Hamburg. Obwohl die Karten bis zu 800 Euro kosteten, war der Große Saal der Elbphilharmonie fast ausverkauft. War das Konzert den Preis wert?

Worum es bei diesem Auftritt (oder eher: bei dieser „Erscheinung“?) in der Elbphilharmonie ging, stand groß auf dem Deckblatt des vierseitigen, textlosen Programmhefts: „Believe“, das Motto der Welttournee. Glauben. Also: nicht wissen. Nichts begründen müssen, einzig und allein: etwas fühlen. Erst recht nach zwei Jahren Pandemie ein berechtigter, nachvollziehbarer Wunsch.

Glauben wollen, glauben können, glauben sollen, dass der italienische Sänger Andrea Bocelli ein großer, Menschen verändernder Sänger ist. Mehr noch: ein bedeutender, weltbekannter Star-„Tenor“, wie er in Bilderbüchern stehen könnte, die Star-„Tenöre“ in Opern-Kulissen ehrfürchtig verherrlichen, als Sängerseelen mit der Lizenz zum Herzenbrechen, von ganz weit oben auf Lebenszeit erteilt. Die sind „Tenöre“, die dürfen alles.

Was sie singen? Fast egal. Es soll ja unbedingt um den Glauben gehen, dass Musik – und erst recht gesungen, als wäre es große italienische Oper – eine Himmelsmacht ist. Und wie heißt es so schön im ähnlich weltbekannten Poesie-Album „Der kleine Prinz“: „Man sieht nur mit dem Herzen gut. Das Wesentliche ist für die Augen unsichtbar.“

Elbphilharmonie: Andrea Bocelli – ein teures Vergnügen

Ein Viertel des Programmhefts war, gut sichtbar, mit den Namen von Bocellis Management-Personal gefüllt und der Auskunft, wer ihn einkleiden darf. Bis auf wenige Plätze war der Große Saal der Elbphilharmonie ausverkauft. Die günstige Kategorie: 249 Euro, die teuerste: 797 Euro.

Dafür bekäme man, um nur zwei Beispiele zu nennen, vier Exemplare der Best-of-Box der wirklich einmaligen Sopranistin Maria Callas mit 69 CDs, oder dreieinhalbmal die Opern-Packung des wirklich einmaligen Tenors Luciano Pavarotti, 95 CDs. Man könnte sich auch ein prima Staatsopern-Abo gönnen, einige Plätze im Bayreuther Festspielhaus oder Flieger, Karte und Hotel für einen Abend bei den Salzburger Festspielen.

Es gäbe etliche Möglichkeiten, tagelang intensiv in die Kunstform klassische Musik einzutauchen, an Orten und mit Interpreten, die darauf spezialisiert sind, ihr Publikum zu beglücken, zu verwirren und zu bereichern. Netto kam Bocelli vor den begeistert erklatschten Zugaben auf eine Gesangszeit von gut einer Stunde.

Ein Traum-Paar: Andrea Bocelli und die Sopranistin Maria Almeida auf der Bühne des Großen Saals der Elbphilharmonie.
Ein Traum-Paar: Andrea Bocelli und die Sopranistin Maria Almeida auf der Bühne des Großen Saals der Elbphilharmonie. © Fabian Hochscheid

Freies Land, niemand muss solche Bocelli-Karten kaufen. Sehr viele wollten, liebend gern und schon vor langer Zeit, das Konzert war pandemiebedingt verschoben worden. Und nicht wenige wirkten, also ob ihnen diese Investition in einen Abend voller Gefühle mit und wegen Andrea Bocelli nicht mal eben aus dem überprallen Portemonnaie gefallen ist. Das gute Abendkleid, der schicke Anzug, die frisch gemachte Frisur. Endlich! Aufregung, Vorfreude, Erinnerungsfotos, unbekannte Paare, die sich beim Festhalten dieser Glücks-Momente halfen. Eine Glaubens-Gemeinschaft, sehr bei sich.

Gestrecktes Programm in der Elbphilharmonie

Die obligatorische Begleit-Sopranistin für solche Events ist immer austauschbar, auf der Website der Elbphilharmonie kam man bei den mehrmals gewechselten Namen ins Straucheln. Am Ende sang Maria Aleida, netter Sopran, goldfunkelndes Abendkleid. Sie durfte in den Tenor-Pausen ein wenig allein singen, „O mio babbino caro“ und Ähnliches, ansonsten anschmachten, mitwirken und kurz Walzer tänzeln.

Dazu gebucht war auch die Hamburger Camerata, dirigiert von Carlo Bernini, früher Bocellis Lehrer, inzwischen dessen Privat-Maestro. Sie streckten das Programm unter anderem mit der „Carmen“-Ouvertüre, mit Rotas „Passerella“ aus Fellinis „Achteinhalb“ oder Bizets „Farandole“, einem Schulorchester-Klassiker. Für den Hauptdarsteller war die Bühnenmitte freigeräumt, im Scheinwerferlicht, umringt von Mikros wurde gesungen.

Man könnte es sich so einfach machen mit dem schnellen Sarkasmus über solche Shows, die Oper als tiefergelegtes, erst auf diese Weise nahbares Herzensbildungsgut simulieren sollen. Amüsieren über Bocellis überdeutliches Vibrato mit Ausschlägen, durch die ein halber später Pavarotti mühelos passen würde. Verstört wundern darüber, wie angestrengt, unfrei und gepresst er sich durch die Arien- und Duett-Hits arbeitete, die auf Wirkung hin ausgesucht waren. Wie offensichtlich es war, dass es am Ende immer noch den einen hohen, langen Ton benötigte, als Szenenapplaus-Auslöser, weil ein Tenor mit Höhenschwäche höchstens ein halber Tenor ist.

Es war laut, also war es schwer, also war es schön

So gab es von ihm sogar die gefürchtete „Pour mona me“-Arie aus Donizettis „La fille du Regiment“ zu hören, die mit den sehr vielen hohen Cs, die allerdings alle ganz selbstverständlich klingen und superheldentenoral aus eigener Kraft, unplugged also, strahlen sollen. Was hier nicht der Fall war, weil sie durch die Verstärkung in alle Richtungen verstärkt wurden. Was niemanden störte, auch nicht in einem Konzertsaal, dessen Akustik dafür weltbekannt bis berüchtigt ist, dass man dort wirklich keine Mikros braucht, um wirklich jeden und alles zu hören. Es war laut, also war es schwer, also war es schön.

Über all diese Taschenspielertricks könnte man sich aufregen und lustig machen, weil es leicht cheesy und so gewollt statt gekonnt war. Aber dann, bei der italienischen Version vom guten alten „Lippen schweigen“ aus Lehárs guter alter Operette „Die lustige Witwe“ war aus den benachbarten Sitzreihen sofort seliges Mitsummen zu vernehmen.

Kaum waren im zweiten Teil die ersten Töne von „O sole mio“ losgelassen, schmiegten sich schon die Köpfe des Paares eine Reihe weiter vorn aneinander und miteinander älter gewordene Hände hielten sich aneinander fest. Er sang wohl gerade ihr Lied. Direkt danach auch noch das schmissige Trinklied aus „La Traviata“, na, da war aber was los. Und bei der zweiten der drei Zugaben, nach der Orchester-Version von Strauss’ „Zueignung“, war gar kein Halten mehr: „Nessun dorma“, was sonst. Menschen, Smartphone-Fotos, Ovationen, das Happy End eines Konzerts, das rund 2000 Menschen zwei Stunden lang glücklich gemacht hat. Was am Ende doch auch beweist: Klassik wirkt. Selbst so.