erwarten seine Fans aber auch gar nicht. Er genügt ihnen, genauso, wie er jetzt ist, zum über alle Zweifel erhabenen Klassiker der Klassik gereift. Domingo hätte sicher längst aufhören können, will aber nicht. Noch nicht. Immer noch nicht. Künstler können jahrzehntelang so sein, erst recht nach Karrieren, wie er sie hatte.
Den Rest solcher Gala-Abende mit dazugebuchter Begleitsopranistin mit zwei Abendkleidern und genügend Walzer-Talent für das „Lippen schweigen“ aus der „Lustigen Witwe“ wird dann eben mit sehr spanischem Liedmittelgut und harmlosen Ouvertüren mit Wiedererkennungswert bestritten. Alle paar Jahre wieder ist es bei Domingo so, weil es bei Domingo nun mal so ist. Hier nun war es Saoia Hernández, die eine Verstärkung nicht gebraucht hätte – aber trotzdem bekommen hatte. Diese Kombination wird mit einem Mischer am Mischpult aufgerüstet, der vor allem Domingos Anteile erbarmungslos auf Überlautstärke aufdreht, damit sie zur für alle sichtbaren Illusionsmaschinerie solcher Abende beiträgt.
„Danke, Hamburg!“: Plácido Domingo verabschiedet sich von seinen Fans
Weil sie die Fan-Kurven im Saal trotz dieser Durchhörbarkeit glauben machen soll, dass dieser Sänger mühelos über jedes Orchester hinwegdomingot, als wäre er eben erst in einen Topf mit Sänger-Zaubertrank gefallen. Man ahnt genau deswegen auch noch, wie es für ihn gewesen sein muss, als es diese Stützräder durch die Tontechnik noch nicht brauchte, um ein randvolles Opernhaus oder auch nur ein Studio-Mikro zu verzaubern, mit nichts als seinen eigenen Tönen. Vielleicht hört er sich selbst heute noch so, wenn er singt, was er inzwischen singt.
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„Danke, Hamburg!“ war dieses Konzert-Event verkaufsfördernwollend übertitelt worden, als lokaler Rückverweis auf den glorreichen Anfang seiner Karriere, hier an der Staatsoper, in der glorreichen Ära von Rolf Liebermann. Ewig her, eine andere Welt. Es muss großartig gewesen sein, damals. Für den Domingo von heute hier und an diesem Abend in Hamburg interessanterweise kein Grund, darüber auch nur ein einziges Wort des Rückblicks zu verlieren. Stattdessen liefert er, was man ihm in seine Mappe auf das Notenpult gelegt hat, insbesondere nach der Pause, wo ein Zarzuela-Schlager klingt wie der nächste, ob mit oder ohne Kastagnetten.
Plácido Domingo in der Elbphilharmonie: Vier Zugaben, immer weitere Ovationen, aber kein „Granada“
Für den mal mehr, mal weniger ungefähren Zusammenhalt mit der Hamburger Camerata sorgt dabei stets Domingos persönlicher Kapellmeister Eugene Kohn. Kohns starke Neigung zur beidhändig fröhlichen Daumen-hoch-Geste nach fast jedem Schlussakkord erinnerte unschön an einen aktuellen US-Präsidentschaftskandidaten, aber auch dieser Teil der gut eingefahrenen Domingo-Show wird sich wohl nicht mehr ändern.
Diese Show endete fast, wie sie enden musste: vier Zugaben, immer weitere Ovationen, ein herzförmiges Kuschelkissen für den Star des Abends. Aber nicht, wie beim letzten Mal, auch noch eine Discofox-Version von „Bésame mucho“, und auch kein allerletztes „Granada“-Schmettern, da konnte Kohn noch so deutlich auf die Notenmappe verweisen. Ein Plácido Domingo entscheidet immer noch selber, wann und wie genug ist.